Deutschland einig Superstar

Ein Sammelband widmet sich dem "Subjekt (in) der Berliner Republik"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Land wird nicht mehr an der Heimatfront in Marsch und Heide verteidigt, sondern auf dem Balkan und am Hindukusch". Was auf den ersten Blick wie ein NS-Wochenschau-Zitat anmutet, stand so am 21.05.2003 im "Weserkurier" zu lesen. Keine Frage: Das Selbstbild der Berliner Republik hat sich radikal gewandelt. Manifestationen nationalen Selbstbewusstseins, die noch vor wenigen Jahren einen Aufschrei der Empörung in der geschichtsbewussten "Zivilgesellschaft" ausgelöst hätten, sind längst zur Normalität geworden.

Das politische Ziel, wieder "Verantwortung in der Weltpolitik" zu übernehmen und sich als "Standort Deutschland" einen der vorderen Plätze des Weltmarkts zu erkämpfen, geht mit verschiedenen Zurichtungen der bürgerlichen Subjekte einher. Sie betreffen das Geschlechterverhältnis und das Sexualverhalten, äußern sich in gewandelten deutschen Strategien kollektiver Schuldabwehr nach 1945 und bestimmen die Manifestationen der Kulturindustrie. Fernseh-Hypes wie "Big Brother" und "Deutschland sucht den Superstar" liefern ein popkulturelles Spiegelbild der Bedürfnismanipulationen innerhalb der Subjekte eines Landes, das hoch hinaus will.

Der Sammelband "Subjekt (in) der Berliner Republik" versucht in neun Aufsätzen einen panoramatischen und analytischen Überlick über die Entwicklung dieses deutschen Wandelungsprozesses zu geben. Die Beiträge entstanden anlässlich des gleichnamigen Berliner Kongresses im Sommer 2002. Sie wurden für die Veröffentlichung aktualisiert und befinden sich auf der Höhe des akademischen Forschungsstandes, behelligen den Leser jedoch keineswegs mit riesigen Fußnotengebirgen oder universitärem Fachjargon.

Thomas von der Osten-Sacken und Andrea Woeldike befassen sich mit der "Wiederkehr des kolonialen Blickes unter umgekehrten Vorzeichen". Die Autoren kritisieren antiamerikanische und antisemitische Bewegungen, wie sie in der BRD auch in der Linken zusehends an Boden gewinnen, in ihrer paradoxalen Verknüpfung mit der historischen Entwicklung antikolonialer Diskurse. Die hartnäckige linke Begeisterung für "Befreiungsbewegungen" und "unterdrückte Völker" wird hier als Speerspitze derjenigen nationalistischen, chauvinistischen und stammestümelnden Zwangsethnifizierung enttarnt, die ursprünglich durch antikoloniale Revolutionen beseitigt werden sollte. Die völkische Destabiliserung staatlicher Strukturen, wie sie islamistische Organisationen etwa gegen Israel durchzusetzen versuchen, mündet so in jene bereits von Adorno diagnostizierten "irrationalen Missbildungen destruktiver und selbstzerstörerischer Art", die die bösartige Vorherrschaft fremder Mächte allüberall imaginiert und in den aktuellen Selbstmordattentaten der Palästinenser einen extremen Ausdruck erfährt.

Diese Irrationalität stößt jedoch gerade in Deutschland auf massenhaftes Verständnis, wie von der Osten-Sacken und Woeldike zeigen. Sie beherbergt große Identifikationspotentiale für einen in der Berliner Republik abermals hervorbrechenden Antiamerikanismus und Antisemitismus, wie er sich in der "Friedensbewegung" gegen den Irak-Krieg auf unappetitliche Weise zu erkennen gab.

