Unsterblich die Phantasie

Ein Tribut zum neunzigsten Geburtstag Arno Schmidts

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Voll Bewunderung verneigt sich der Erzähler in Arno Schmidts Kurzgeschichte "Ich bin erst sechzig" vor den Dichtern und Denkern vergangener Jahrhunderte: "Was hatten die alten Männer gearbeitet!" Und fügt in Gedanken hinzu: "Bald würde auch ich einer sein; triefherzig, mit zähem Ideengewackel, fingerschläuchig, ein weißer Greis, gack, gack!"

Was hier wie die Angst vor den Gebrechen des Alters klingt, geht bei Arno Schmidt oft einher mit der Befürchtung, Kürze und Beschwerlichkeit des Lebens ließen nicht die nötige Zeit für Lektüre und dichterische Produktion. Dies ahnend, verbündet sich der besagte Erzähler mit einem ältlichen Sammler-Rivalen, um auf einer Buchauktion gemeinsam einen mitbietenden Antiquar auszustechen. Als die beiden einen ganzen Schwung Hannoverscher Staatshandbücher ersteigern, überlässt der Erzähler seinem hageren Alten großzügig die Beute. Allerdings nur vorläufig, denn rein rechnerisch weiß sich der Bibliomane im Vorteil: "Er ist Neunzig; ich bin erst Sechzig."

Nun wäre Arno Schmidt dieser Tage selbst neunzig Jahre alt geworden. Und wie die pointierte Kurzgeschichte bereits andeutet, ist es nicht übertrieben, sein Leben als einen permanenten Wettlauf gegen die Zeit zu beschreiben. Geboren am 18. Januar 1914 in Hamburg, hat Schmidt seine Berufung zum Schriftsteller gegen zahllose Widerstände verteidigen müssen. Im kleinbürgerlichen Elternhaus gilt Literatur nicht viel, während und nach der NS-Zeit hat sich der junge Schmidt vor allem unterzuordnen - ob als Lagerbuchhalter, Soldat, Kriegsgefangener oder Dolmetscher. Durch den Krieg verliert er nicht nur seine gesamte Bibliothek, sondern auch wertvolle Zeit, die er bis zu seinem Tod durch chronische Überarbeitung wieder einzuholen sucht. Trotz dieser permanenten Kraftanstrengung sind seine wenigsten Bücher auf Anhieb Verkaufserfolge. Stattdessen muss er sich in der restaurativen Bundesrepublik der 50er Jahre gegen den Vorwurf der Gotteslästerung und Pornografie verteidigen. Fortwährend leidet er unter Geldmangel und ist deshalb gezwungen, seinen bescheidenen Lebensstil durch zusätzliche "Brotarbeiten" aller Art zu finanzieren. Das maßlose Schreibpensum im Bargfelder Refugium führt schließlich zu einer immer bedrohlicher werdenden Herzkrankheit.

Wer angesichts derlei Widrigkeiten alle Hoffnung verlöre und sich zu einer gänzlich unspektakulären bürgerlichen Existenz entschlösse, dem wäre dies gewiss nicht zu verübeln. Stattdessen verzichtet Arno Schmidt auf alle Wonnen der Gewöhnlichkeit und bewältigt den Komplex Krieg und Überleben als literarisches Pflichtprogramm am Schreibtisch. Besonders seinen frühen Texten liegt die hausgemachte Weltanschauung des Leviathanismus zugrunde: Gemäß dieser umgekehrten Theodizee herrscht statt eines gütigen Gottes eine brutale Bestie über die Welt. Erste Aufgabe der Literatur ist daher, dem zerstörerischen Willen des Monsters ganz im Schopenhauerschen Sinne die reine Vorstellungswelt des Dichters entgegen zu setzen.

