Lass die amerikanischen Teufel kommen!

Åsne Seierstads ganz unpersönliches Tagebuch aus dem Bagdad der Kriegs- und Vorkriegsmonate

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren und Monaten hat es sich nachgerade zu einem modischen Trend entwickelt, einstweilige Verfügungen oder gar Klagen gegen literarische Werke einzureichen, welche die Persönlichkeitsrechte der Kläger verletzen sollen. Dieses Schicksal ereilte auch Åsne Seierstads unlängst erschienenen Roman "Der Buchhändler von Kabul". Ein Kabuler Buchhändler, dem eine englischsprachige Übersetzung des Buches zugespielt worden war, sah sich in der sexistischen Titelfigur portraitiert, flog nach Norwegen, dem Heimatland der Autorin, und verlangte, dass der in 17 Sprachen übersetzte Bestseller eingestampft und ihm ein 'angemessenes' Schmerzensgeld zuteil werde.

Inzwischen ist die Autorin und Reporterin bereits mit einem weiteren Titel auf dem Markt, keinem Roman diesmal, sondern einem - so der Titel - "Tagebuch aus Bagdad". Von Ende Januar 2003 an bis nach dem Ende der offiziellen Kriegshandlungen war sie in der irakischen Hauptstadt als Kriegsberichtserstatterin tätig. Ihre Reportagen erschienen in neun großen europäischen Tageszeitungen.

Das nun publizierte Tagebuch beginnt mit dem 19. Januar und endet am 15. April. Es reicht also von der unmittelbaren Vor- bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit, berichtet jedoch nicht nur, wie sein Titel besagt, aus Bagdad, sondern etwa auch aus Kerbala, wo Seierstad mit wenig Erfolg versuchte, die Menschen über das Massaker von 1991 zu befragen. Auch handelt es sich nicht um reine Tagbucheintragungen, in denen sie etwa von Gesprächen mit den Einwohnern Bagdads und deren Alltag berichtet. Auch gelegentliche statistische Angaben lässt die Autorin einfließen. So erfährt man etwa, dass schon vor dem Krieg nur 60 Prozent der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser versorgt waren.

Das Bagdad der Vorkriegszeit ist durch die ständige Angst vor den allgegenwärtigen Spitzeln des Regimes geprägt. Stets bekam Seierstad die gleichen Antworten auf ihre Fragen: "Das Leben sei gut, Saddam Hussein sei der beste Mann auf der Welt, und die Amerikaner würden sie nicht fürchten." Zurecht stellt sie die "Banalität" solcher Antworten fest, die zeigen "wie tief die Angst vor dem Regime saß". Dass Seierstads Dolmetscherin bis an das Kriegsende mit unbeirrbarem Glauben an Saddams Regime festhält, macht jedoch auch deutlich, wie wirksam dessen jahrzehntelange Propaganda war. Und so ist nicht immer zu unterscheiden, ob Angst oder Überzeugung den von allen ausländischen Informationsquellen abgeschnittenen Irakern die Phrasen der Propaganda diktiert.

Unmittelbar vor Beginn der Bombardements führte die Autorin eine Reihe von Gesprächen mit den aus dem westlichen Ausland angereisten "menschlichen Schutzschilden", deren Aussagen, trotz der frei zugänglichen Informationsquellen, die ihnen bis zur Einreise in den Irak zur Verfügung standen, zum Teil von geradezu erschreckender Naivität sind. Andere hingegen merkten schnell, dass sie von Saddams Regime missbraucht wurden und fürchteten sogar, auf seinen Befehl hin ermordet und dann als Opfer amerikanischer Bombenangriffe präsentiert zu werden.

Von besonderer Eindringlichkeit ist Seierstads Tagebuch unmittelbar vor Beginn des Krieges. Die Stimmung, die in diesen Tagen unter der Bevölkerung herrscht, findet ihren wohl prägnantesten Ausdruck in der Bemerkung eines Buchhändlers: "Alles muss mit der Wurzel ausgerissen werden. [...] Lass die amerikanischen Teufel kommen und es hinter uns bringen."

Während der Kriegswochen konzentriert sich die Autorin ganz auf das Leid der Bevölkerung unter den Bombardements und den wachsenden Hass auf die Amerikaner. Von ihren eigenen Beurteilungen, ihren Gefühlen und ihren sicher vorhandenen Ängsten erfährt man nichts. Während zwischen den Bombardements Kinder auf den Straßen Bagdads - so wie sie es wohl schon immer getan haben - Krieg zwischen Israelis und Palästinensern spielen, erklärt ein Intellektueller hellsichtig: "Er [Bush] hat uns jetzt hunderter von Osama bin Ladens geschickt. Wenn die Behörden bisher nichts mit Al-Qaida zu tun hatten, dann haben sie es jetzt."

Dass die Iraker die Schuld für die sofort um sich greifenden Plünderungen alleine bei den Amerikaner suchten und niemand wahrzunehmen schien, dass es doch die eigenen Landsleute waren, die plündernd und brandschatzend durch die Stadt zogen, wusste man schon vor Seierstads Buch. Ebenso bekannt war, dass die amerikanische Besatzungsmacht die Plünderungen geschehen ließ, ohne einzugreifen, und sie somit einen Teil der Verantwortung zu tragen hat. In ihrer Lapidarität unübertroffen ist jedoch die Bemerkung eines amerikanischen Offiziers, der Seierstad schulterzuckend erklärte, es liege "absolut außerhalb unseres Mandats, Recht und Ordnung wieder herzustellen". Unübertroffen ist jedoch auch die Schizophrenie einer Bagdaderin. "Wir haben Angst. Nachts sind Banden unterwegs und saufen, stehlen und plündern", klagt sie, packt mit diesen Worten ihre eigene Beute - ein Sofa und einige Sessel - auf einen Karren und zieht davon.

Trotz Zerstörungen, Brandschatzungen und Plünderungen scheint Seierstad das Ergebnis des Krieges eher positiv zu sehen. Denn, so stellt sie fest, "was der Krieg hauptsächlich verändert hat, sind die Gespräche". Sie sind nun von bislang ungekannter Offenheit und Freiheit.

Seierstad kann zwar nicht mit spektakulären oder auch nur unerwarteten Informationen oder Erkenntnissen aufwarten, doch hat sie Einblicke in Leben und Denken der Bagdader Bevölkerung unmittelbar vor, während und nach den offiziellen Kriegshandlungen gewonnen, so weit und so tief sie einer ausländischen Journalistin eben möglich sind.

Titelbild

Åsne Seierstad: Tagebuch aus Bagdad. Alltag zwischen Angst und Hoffnung.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Holger Wolandt.
Claassen Verlag, München 2003.
224 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3546003462

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