Christine Kirchhoff zeigt in ihrem Beitrag zur kollektiven deutschen Schuldabwehr von 1945 bis heute zudem, dass diese begeisterte Identifikation mit halluzinierten islamischen Opfervölkern auch damit zu tun hat, dass sich die Deutschen selbst frühzeitig aus der NS-Täter- in die Opferrolle hineinimaginierten, um sich nun endlich auf der 'richtigen Seite' zu wähnen. "Aus den Kindern der Tätergeneration wurden Experten für drohende Vernichtung: selbstverständlich in dem Sinne, dass Deutsche von nun an überall in der Welt gehalten sind, ein neues Auschwitz zu verhindern. Nicht trotz, sonder wegen Auschwitz wird Krieg geführt, nicht trotz, sondern wegen des Nationalsozialismus werden die Maßnahmen zur sogenannten inneren Sicherheit hochgefahren, Bürgerrechte werden abgebaut, um die Demokratie zu retten. [...] Die Deutschen scheinen nach wie vor nicht sonderlich an der Erhaltung liberal-demokratischer Staatlichkeit interessiert zu sein und genausowenig mit ihr identifiziert".

Diese enthusiastische Begrüßung staatlicher Beschneidungen der subjektiven Freiheit äußert sich, wie der Band mit seinen abschließenden Beiträgen untermauert, bis in die privatesten und intimsten Gefühlsvorgänge hinein. Frauen etwa greifen die unerfüllbare Anforderung, sowohl in ihrer althergebrachten Mutterrolle zu funktionieren, als auch als karrierebewusste Dienstleisterin auf dem Arbeitsmarkt reüssieren zu müssen, plötzlich dankbar als Möglichkeit zur Emanzipation auf. Dass die permanente Selbstkontrolle bei der Planung eines Kindes noch die Partnerbeziehung zur "Arbeit" macht, wird allen Ernstes als Beleg für die gewachsene weibliche Selbstbestimmung im Gefühlsleben begriffen: "Frau, egal, ob sie sich bewusst zur Mutterschaft bekennt oder ausdrücklich gegen Kinder entscheidet, wähnt sich mit ihrer authentischen Wahl meilenweit von gesellschaftlichen Zwängen und Anforderungen entfernt und arbeitet paradoxerweise gerade dadurch an deren Durchsetzung mit", analysiert Andrea Trumann in ihrem Beitrag "Weibliche Subjektwerdung im Spätkapitalismus".

Zuletzt zeigt Frank Dirkopf in seinem Aufsatz über neue Markterfolge der Kulturindustrie ausgehend von Sendungen wie "Deutschland sucht den Superstar", dass die markttechnische Kolonialisierung der Subjekte mittlerweile auch hier ins Gefühlsleben selbst vorgedrungen ist. "Es reicht nicht mehr, nur noch (vielleicht sogar murrend) die Arbeit faktisch brav zu tun, sondern man muss 'wirklich' Lust beim Arbeiten haben, die ganze Gefühlspalette mit in die Waagschale werfen", schreibt Dirkopf. Mit kritischer Distanz sei die Realität des Berufslebens heute kaum mehr zu meistern. Vollkommen unabhängig von den vertretenen Inhalten soll das Subjekt sein "High Involvement" in allen Lebenslagen dokumentieren.

So erhellend die Beiträge des Bandes sind, so niederschmetternd stellt sich das Gesamtbild der derzeitigen Verfasstheit der bundesdeutschen Verhältnisse dar, die sie nachzeichnen. "Der Druck, unter dem die Menschen leben, ist derart angewachsen, daß sie ihn nicht ertrügen, wenn ihnen nicht die prekären Leistungen der Anpassung, die sie einmal vollbracht haben, immer aufs neue vorgemacht und in ihnen selber wiederholt würden", schreibt Adorno in seinem "Prolog zum Fernsehen". Diesen medialen Wiederholungszwang im Dienste der Zurichtung des Subjekts mittels Erlangung eines hellen Bewusstseins zu durchbrechen, bleibt die einzige Chance, sich noch so etwas wie eine letzte subjektive Freiheit zu bewahren. Der vorliegende Band leistet einen Beitrag dazu.

Titelbild

Subjekt (in) der Berliner Republik. Zu den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität.
Herausgegeben von der initiative not a love song.
Verbrecher Verlag, Berlin 2003.
208 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3935843313

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