Es versteht sich von selbst, dass dies nur durch radikalen Antagonismus geschehen kann. So versuchen die Helden Schmidts, sich dem drohenden Weltuntergang durch eine Art innerer Emigration zu entziehen. Doch der Fluchtweg von der ekelhaft-organischen Existenz des Fressens und Gefressenwerdens hin zum Wunschtraum eines selbst bestimmten, bibliophilen Insel-Daseins ist beschwerlich und führt nicht immer ans Ziel. Die Idylle scheitert, weil das Individuum sterblich ist und sich stets durch Angriffe des bösen leviathanischen Prinzips bedroht sieht.

Der gleichen Gefahr unterliegen indes auch alle geistigen Erzeugnisse. Arno Schmidt, der sich nicht nur in seinen Nachtprogrammen für vergessene Kollegen eingesetzt hat, sieht seine wichtigste Mission mit zunehmendem Alter darin, das kulturelle Erbe der Menschheit vor der Gleichgültigkeit einer kulturlosen Meute zu bewahren. Ein derartiges Konzept klingt zweifellos elitär und hat dazu geführt, dass Schmidt trotz seines hohen literarischen Rangs und seines unvergleichlichen Humors ein "verhinderter Volksschriftsteller" (Helmut Heißenbüttel) geblieben ist.

Wie die Forschung gezeigt hat, geht der große Solipsist umso stärker in seinen Büchern auf, je weiter er sich darin von der Realität entfernt: Der zunehmenden Abwendung von der Nachkriegs-Wirklichkeit entsprechen die wachsende Ichbezogenheit und Selbstinszenierung innerhalb eines stark autobiografisch geprägten Werkes. Zwar ist seine eigenwillige Poetologie der "Berechnungen" in den Erzählungen und Romanen beileibe nicht immer konsequent umgesetzt. Doch nähme der Autor tatsächlich einmal (wie schon in einem frühen Text erträumt) an Dichtergesprächen im Elysium teil, so sorgten seine Theorien dort gewiss für reichlich Gesprächsstoff. Etwa die vier Prosaformen, deren Ziel eine adäquate Abbildung von Bewusstseinsvorgängen ist. Seine Verwendung von mythischen Stoffen, die er als Tiefenstruktur zahlreicher Texte einsetzt. Seine skurrile Interpretation und Anwendung der Freudschen Psychoanalyse. Oder die im Monumental-Werk "Zettel's Traum" erstmals großspurig erprobte Etym-Theorie, welche die Phantasie der Leser zugleich fordert und beflügelt.

Dank der hervorragenden Editionsarbeit der 1981 von Alice Schmidt und Jan Philipp Reemtsma gegründeten Arno Schmidt Stiftung hat sich die ursprünglich kleine Schmidt-Gemeinde in den letzten Jahrzehnten zugleich erweitert und professionalisiert. Die erstklassige, nunmehr bald vor dem Abschluss stehende Bargfelder Ausgabe hat dazu geführt, dass sich heute unter Schmidt-Verehrern immer mehr ernsthafte Hermeneuten und immer weniger pedantische Entzifferer oder gar misanthropische Querulanten finden. Seit vielen Jahren durchgeführte Lesetourneen, weit verbreitete Hörbücher und zuletzt die schönsten vom Autor selbst aufgenommenen Heidefotos in einem opulenten Bildband tun ein übriges, um ein immer größeres Publikum für den Schriftsteller zu interessieren.

Gilt es in diesem Jahr gleich zwei Schmidt-Gedenktage zu begehen (neben dem 90. Geburtstag am 18. Januar auch den 25. Todestag am 3. Juni), so sollten wir uns freuen, dass es um den literarischen Nachlass dieses Sprachkünstlers so außerordentlich gut bestellt ist. Wer betrübt ist, dass der große Autor nicht mehr mitten unter seinen Lesern weilt, dem sei gesagt, dass er dies auch zu Lebzeiten kaum jemals getan hat. Arno Schmidt hat stets mit dem Rücken zum Publikum geschrieben und sein Leben verwendet, um uns, der Nachwelt, ein großes Geschenk zu machen: die Phantasiewelten seines Werkes.