Dünnbier ist ein ganz besondrer Saft

Das finnische Multitalent M. A. Numminen bezaubert durch Alkoholliteratur, Weihnachtslieder und eine unkonventionelle Wittgenstein-Interpretation

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das finnische Kulturphänomen Mauri Antero Numminen ist äußerst multitasking-fähig. Er oszilliert ständig zwischen den verschiedensten künstlerischen Disziplinen und erschließt sich damit ganz unterschiedliche Zuschauergruppen. Er filmt und schauspielert, schreibt und philosophiert, singt und tanzt und schlüpft ab und an in ein lustiges Hasenkostüm, um über das finnische Fernsehen die Kinder seines Landes zu beglücken. Mit der Hasenrolle hat er sich soweit identifiziert, dass er die "Universal Declaration of the Rights of the Rabbits" auf Platte verewigte.

In den 60er Jahren irritierte er die recht konservative finnische Öffentlichkeit durch eine Vertonung von Sexualkundeliteratur. Zur gleichen Zeit lernte er deutsch, da man damit die finnischen Studentinnen beeindrucken konnte. Denn, wer deutsch sprach, konnte Marx im Original lesen, galt als links und war somit sexuell attraktiv. Seine Deutschkenntnisse setzte Numminen auch musikalisch um, indem er die Tradition des finnischen Tangos, den er als Mischung aus deutschem Marsch und russischer Romanze vortrefflich beschreibt, seinen deutschen Hörern in verschrobenen Übersetzungen zugänglich machte. So schuf er etwa den skurrilen Klassiker "Mit meiner Braut im Parlamentspark", der, intoniert in gebrochenem Deutsch und in ebenso gebrochenem Falsett-Gesang, einen typischen Finn-Tango repräsentiert. Es geht darin um Annäherungsversuche, Weinkonsum und Volksvertreter - Sex, Drugs & Politics. Neben dem irritierenden Gesangsstil tragen auch die zuweilen anachronistisch und gespreizt wirkenden Übersetzungen zu Numminens Komik bei. Für den humoristischen Effekt seiner Interpretationen ist es letztlich egal, ob die sinngemäßen Übertragungen ins Deutsche bewusste oder unbewusste Stilbrüche erzeugen. Einen ganz besonders gelungenen Stilbruch stellt auch sein bislang ambitioniertestes Projekt dar, das sogar die legendäre "Gebärde für drei Rülpser" in den Schatten stellt: die Vertonung von Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus". Als der junge Philosophie- und Soziologie-Student Numminen in den 60ern mit Wittgensteins auratischer 'Formelsammlung' konfrontiert wurde und davon fasziniert war, sah er in der musikalischen Umsetzung einen Weg nicht nur der Exegese, sondern auch der Popularisierung. So nahm er die "Tractatus-Suite" auf und erntete, ähnlich wie Wittgenstein, zunächst eher Unverständnis. Als er das musikalisch vielschichtige Werk schließlich 1988 im Rahmen eines internationalen Philosophie-Kongresses in Stockholm als Überraschungsgast zur Aufführung brachte, lagen ihm die Denker zu Füßen. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man halt singen.

Mittlerweile ist M. A. Numminen, der hierzulande als finnischer Helge Schneider gehandelt wird, ein Star. Wie Schneider liebt Numminen die gepflegte Albernheit und die Jazzmusik. Davon zeugt auch sein Saison-Album mit wilden, wüsten und beschwingten Weihnachtsliedern, welche natürlich auf Deutsch dargeboten werden. Als kraftspendender Soundtrack zum nun anstehenden Konsum- und Gemütlichkeitswahn gehört es in jeden Haushalt und zur Beschallung in sämtliche Fußgängerzonen, um als akustisches Ventil adventlicher Blutbadgedanken das Schlimmste zu verhindern. Denn der Interpret bringt mit kathartischer Wirkung auf den Punkt, um was es an Weihnachten überhaupt geht: nicht um Besinnung, sondern um besinnungsloses Fressen und Saufen. "Ferkel, du wirst nun abgeknallt. Ferkel, Weihnachten kommt schon bald. Ferkel, der Onkel trinkt dein Blut, Ferkel, wir feiern frohgemut."

Ähnlich wie Helge Schneider bewegt sich M. A. Numminen nicht nur im musikalischen, sondern auch im filmischen und literarischen Genre. In seinem Roman "Tango ist meine Leidenschaft" (2000) verknüpft er Meditationen über den finnischen Tango mit einer erotischen Entsagungsgeschichte. Darin will der 35-jährige Tangoliebhaber Virtanen Platons Diktum, welches besagt, dass der Mann erst mit 35 Jahren reif für den Umgang mit Frauen sei und bis dahin Enthaltung üben müsse, um mindestens ein Jahr übertreffen. Das ist jedoch nicht so leicht, wenn man Tango tanzt, denn beim Tango tanzen wird das Glied steif: "Das Glied schwillt an und stört beim Tanzen. Auf dem Land verschwinde ich dann immer gleich nach dem Tanz in den Wald, reiße einen Birkenzweig ab und bestrafe das Glied mit scharfen kleinen Hieben. Die Züchtigung bringt es wieder zur Raison, und ich kann zurück und eine andere Braut auf den Tanzboden holen."

