Im Leben verschwinden

Marlene Streeruwitz und Anna Mahler

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ocean Boulevard. Santa Monica, L.A.. Palmen, dahinter ein sich aufhellender Himmel, das Meer dunkel, nur zu ahnen. Ein Schwarzweißfoto am Ende von Marlene Streeruwitz' Groschenheftchen-Roman "Lisa's Liebe". Hier, zwischen den Palmen von Santa Monica verliert sich Lisas Spur. Aus den Klammern der Arztroman-Idylle ist sie ins Leben hinaus verschwunden. Die letzte Seite verspricht eine Fortsetzung. Die könnte "Nachwelt" heißen.

"Hinter der Grünanlage mit den Palmen das Meer nicht zu sehen. Nur die Wolken vorne das Licht auffingen. Darunter Dunkelheit. Weit nach hinten. Sie fuhr auf Ocean Boulevard. Dann den Pfeilen nach zum Santa Monica Freeway. Freeway Number 10." In "Nachwelt" heißt "sie" nicht mehr Lisa, sondern Margarethe, ist 39 Jahre alt und soeben in Los Angeles angekommen. Margarethe ist Dramaturgin und Schriftstellerin aus Wien und hat sich in einem Apartment eingemietet, weil sie Interviews machen will zu einer Biographie von Anna Mahler, der Tochter Alma Mahler-Werfels. Das Schwarzweißbild füllt sich mit Farbe - Blau, Weiß, viel Orange. Von Donnerstag, den 1. März 1990 bis Samstag, den 10. März 1990, ist jeder Tag festgehalten: Zeitungholen am Morgen, Joggen am Strand, Einkaufen, Swimming-Pool, Autofahrten am Meer entlang und quer durch Los Angeles, Besuche im Haus der Anna Mahler, Interviews mit Annas Ehemännern und anderen Zeitgenossen, Rückkehr ins Apartment, die Weinflasche, Fernsehen, das Klappbett, das Zimmermädchen am Morgen. In der Tat also ein Reisebericht, der gerade durch die Wiederholung scheinbar banaler Tätigkeiten Alltagsintensität gewinnt. Für zehn Tage lebt Margarethe den kalifornischen Way of Life, "die Wochenendwelt voll sonniger Fröhlichkeit", Wärme, Lächeln überall, aber unter der schönen Oberfläche latente Gewalt, das alles bestimmende Geld. Und das "Medfly-Spraying": jeden Abend wird Gift gesprüht über die Stadt, wie eine ständige Erinnerung an Auschwitz. Diese scheinschöne Landschaft hat während des Krieges die Emigranten aufgenommen, auch Anna Mahler. "Wie war man da nicht verrückt geworden. Wie war Rettung zu ertragen. Wenn die Sonne so geglitzert und alles weiß und schimmernd und frisch und himmelblau."

Das Leben ist eine Reise, das Buch mehr als ein Reisebericht. Margarete nutzt die Chance, Illusionen auch in ihrem Leben aufzudecken, in jeder Beziehung Klarheit zu gewinnen. Helmut, ihr Freund, hätte eigentlich mitkommen sollen, blieb aber wegen seiner kranken Stieftochter zu Hause. Nun ist sie allein. Es beginnt das Spiel, das wir schon von Lisa und auch von Helene in Streeruwitz´ erstem Roman "Verführungen" kennen. Das Warten auf Nachricht von dem Mann, den sie zu lieben und zu brauchen glaubt, die Sehnsucht, der Zorn auf die Abhängigkeit, der Entschluß, sich zu befreien. Die abrupt wechselnden Stimmungen. Im Zentrum des Dramas steht das Telefon und der Anrufbeantworter - hat er angerufen, soll sie anrufen, blinkt das Gerät, will sie es hören oder legt sie lieber ein Kissen darauf. Dann versucht sie den direkten Kontakt mit Helmut zu vermeiden, und es klappt tatsächlich, die Entziehungskur funktioniert. Sie kommt auch allein zurecht, unternimmt gefährliche, aber gelingende Ausflüge, kleidet sich ein und um in eine neue Person. Wie in "Verführungen" ist das Auto ein Befreiungsvehikel. Margarethe verabschiedet sich von falschen Erwartungen. Es scheint möglich, allein einen illusionslosen Alltag zu leben. "Ganz schmerzlos an Wien denken konnte". Sie freut sich aufs Heimkommen.

