Die jungen Jahre des J. M. Coetzee

Ein Roman, der weit als so manches seltene Interview mehr über das Wesen des geheimnisvollen Nobelpreisträger ahnen lässt

Von Tobias TemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Temming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Normalen Menschen fällt es schwer böse zu sein. Wenn normale Menschen Bosheit in sich aufflammen spüren, trinken oder fluchen sie oder werden gewalttätig. Bosheit ist für sie wie ein Fieber, sie möchten es aus ihrem System vertreiben, sie möchten wieder zu ihrem normalen Zustand zurück finden. Doch Künstler müssen mit dem Fieber leben. Sei es gut- oder bösartig. Das Fieber macht sie zu Künstlern; das Fieber muss am Leben erhalten werden. Deshalb können Künstler nie ganz von dieser Welt sein."

Coetzees neuestes, im Sommer 2002 veröffentlichtes Buch "Die jungen Jahre" steht in einer Reihe mit den autobiographischen Romanen "Der Junge" und "Eine afrikanische Kindheit". In der dritten Person erinnert sich der frisch gebackene Nobelpreisträger an sich selbst, seine letzten Jahre in Südafrika und an seine Zeit in England.

Schon früh kehrt der namenlose Held der Geschichte Südafrika den Rücken und flieht vor den Auseinandersetzungen mit seiner Familie und dem schwelenden Rassenkonflikt. Der gerade diplomierte Mathematiker sieht sich für eine Existenz als Dichter und Poet berufen. Sein Ziel ist London. Dort möchte er die "Tiefen" erkunden und sich der Prüfung des Lebens stellen, die ihn am Ende in "das Licht der Liebe und der Kunst" führen soll.

Coetzees Figur versucht Lebenserfahrung poetisch zu verarbeiten, um so veredelt als Künstler, Poet und leidenschaftlicher Liebhaber den Niederungen der menschlichen Existenz zu entsteigen. Der Leser folgt den Gedanken, Vorstellungen und Wünschen des Helden, der eigentlich ein Verlierer ist, immer auf der Suche nach seinem künstlerischen bzw. sinnlich-erotischem Erweckungserlebnis; er ist auf der Flucht vor seinem eigentlichem Ich und seiner afrikanischen Vergangenheit. Die Gedanken an seine Heimat schwingen immer mit; ebenso wie Angst zu versagen, als Versager zurückzukehren und wieder auf seine Familie angewiesen zu sein, zu der er keinerlei Kontakt mehr wünscht.

Sein Broterwerb als Programmierer bei IBM frustriert ihn. Die Arbeit in dem "charakterlose[n] Würfel aus Beton und Glas" hat eine betäubende Wirkung auf ihn. Sie verwandelt den verhinderten Poeten mehr und mehr in eine Art Zombie, in eine unidentifizierbare Nummer, eine kafkaeske "Drohne" unter den Millionen der Londoner Angestellten, die zwei Mal täglich wie schwarze Heerscharen in den U-Bahn-Stationen der Stadt ein- und wieder ausfallen. Die "Stadt züchtigt ihn" und scheint ihm jegliches poetische Betätigung zu verleiden.

Er sucht Zuflucht in der Literatur, fertigt nebenbei eine Doktorarbeit über Ford Maddox Brown an und studiert seine persönlichen Helden wie T. S. Eliot, Pound, Beckett, Henry James sowie Ingeborg Bachmann und Brecht.

Coetzees Figur glaubt an die Macht der Liebe: Würde er erst einmal durch eine Frau entdeckt, die seine wahren Fähigkeiten erkennt, stünde seiner künstlerischen Entfaltung nichts mehr im Wege. Ihre Liebe, so glaubt er, könnte ihn zum Künstler machen. Dennoch schrecken ihn Frauen ab und schüchtern ihn ein. Seine 'Annäherungsversuche' bestehen darin, mit hochintellektueller Literatur in der U-Bahn zu sitzen - hoffend, dass die erwartete Prinzessin sein Genie erkennt und ihn anspricht. Er ist wahrlich kein Frauenheld. Die Frau als vollkommenste Form der Kunst fasziniert ihn, doch stößt sie ihn zugleich ab. Er ahnt es, während er Rilke zitiert: "Was wir das Schöne nennen ist nichts als des Schrecklichen Anfangs. Wir werfen uns vor dem Schönen nieder um ihm zu danken, daß es verschmäht uns zu zerstören." Doch so wie die Kunst, die droht ihn zu zerstören, so könnten ihn auch die Frauen zerstören, wenn er sich heranwagte. Es ist die Angst vor der Macht des ästhetisch Schönen. Die Angst davor, der zerstörerischen Verführungskraft der Kunst nicht gewachsen zu sein.

