Rachesentiments der Zwangsversetzten

"Hier spricht Berlin - Geschichten aus einer barbarischen Stadt"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahrscheinlich ist es der Titel, der in dem Leser eine Erwartungshaltung auslöst, die das Buch nur schwer befriedigen kann. "Hier spricht Berlin" - allein schon der anfängliche, naive Glaube, Berlin spreche tatsächlich zu einem durch die 58 Kurzgeschichten, führt zu einer ersten Enttäuschung. Tatsache ist, es geht um Berlin: Aber um ein Berlin aus den Augen von Immigranten gesehen, aus der Perspektive von fünf Feuilletonisten der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" - Claudius Seidl, Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter und Anne Zielke, die sich mit ihrem Schicksal einfach nicht abfinden konnten und zur Kompensation alles Aufstoßende und Ungewohnte an Berlin in einem Buch sammelten.

"Sie erzählen von Erfahrungen, die man nur in Berlin machen kann [...], von Menschen, denen man nur in Berlin begegnen kann", etwa der nudistischen Offenheit vieler Berliner ("Nacktheit und Nachbarschaft"), der noch nicht abgelegten Überwachungsgewohnheiten ehemaliger Stasi-Beschäftigter ("Die Staatsmacht") oder von der zeitraubenden und nervtötenden Berliner Trambahn ("Linie 1") auf dem Weg zur Arbeit und schnorrenden Punks, die geizige Passanten mit ihrem Urin beschießen ("Ich bin gar kein Taxi").

"Sie räumte ihr dunkles, enges Zimmer, unten zog ein ,Gewerbe' ein. A. brauchte nicht lange, um zu begreifen, daß das Gewerbe, das da eingezogen war und ausschließlich von sehr blonden reifen Damen mit slawischem Akzent betrieben wurde, das sogenannte horizontale war. Trotzdem steht an A.s alter Tür seither das Wort ,Büro', und die Öffnungszeiten sind Montag bis Freitag 9-17 Uhr", berichtet Richter in "Arbeit" von den Erfahrungen einer Bekannten in Berlin, die über einem Puff wohnt, der, mit "große[n] Schreibtische[n] und Chefsessel[n]" versehen, eher den Räumlichkeiten eines seriösen Unternehmens glich als den Bordell-Vorstellungen des Autors von "rotem Plüsch und Salonschwulst oder zumindest Südseetapeten".

Die Erwartungshaltungen der Berliner Neuzugänge werden aber auch anders noch enttäuscht: So etwa, wenn Claudius Seidl in einem gewöhnlichem Tante-Emma-Laden in Prenzlauer Berg vergebens auf Feinkostware hofft, statt die Befriedigung in dem dort angebotenen "Bonbel" zu suchen, oder wenn Minkmar in einer Bäckerei trotz längst vergangener DDR-Zeiten doch tatsächlich noch mit "Planungsfehlern" konfrontiert wird.

"Warum", fragen sich die fünf Neu-Berliner, "geht es hier nicht so zivilisiert zu wie in Hamburg oder München", oder "so großstädtisch wie in London oder New York?" Fragen von Großstädtern, die anderes gewohnt sind als Berlin, und die neue Hauptstadt wird doch gern mal mit der "Hauptstadt irgendeines Schwellenlandes", wie "Pjöngjang zum Beispiel" vergleichen, um sich zu versichern, "dass es immer noch einen schlimmeren Ort" gäbe als das multikulturelle Sammelbecken Berlin.

Am Unterhaltungsgrad eines Wladimir Kaminers sollten die 58 Erzählungen wohl lieber nicht gemessen werden, da die Aufmerksamkeit des Lesers von Zeile zu Zeile schwindet, etwa wenn Diez mit seinen dumpfen Parallelismen und unkreativen Wortwiederholungen seinen Geschichten literarisch den letzten Schliff zu geben versucht. Auch Seidls snobistische Bemerkungen stechen immer dann besonders hervor, wenn die Pointen ihm mal wieder weniger gut gelungen sind.

Gut weg kamen schon in der "Spiegel"-Kritik nur Anne Zielke und Peter Richter, deren Beiträge, unter anderem "Lärm" oder "Dynamo", immer wieder Mut zum Weiterlesen geben.

Die Schwierigkeit aber, ein Buch zu schreiben, das von den ersten Erlebnissen in einer verhassten Stadt erzählt, sollte nicht unterschätzt werden. Schließlich ist der Alltag nun einmal doch etwas Gewöhnliches, Nicht-Fiktionales, das sich nur schwer spannend gestalten lässt. Gerade aber das ist die Kunst an einer solchen Kurzgeschichte: die Kompositionsweise - unerwartete, pointierte Wendungen wie bei Zielke und Richter, die das Gewöhnliche doch noch zu etwas Besonderem machen.

Titelbild

Georg Diez / Nils Minkmar / Peter Richter / Claudius Seidl / Anne Zielke: Hier spricht Berlin. Geschichten aus einer barbarischen Stadt.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
223 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3462033425

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