Krisenzeit Weihnachten

Gabriele Wohmanns Erzählband "Bleibt doch über Weihnachten"

Von Aline WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aline Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In acht Erzählungen beobachtet Gabriele Wohmann menschliche Beziehungen in weihnachtlich verordneter Besinnlichkeit. Der Titel des Buches "Bleibt doch über Weihnachten" wirkt fast wie eine Drohung, denn keine der Figuren kann das Fest unbelastet genießen.

In jeder Erzählung steht eine Beziehung im Mittelpunkt: Eltern-Kind-Beziehungen, Geschwisterliebe, Freundschaften oder die Beziehung von Oma und Enkelsohn. Konflikte, oder sogar Schicksalsschläge platzen in das Fest der Liebe, und umgekehrt drängt sich Weihnachten in die Routine des Lebens. Ungebeten tritt der Heilige Abend in das Leben von allen. Was tun mit unangebracht gespaltenen Gefühlen zu seinen Liebsten, wie umgehen mit Schuldgefühlen, mit schlechtem Gewissen, Trauer oder Auseinandersetzungen zu einem Zeitpunkt, der nach "glänzenden Kinderaugen", nach feierlicher Vorfreude und möglichst harmonischem Miteinander verlangt?

Noch schwieriger gestaltet sich das Verhältnis zum eigenen Glauben, denn alljährlich wird die Glaubensfrage aktuell. Da es unmöglich ist, sich dem emsigen Festtagsrummel zu entziehen, werden die Protagonisten unvermittelt mit ihren Zweifeln konfrontiert.

"You never know" erzählt beispielsweise von Netti, einer älteren Dame, die mit ihren noch älteren, gebrechlich kränkelnden Schwestern zusammenlebt. Nettis gewohnter Weihnachtsboykott bleibt aus, weil sie plötzlich tiefe Dankbarkeit verspürt, daß ihre Schwester sich von einer schweren Krankheit erholt hat. Jetzt weiß die jüngere Schwester nicht so recht, wem ihre Dankbarkeit gilt. Der Verstand sagt: den Ärzten, aber diese Antwort ist nicht befriedigend. "Netti war ziemlich sicher, daß sie Gott dankte und daß daran irgendwas verkehrt war. Ihm fürs pure Überleben mitsamt dem irdischen Weitermachen zu danken: wie absurd. Dafür daß wir keine Angst vor dem Sterben haben sollen, müßten wir Ihm dankbar sein. Doch selbst der Gläubigste wagt es nicht, sich auf seinen Tod zu freuen."

Weihnachten stellt den Glauben aller Figuren des Erzählbandes auf die Probe. Die institutionelle Feier erinnert die Figuren daran zu glauben, eigentlich glauben zu müssen, wenn sie sich unter dem Christbaum nicht als Heuchler fühlen wollen.

In vier Erzählungen überschattet der Tod unpassenderweise die heilige Zeit und stürzt die Betroffenen in eine Glaubenskrise. Trauer über den Tod einer Schwester, Angst vorm Sterben der Mutter, die Nähe des Todes beim Älterwerden und Todessehnsucht zweier Schwestern - passt das zu Weihnachten? Es passt genauso gut oder schlecht dazu wie eine Liebe, die an Weihnachten ihre Zerreißprobe zu überstehen hat.

In Gabriele Wohmanns Erzählungen dient Weihnachten als Kulisse, vor die die Figuren meist mit Widerwillen plaziert werden und nun in einer Art Ausnahmezustand agieren müssen. Die Autorin zeigt uns, was Weihnachten mit den Menschen macht. Ohne sentimental zu werden, beschreibt sie, wie die heilige Nacht alle zwischenmenschlichen Beziehungen sensibilisiert: Zwiespältige Gefühle zu Nahestehenden sind besonders jetzt hochexplosiv. Kindheitserinnerungen an eine geheimnisvolle Zeit werden wach, Sehnsüchte steigen auf und Wünschen, Träumen, an Wunder glauben ist für kurze Zeit erlaubt. Die Geschichten sind Momentaufnahmen des Weihnachtsterrors und Weihnachtsfrusts, den alle durchmachen müssen und der verbindet. Ist das der Sinn von Weihnachten? Oder liegt er in der Antwort der weiblichen Hauptfigur aus der Erzählung "Ist das Leben nicht schön?": "Ich habe zwar ja gesagt, aber wenns schön wäre, brauchten wir den ganzen 24.12. nicht, nicht diesen besonderen Geburtstag, keinen Engel, Gott, all das..."

Titelbild

Gabriele Wohmann: Bleib doch über Weihnachten. Erzählungen.
Pendo Verlag, Zürich- München 1998.
154 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3858423270

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