Entsprechend enden seine leidenschaftslosen Gelegenheitsbeziehungen zu Frauen regelmäßig im Desaster. Er praktiziert Sex als eine elaborierte Zwangshandlung ohne jede Lust, durch deren Erfahrung er sich dennoch erhofft, sich einer Dichterexistenz anzunähern. Erfahrung soll in Kunst verwandelt werden. Doch er irrt; aus T. S. Eliots Tagebuch erfahren wir sinngemäß: Poesie, als höchste Form der Kunst, ist letztendlich nicht der Ausdruck von Erfahrung oder Persönlichkeit, sondern eine Art Befreiung von der Persönlichkeit, des Selbst, des eigenen Ich. Was aber tun, wenn man sein eigenes Ich noch nicht gefunden hat? Wer ist er denn schon? Solange diese Frage unbeantwortet bleibt, ist auch sein Leben nichts weiter als eine einsame und triviale Existenz.

"Eisige Straßen entlang zu trotten" mit einem "von Einsamkeit tauben Herzen" gehört zu seiner Vorstellung, die Tiefen des menschlichen Daseins zu erkunden. Stimmt es denn nicht, dass "die Kunst nur aus Unglück erwächst?" Schließlich muss der "wahre Künstler jede Erfahrung auskosten, von der edelsten bis zur erbärmlichsten." Er schläft mit Frauen, die gestern noch Kinder waren, um die moralische Verkommenheit zu erleben und versinkt so immer tiefer in seinen Illusionen sophistischen Selbstbetrugs.

Doch zum Dichter und "edleren Menschen" wird er dadurch nicht. Von Eliot erfahren wir weiter: "Dichten heißt nicht, seiner Gefühlswelt freien Lauf zu lassen, wohl aber: sich von seinen Gefühlen befreien." Doch ist Coetzees Held wahrlich kein Mensch, der über einen überbordenden Speicher an Emotionen verfügt. War für Goethes Werther der Tanz mit einer schönen Frau noch Gelegenheit, in wonnevollsten Tränen zu zergehen, ist er für Coetzees Held nur noch eine überflüssig ritualisierte Aufforderung zum Beischlaf. Wie soll ein solchermaßen an Gefühlsanämie Leidender das drohend weiße Blatt besiegen?

Er ist auch kein intellektuelles Genie. Noch nie war er Klassenbester - "Höchstens im Unglücklichsein." Er wandert ziellos durch die Straßen Londons. Erträgt mit stoischer Lethargie seine Unzufriedenheit, die Stumpfheit seines Lebens. IBM macht alles nur noch schlimmer. Er bewegt sich ängstlich in einer matten Welt der Sinnlosigkeit - ohne Ziel, ein Suchender, ein einsamer Wanderer, getrieben von der Willkürlichkeit des Schicksals. Der Selbstzweifel und die Angst zu versagen lähmen alle seine Bemühungen, sein Leben zu einer sinnvollen künstlerischen Vollendung zu führen. Aber hat er überhaupt etwas besseres verdient?

Coetzees neuestes Werk gleicht tatsächlich einem Fiebertraum. Mit schwereloser Leichtigkeit versteht er es, seinen namenlosen Protagonisten zwischen zwei Welten schweben zu lassen. Im Zentrum des Konfliktes steht ein Aufbäumen gegen den Fatalismus einer determinierten Existenz. Wie in fast allen Texten des südafrikanischen Literaturprofessors ist sein Held auch diesmal ein innerlich zerrissener Charakter. Zerrissen zwischen bürgerlichem Leben und Künstlertum; der angelsächsischen Welt und seinen afrikanischen Wurzeln. Ein Dasein zwischen Wollen und Sein - Illusion und realer Existenz. Immer wieder sind die Charaktere in Coetzees Werk desorientierte Randexistenzen, marginale Spielbälle des Schicksals. Ähnlich wie im mit dem Booker Preis ausgezeichnetem Buch "Leben und Zeit des Michael K.", ist auch in seinem neuesten Werk von den ersten Seiten an klar, dass "Er" nie richtig auf dieser Erde ankommen wird, genauso wie es zu seiner Existenz gehört, dass er seiner Welt und seinem Ich nicht entfliehen kann.

"Die jungen Jahre" ist ein subtiles Psychogramm, ein melancholischer Roman über die Beweggründe menschlichen Handelns. Er erzählt von der Ziel- und Sinnsuche eines jungen, orientierungslosen Lebens. Coetzees Buch ist ein Fiebertraum vom Suchen; der Angst nicht zu finden und sich auf der Suche nach Selbsterkenntnis im rasenden Wandel der Zeit zu verlieren.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Die jungen Jahre.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3100108191

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