Ihre Recherche gibt Margarethe reichlich Gelegenheit, das eigene Leben mit dem anderer Menschen zu vergleichen. Acht "Geschichten" von Zeitgenossen Anna Mahlers sind in den Text gefügt, Erzählungen alter Menschen, schwierige Schicksale, gezeichnet von Krieg, Verfolgung und Exil. Sie spiegeln Anna Mahlers Biographie aus jeweils eigenem Winkel. Der Leser muß sich sein Bild der Anna Mahler selber zusammensetzen. Margarethe ihrerseits erkennt ihr Projekt als Anmaßung und gibt es auf. Wie kann sie ein Urteil über ein anderes Leben fällen, wenn sie über ihr eigenes keine Auskunft erteilen kann. Auch ist sie dem Gegenstand ihrer Beschreibung "viel zu nah". Anna, die Tochter, von der lieblosen Mutter beherrscht, Anna, die Künstlerin, die sich ein Leben lang aus dem Schatten des großen Vaters herauszuarbeiten sucht, Anna, die Mutter, die mit ihren Töchtern wenig anzufangen weiß und als Frau mit ihren vielen Männern nie wirklich glücklich wird. Das veranlaßt Margarethe, nachzudenken über ihr eigenes Verhältnis zu Vater, Mutter, Tochter und Männern, und über die Möglichkeiten, die in diesem Jahrhundert einer Frau zu leben offen standen und stehen. Die Biographie schreibt sie nicht, aber sie hat Erkenntnis gewonnen.

Helene, Lisa, Margarethe. "Nachwelt" ist Marlene Streeruwitz´ 3. Folge im Ausbrechen der Frau aus der Idylle. Die Welt als Idylle (also schöner als sie ist, also wahrheitswidrig) zu beschreiben, bedeutet bei Streeruwitz, sich in die "Auftragskette des Patriarchats" einzureihen. In ihren Tübinger und Frankfurter Poetikvorlesungen entwickelt sie eine strikt subjektive Poetik aus Elementen ihrer eigenen Biographie, die wesentliche Bausteine auch ihrer Prosa sind. Der Roman "Nachwelt" selbst beruht auf einer autobiographischen Vorlage, die Interviews sind authentisch. Kern der Poetik sind Erfahrungen der "Nicht-Wertigkeit" einer als Mädchen Geborenen in einer patriarchalisch organisierten Welt. "Es war nie Platz gewesen. Außer, sie hatte ihn sich verdient. Sie war nie einfach so dagewesen." Der Ausweg: Anders denken. Eine eigene Sprache finden. Klarheit. Selbsterlösung durch Erkenntnis. Das ist ein langer Weg und nur in kleinen Schritten zu gehen. Lisa möchte ihr Gesicht lieber schön als intelligent genannt haben. Margarethe ist bereit, die Folgen des "Hinausschwingens über die eingestanzten Grenzen" zu tragen. "Mit den Ergebnissen weiblicher Erkenntnis saß man sehr allein da. Saß frau allein. Und es sah so aus, als wären fürs erste nur Verluste möglich. Wohl auch ein Stolz. Aber nur einem selbst bewusst. Ein einsames Wissen."

"Nachwelt" ist ein sehr klug konstruiertes Buch und in der Figur der Margarethe restlos überzeugend, wie sie sich beharrlich das Verliebtsein als Flucht vor dem Leben ausredet und das nötige Selbstbewußtsein ansammelt für den kommenden Alltagskampf. Margarethes Gefühlsverstrickungen haben durchaus auch eine komische Seite, die fortschreitende Selbsterkenntnis gibt den Männern mehr Luft zu atmen als zu Lisas und Helenes Zeiten. Kleine Ortswechsel in der Erzählerposition kennzeichnen wechselnde Gemütslagen. Wird sie von Gefühlen überflutet, kommt die Stimme von ganz innen. Dann wieder sieht sie sich von außen bei ihren Verrichtungen zu, wie im Film oder im Theater. Meist sieht sie ganz von sich ab und auf die Landschaft, die Menschen, in betroffener Offenheit. Eine dezente Bildersprache verbindet die behutsame Selbstbefreiung mit On-the-Road-Motiven. An Streeruwitz' eigenwillige Syntax gewöhnt man sich nach und nach: "Die Scheinwerfer der Autos. Im Strom des Abendverkehrs mitglitt. Dazugehörte. Nicht allein war. Sie hätte für immer so dahinfahren mögen. Im Fahren von allem entfernt. Aber auch nichts möglich. Erst die Ankunft wieder Wirklichkeit sein würde." Die Satzfragmente zwischen den Punkten, die sich nicht darum kümmern, ob sie Haupt- oder Nebensätze sind und wovon sie überhaupt abhängen, erscheinen nach wenigen Seiten als das Mittel der Wahl, Margarethes Lebenswirklichkeit in Worte zu fassen. Was allerdings Anna Mahler betrifft, so lohnt es sich noch, ergänzend in Canettis Erinnerungsband "Augenspiel" nachzulesen.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Nachwelt. Ein Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
420 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3100744241

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