Das verflixte erste Mal

Maximilian Steinbeis erzählt in "Schwarzes Wasser" von den Folgen einer Partynacht

Von Heike NiederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Nieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eingeschrumpelt und verrunzelt liegt er in seinem Bett, das weiße Gefieder von Haaren auf seinem Kopf steht wild in alle Richtungen ab, die gelbe Hand hält zitternd eine abgebrannte Zigarette. 98 Jahre ist er alt geworden, der Russe Serge Rybakow, und er hat ein Problem: Er kann nicht sterben. Denn es gibt da etwas, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt - eine Geschichte, so alt wie ein Menschenleben, hält ihn erbarmungslos fest und zieht ihn hinein, schon seit Jahren, in eine eigene Welt aus Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Diese Geschichte, das große Geheimnis der Familie, das niemand mehr weiß außer ihm, hat sich vor langer Zeit hier, in diesem Haus abgespielt, hier, wo jetzt die Geburtstagsfete der besten Freundin seines Enkels Wolodja steigt, und wo er, der Großvater, als pflegebedürftiger Greis in einem Anbau wohnt. Heute, in dieser Sommernacht, während draußen auf dem Fest halbstarke Jugendliche fieberhaft übereinander herfallen, erzählt er dem Partygast Albert, den er abwechselnd für seinen Enkel Wolodja, seinen Sohn Kostja und einen Dienstboten hält, diese eine Geschichte, die sein Leben prägte.

Es ist der erste Roman des 1970 in München geborenen Maximilian Steinbeis. Vor dem Erscheinen seines Buches habe er mit Literatur nicht mehr zu tun gehabt als viele andere, sagt Steinbeis. Gleichwohl war er mit seinem Beruf dem Schriftstellergewerbe nicht ganz so fern: Der studierte Jurist ist Politikredakteur des Handelsblattes. Sechs Jahre hat er an seinem Debütroman gefeilt, und nun liegt es da, das schmale Büchlein über Elisabeth, Wolodja, Albert, Katjuscha, kurz, über Probleme, die so alt sind, wie die Menschheit.

Zwei Geschichten erzählt dieses Buch, einmal die Geschichte von Elisabeth, die an ihrem 20. Geburtstag noch Jungfrau ist und das möglichst schnell ändern will, wenn möglich noch an diesem Abend auf ihrer Fete bei Wolodja. Sie hat sich auch schon einen Kandidaten für ihr erstes Mal ausgesucht: Albert. Dieser findet Elisabeth ebenfalls sehr anziehend, auch sie ist für ihn zunächst nichts weiter als ein Sexualobjekt: "Heute Abend ist sie fällig, die Kleine". Voller Spannung und Furcht erwartet Elisabeth also den Abend, die Nacht. Doch zu später Stunde ist Albert verschwunden. Er sitzt bei Wolodjas Großvater, der ihm sein Geheimnis anvertraut. Und diese lange Geschichte des Alten ist es, die Albert verändert.

Vor langer Zeit hat Serge Rybakow ein junges Mädchen geliebt, Katjuscha. Er war damals schon verheiratet, und doch hat er sich an dieses Mädchen, das ihn wohl auch sehr mochte, herangemacht. Sein Ziel war es, das Mädchen in das große Geheimnis der Liebe und Sexualität einzuführen. Doch es geschah das Unvermeidliche: Katjuscha wurde schwanger und die Schwangerschaft führte zur Katastrophe.

Die Parallelen zwischen den beiden Mädchen Katjuscha und Elisabeth sind unverkennbar: Rein äußerlich durch die pechschwarzen Haare und die widerspenstige Strähne, die ihnen immer wieder ins Gesicht fällt, ferner durch das rote Kleidungsstück, das beide fortwährend tragen: Elisabeth das Kleid, Katjuscha die Baskenmütze. Doch auch in ihrem Wesen sind sich die Mädchen ähnlich sowie in dem, was sie wünschen: Unsicher und doch bestimmt erwarten beide ihren großen Lehrmeister, der ihnen die Liebe zeigt. Zwei Generationen liegen zwischen den beiden Mädchen, doch ihre Geschichte ist noch viel älter. Liebe, Sexualität, erste Erfahrungen - das gibt es schon, seit es Menschen gibt.