Die Lakonie und Unaufgeregtheit dieser Prosa entspricht ziemlich genau der durch die Filme der Gebrüder Kaurismäki geprägten Vorstellung vom stillen, kalten Land des hohen Nordens, dessen melancholische Bewohner lieber tanzen und trinken, als unnötig viele Worte zu verlieren. Neben dem Tango erregt das sogenannte Dünnbier die reservierten Gemüter der Finnen. Serviert wird es in den überall zu findenden Dünnbierbars. Das sind Kneipen, Bierstuben oder Trinkhallen eher geringen Ansehens, die anders als 'richtige' Restaurants nur das Dünn- oder Dreierbier ausschenken dürfen, da dies nicht der staatlichen Kontrolle unterliegt. Dünnbier, das ist ein ganz besonderer Saft. Denn ganz im Gegenteil zu seinem etwas abschreckenden Namen wartet das Hopfengetränk mit einem Alkoholgehalt von etwa 4,5 % auf, ist also mit dem hiesigen Gerstensaft durchaus zu vergleichen. Bereits Mitte der 80er Jahre gab Numminen seinem soziologischen Forscherdrang nach und bereiste das gesamte Land, um in 350 Kneipen als teilnahmefreudiger Beobachter seine Feldstudien in Sachen Dünnbierkonsum zu betreiben. Sein nun auch auf Deutsch erschienenes Buch "Der Kneipenmann" ist der kondensierte Forschungsbericht dieser kräftezehrenden und langwierigen Unternehmung.

Die Dünnbierbars sind keineswegs schichtübergreifende Begegnungsstätten. Gibt es in Deutschland eigentlich überall Wirtshäuser rustikaler Prägung, die sowohl bei Anwälten als auch bei Arbeitslosen beliebt sind, werden diese Kneipen vornehmlich von Bauern, Arbeitern oder Rentnern frequentiert. Wie exklusiv diese der proletarischen Kultur zugehörig sind, zeigt sich schon an der Geringschätzung, die etwa einer profanen Pizzeria durch die Dünnbiertrinker entgegengebracht wird: "Neben besagter Bar hatte sich soeben eine nagelneue Pizzeria etabliert. Die Kundschaft derartiger Etablissements besteht bekanntlich aus so genannten Erfolgsmenschen in modischen Klamotten und mit durchgesyltem Haar. Will man in einer solchen Nachbarschaft in einem heruntergekommenen alten Holzschuppen eine Dreierbierbar führen, deren Kunden auch nicht von ferne an Pizza-Fans erinnern, dann heißt das, das Selbstbewusstsein auf eine harte Probe stellen."

Die zahlreichen Fotos des hervorragend übersetzten Kneipenführers übermitteln einen manchmal erschreckenden Eindruck davon, in welch ungastlich wirkenden Pinten sich der soziologische Trinker herumgetrieben hat. Die oft schäbigen und im unfreiwilligen Retro-Look eingerichteten Schänken empfangen den Gast jedoch mit einer angenehmen Atmosphäre, denn dort gibt es ja Bier. Außerdem scheint man in jeder zweiten Bar alte Bekannte von Numminen treffen zu können, zumindest glaubt sich ein Gutteil des leicht alkoholisierten menschlichen Inventars an frühere Gelage mit ihm zu erinnern. Dieser kommt selbst auf gänzlich unbekanntem Terrain recht zügig mit den Einheimischen ins Gespräch und bekundet seine Wertschätzung der zu beobachtenden Subkultur in Passagen wie dieser: "Jung ist der Abend und klein die Zahl der Gäste. Numminen und Hietanen finden Platz in der Herrengemeinde am nächsten Tisch. Lautstark geben sie ihrer Bewunderung für den kargen Stil von Aghas Bar Ausdruck. Gelebte Geschichte wie diese sei es, deren die menschliche Seele bedürfe, um in einer fortschreitend normierten Gesellschaft noch Anregungen zu erfahren. Richtig betrachtet sei es sogar gesellschaftliche Pflicht, den Bürgern derartige Erholungsmöglichkeiten bereitzustellen, bemerkt Numminen wie nebenbei." Ja, Alkohol wirkt in vernünftigen Dosen durchaus systemstabilisierend.

Numminens Kneipensoziologie erfüllt bestimmt nicht das Webersche Postulat der Werturteilsfreiheit, denn sein Erkenntnisinteresse ist missionarisch und nicht ganz uneigennützig motiviert: "Es galt, bewusst zu machen, welch wichtige soziale Rolle die Dreierbierbars spielen, und auch das Dreier selbst musste zur Ehre gebracht werden, die ihm gebührt." Als sein Buch 1986 in Finnland erschien, wurde es von der Presse zum zweiten Nationalepos, zur Dünnbier-"Kalevala" hochstilisiert. Seine Mission war damit erfolgreich: heute ist das Dreierbier das beliebteste alkoholische Getränk der Finnen.

Kein Bild

Mauri Antero Numminen: M. A. Numminen sings Wittgenstein. CD.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2003.
60 min, 9,99 EUR.

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Mauri Antero Numminen: M. A. Numminen singt wüste, wilde Weihnachtslieder. CD.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2003.
50 min, 9,99 EUR.

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Mauri Antero Numminen: Tango ist meine Leidenschaft. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Eike Fuhrmann.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2003.
347 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3861505142

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch