Alles ist Spiel

Milan Kunderas Theater-Variation von Diderots "Jacques le Fataliste"

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte von Jacques dem Fatalisten und seinem Herrn ist nicht eigentlich eine Geschichte. Die beiden reisen zu Pferde durch unbestimmte Gegenden, wohin und warum, erfährt man nicht, und erleben nichts Bestimmtes. Diderots Roman von 1793 ist, nach "Don Quijote" und "Tristram Shandy", der dritte große Anti-Roman der Weltliteratur, stringente Handlung, realistische Illusion und psychologische Wahrscheinlichkeit konsequent verweigernd.

Diesem "Fest der Intelligenz, des Humors und der Phantasie" hat Milan Kundera bereits 1971 ein Denkmal gesetzt, indem er, zuerst auf Tschechisch, ein Theaterstück schrieb, das eine Variation ist, eine Hommage an den bewunderten Text. Kunderas "Jacques und sein Herr" erschien erstmals 1981 in Frankreich, 1992 dann auf Tschechisch, jetzt also beim Hanser Verlag auf Deutsch.

Viele Beitexte hat der Autor um sein Stück gestellt, ein Vor- und zwei Nachworte von ihm selbst, ein weiteres Nachwort von François Ricard - mit dieser erheblichen interpretatorischen Vorlage geht er auf Nummer sicher, betont fortgesetzt die Dignität seines Unterfangens, zerstreut vorauseilend jeden Verdacht des bloß verkleinernd-imitierenden Adaptierens - reader's digest ist es nicht und will es nicht sein.

Zwar könnte sich der mündige Leser dadurch bevormundet fühlen, aber die gesteigerte Vermitteltheit entspricht dem Geist des Stücks. Schon Diderots Roman stellt die Vermittlung jeder literarischen Fiktion, das Erzählen, in revolutionärer Weise aus: Durch Fiktionsdurchbrechungen in Form von Leseransprachen, durch die Einführung des Erzählens auf zweiter Ebene: Ein Großteil der ,Handlung' findet nämlich in Erzählungen statt, von Jacques, seinem Meister, von deren Autor, von Nebenfiguren. Mit der Theatervariation durchläuft die Romanvorlage eine weitere Vermittlungsinstanz, und die Tatsache, dass das Stück zum Lesen veröffentlicht wurde, man sich also Bühne und Verhalten der Figuren anhand der Regieanweisungen vorzustellen hat, stellt das vorletzte Glied in dieser Abstraktionskette dar, vor den theoretischen Umrahmungen. Ohnehin ist Kundera sein Text als Lesestück lieber als aufgeführt, weil die geschehenen inszenatorischen Freiheiten, Abweichungen vom Text und von der vorgeschriebenen Schlichtheit der Ausstattung, für ihn allesamt Verhundsungen waren.

Das Vermittelte am Erzählen betont Kundera, indem er die beiden Erzählebenen visualisiert: Auf der vorderen, unteren Bühnenebene spielt die Primärhandlung, erhöht und weiter hinten das Geschehen aus den Figurenerzählungen. So wird das Erzählen im Erzählen zum Theater im Theater, und weil unten eigentlich nichts geschieht als Rahmenhandlung fürs und Kommentar des oben Gegebenen, Kundera also die Reiseepisoden radikal zurückstutzt, streicht er das Primat des Erzählens und die Absurdität der Reise noch besonders heraus - damit erinnern Jacques und sein Herr an Wladimir und Estragon, wie auch das offene bzw. das Nicht-Ende, an Stelle der drei Alternativschlüsse im Roman, das Stück nah an Becketts Nichts rückt - die Reise ins Nirgendwo wird einfach weitergehen.

Weit war es freilich nicht von diesem so weitgehend dialogisch angelegten Roman zum Theater. Im Diderot-Text sind den Dialog-Repliken bereits in Theater-Manier die Rollenzuweisungen "Jacques:" und "Der Herr:" vorangestellt; es gibt Beiseitesprechen und Beschreibungen, die wie Regieanweisungen sind. Was jetzt gattungsgemäß wegfallen muss, ist die Figur des Erzählers, die bei Diderot ohne Hehl ihre Autorfunktion eingesteht und sie willentlich ausspielt. Die Leseransprachen übernehmen hier die Figuren und wandeln sie in Publikumsansprachen um, stets im Bewusstsein ihrer eigenen Fiktionalität - "Was schauen die uns alle an?" fragt Jacques, den Text eröffnend, und direkt: "Können Sie nicht woanders hinschauen?", darauf sein Herr, er solle einfach so tun als sei niemand da.