Vielleicht hat der Autor auch deshalb ein in Träumen oft auftauchendes Symbol zum Titel seiner Erzählung gewählt. Denn in Träumen verarbeitet der Mensch seine ursprünglichsten Probleme, Erfahrungen, Ängste. Wasser verkörpert im Traum das eigene Seelenleben, schwarzes Wasser bringt dementsprechend seelisches Unbehagen, Unsicherheit, schlechtes Gewissen zum Ausdruck. Das Motiv des schwarzen Wassers begegnet uns in der Erzählung vier Mal. Das erste Mal in gefrorenem Zustand, da, wo Serge Katjuscha zum ersten Mal sieht, auf der schwarz schimmernden Eisfläche eines großen Sees. Gefrorenes Wasser wird im Traum oft als Gefahr gedeutet. Und wirklich, die Begegnung mit Serge wird für Katjuscha zum Verhängnis. Das zweite Mal kommt das Motiv in flüssigem Zustand vor, nämlich als Serge nach dem Sexualakt mit Katjuscha frühmorgens in das schwarz scheinende Wasser des Sees schwimmen geht. Doch "ich glitt über die gewaltigen Mengen Schwärze und Kälte unter mir hinweg. Sie galt nicht mir, sie konnte mir nichts anhaben." Serge hat also noch kein schlechtes Gewissen wegen des Mädchens, er weiß ja auch noch nicht, was die vergangene Nacht für Folgen mit sich bringen wird. Das dritte Mal begegnet dem Leser das Motiv des schwarzen Wassers in Form von Wasser in einer verstopften Dachrinne, hier dreckig und nach Fäulnis riechend. Das war "kurz bevor ihre Schwangerschaft entdeckt wurde." Das nach Fäulnis stinkende Wasser und der Beinahe-Absturz Katjuschas vom regennassen Dach kündigen die Katastrophe an.

Das letzte Mal erscheint das Motiv gegen Ende des Romans, als Elisabeth Albert nachts am schwarz daliegenden See antrifft. Albert kommt gerade vom Krankenbett des Großvaters. Er ist verwirrt und sieht sich betrogen in all seinen bisherigen Werten. "Es geht doch um folgendes, denkt Albert. Man muss furchtbar aufpassen. Man darf nichts falsch machen. Sonst liegt man am Ende zusammengekrümmt wie eine alte Echse da und stirbt nicht." Elisabeth geht schließlich in den See schwimmen, planscht und prustet. Sie ist glücklich. Ein gutes Omen. Und Albert? Nachdem er ebenfalls gesprungen ist, hat er plötzlich das Gefühl, dass "in seinen Leib sofort die schwarze, kalte Stille des Wassers eindringt." Er hat Angst zu ertrinken. Doch es ist klar, was ihn eigentlich bedrückt: Er ist unsicher nach dem Gespräch mit dem Großvater; plötzlich ist alles anders, die Welt ist nicht mehr so einfach, wie sie vorher schien. Gewissensbisse plagen ihn, denn vor der Unterhaltung mit dem Alten waren Frauen für ihn nicht mehr als eine Lustbefriedigung.

Doch nicht nur die Symbolik der Geschichte ist der Traumdeutung entlehnt, auch die Sprache des Buches hat in ihrer Poetik gelegentlich etwas träumerisches. Besonders den Anfang der Erzählung gestaltet der Autor wie einen Traum. Er nimmt den Leser an die Hand und schwebt mit ihm durch das Haus, in dem wenig später das Geschehen stattfinden wird. Die einzelnen Sätze gehen bruchlos ineinander über - genau wie Traumbilder miteinander verschmelzen - eineinviertel Seiten lang sind sie nur durch Kommas voneinander getrennt. Der Leser ist vollständig in die Geschichte integriert, es ist sein Traum, der da erzählt wird, und er hat sogar Einfluss auf das Geschehen: Nachdem er zusammen mit dem Autor die Balkontür in Wolodjas Zimmer geöffnet hat, erwacht dieser. Die Erzählperspektive wechselt, und der Leser sieht und fühlt plötzlich nur noch mit Wolodja. Und wenig später mit Elisabeth. Dann mit Albert.

Auch die Figuren des Romans sind klar gezeichnet. Besonders interessant: Die Darstellung der meisten Männer als selbstsüchtige, von ihren Trieben bestimmte Wesen. Bemerkenswert zum Beispiel die Gestaltung des Künstlers Breickemeyer, der seine Braut bei der Hochzeit im Rahmen einer Performance als "lebendes Geschoss" in einen See katapultieren wollte. Oder der alternde Kinderbuchautor Eugen von Cassius, der scharf auf Elisabeth ist und sie bis zu ihrer Geburtstagsparty verfolgt. Eine der wenigen Ausnahmen dieses notgeilen Männerzirkus' bildet Wolodja, der Elisabeth selbstlos liebt. Sexualität spielt in dem Buch also eine große Rolle, im besonderen Sexualität im Verhältnis zur Liebe. Geht Sex ohne Liebe? Wo Liebe ist, muss da auch Sexualität sein? Oder wirkt letztere, wie im Fall Serge-Katjuscha, oft auch zerstörend in einer Liebesbeziehung?

Alles in allem also ein wohlkomponiertes Büchlein mit interessanter Personenzeichnung. Was fehlt, sind die Ereignisse. Zwar ist die Beschreibung der Party und deren Besucher nicht langweilig, da die gute Beobachtungsgabe des Autors immer wieder verblüfft, trotzdem wartet man ununterbrochen darauf, dass endlich was passiert. Ebenso in der Erzählung des Großvaters. Die eigentlichen beiden Ereignisse, um die sich die Erzählung windet, nämlich das Schicksal Katjuschas und das erste Mal Elisabeths, sind ausgespart. Am Schluss ist man beeindruckt, aber nicht begeistert.

Titelbild

Maximilian Steinbeis: Schwarzes Wasser. Erzählung.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
141 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 340650969X

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