Auch in ihren eigenen Erzählungen erinnern die Figuren immer wieder an den Erzählakt, der dem Erleben ja nachgeordnet ist - indem sie ständig abschweifen und sich unterbrechen. Dabei springen sie zwischen erster und zweiter Bühnenebene hin und her, wenn sie vom Kommentar zum nachgespielten Erleben wechseln. Auch kommt es zu gekreuzten Dialogen, die die Parallelität von Jacques' und des Meisters Erlebnissen zeigen, und überhaupt zu allerlei Grenzüberschreitungen. In der großen Liebes- und Rachegeschichte, die die Wirtin eines Gasthauses erzählt, spielt diese die Rolle ihrer Protagonistin Madame de La Pommeraye - hernach wird die Wirtin von Jacques und Meister wiederholt mit ihrer Rolle der adligen Rächerin verwechselt, so groß ist andererseits, bei all den Illusionsstörungen, die Evokationskraft des Erzählens. Erzählungen treten in Konkurrenz zueinander und sogar zum Erleben - der Meister vertagt einmal seinen eigenen aktuellen Eifersuchtskonflikt auf später, weil er zuerst hören will, wie es mit Jacques weiterging. Auch Begehren lässt sich allein durch Erzählungen erzeugen: "Je mehr du mir von ihr erzählst, um so verrückter bin ich nach ihr."

Die erstaunliche erotische Freizügigkeit ist einer der thematischen Pfade, die Kundera von Diderot aufgreift und akzentuiert (nicht zu vergessen: Diderot ist auch der Verfasser des Romans "Die geschwätzigen Kleinode", den ersten Vagina-Monologen der Literaturgeschichte.) - Kundera-Diderot unterstreichen dabei den Zusammenhang zwischen der unumwundenen Libido der Figuren und dem Vergnügen der Leser respektive Zuschauer. Eine Quelle von Komik sind auch die absurden Kausalketten Jacques, der sich verliebt hat, weil er eine Kugel ins Knie bekam - dazwischen liegt, versteht sich, ein ganzer Rattenschwanz von Ereignissen. Jacques' Fatalismus, der im Roman titelgebend ist, aber auch da schon nicht im Sinne einer ernsthaften philosophischen Diskussion, steht bei Kundera vollends im Dienst der Referentialität - verweist doch Jacques schriftmetaphorischer Lieblingssatz, dass alles, was passiert, schon da oben geschrieben stand, hier deutlich auf den Diderotschen Vortext - bei der Wahl der Speisen etwa haben die Herren gar nicht zu überlegen, so die Wirtin: "Es steht geschrieben, daß Sie Ente, Kartoffeln und eine Flasche Wein nehmen."

Das trifft ins Herz des Ganzen, die Variation. Vielfach sind die Spiegeleffekte innerhalb des Textes und zu seinen Bezugstexten: Kundera variiert Diderot, dessen "Jacques" wiederum Sternes "Tristram Shandy" variiert; Kundera bezieht sich außerdem in Anspielungen auf seine eigenen Romane, die oft und nicht zufällig nach dem musikalischen Prinzip der Variation gebaut sind. Vor allem aber entspricht das alles der Poetik des Romans, weil all die erzählten Geschichten einander variieren: Jacques macht einen Freund zum Hahnrei, der Herr wird von einem Freund zum Hahnrei gemacht; die vom Herrn begehrte Agathe gleicht wiederum der zur Rache benutzten Hure aus der Geschichte um Madame de La Pommeraye und so fort. "Ist es nicht immer dieselbe unwandelbare Geschichte?" fragt der Herr, und er hat Recht.

"Alles, was hienieden geschehen ist, wurde schon hunderte Male neu geschrieben", sagt Jacques zu seinem Meister in einem Gespräch über Kunderas Neufassung ihrer selbst. Es ist die entscheidende Erkenntnis. Eine Erstoriginalität kann es gar nicht mehr geben, im Grunde ist alles, was geschieht und geschrieben wird, eine Variation der existentiellen Themen Liebe, Eifersucht, Treue, Verrat. Die Freiheit entsteht einzig mit dem Bewusstsein von der Wiederholung. Eine Freiheit, die Spiel ist, und Humor, und Moderne, bei Kundera wie bei seinem Meister Diderot.

Titelbild

Milan Kundera: Jacques und sein Herr.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Aumüller.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
129 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446203699

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