Variationen über ein altes, aber allzeit aktuelles Thema

Jean-Claude Bolognes Versuch, eine Geschichte des Schamgefühls zu schreiben

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was empfand die französische Königin Marie Antoinette, als sie während eines Levers längere Zeit im völlig entkleideten Zustand darauf warten musste, dass ihr das Hemd gereicht wurde? Dieser Dienst war das Vorrecht der ranghöchsten unter den anwesenden Hofdamen, und das zweimalige unvorhergesehene Eintreten jeweils ranghöherer Damen führte dazu, dass das Hemd durch mehr Hände als üblich ging, bevor es zur Königin gelangte. Dass sie daraufhin mit Unmut reagierte, ist bezeugt. Doch tat sie es, weil sie fror oder weil sie sich ihrer Nacktheit schämte? Letzteres hätte nicht der Fall zu sein brauchen: Die Etikette sah für König und Königin keine Intimsphäre vor, und ihre Nacktheit scheint nicht schambesetzt gewesen zu sein. Doch vielleicht hatte am Ende des 18. Jahrhunderts die Etikette ihre gefühlsprägende Kraft verloren und die Königin empfand bereits so etwas wie "bürgerliche" Scham?

Während die Souveränität des absoluten Herrschers ihn sogar der Körperscham enthob, weckte die Nacktheit des Fleisch gewordenen Gottes peinliche Gefühle: Die Genitalien des gemarterten und gekreuzigten Christus waren weitgehend tabu. Der faltenreiche Lendenschurz, das perizonium, war selbstverständlicher Bestandteil der Kreuzigungs-Darstellungen. Wie peinlich der Gedanke an das Geschlechtsorgan Christi im Laufe der Zeit wurde, zeigt der Umgang mit den heiligen Präputien, d. h. den Reliquien, die einst als Vorhaut des beschnittenen Jesuskindes verehrt wurden. Sie fielen der Verschwiegenheit anheim.

Welche Unterwäsche trugen Tänzer und Tänzerinnen, um den Anblick intimer Körperteile zu verwehren bzw. zu ersparen? Das Publikum und mehr noch die gesellschaftliche oder staatliche Instanz, welche glaubte, über seine Moral wachen zu müssen, waren zeitweise so prüde, dass nicht nur die freizügige Zurschaustellung körperlicher Reize Anstoß erregte, sondern man selbst die Wörter für die entsprechenden Körperteile mied und ähnlich klingenden Vokabeln auswich - eine Homonymenfurcht, die besonders den Historikern der französischen Sprache vertraut ist.

Man könnte lange fortfahren, derartige Details aus der von Bologne ausgebreiteten beeindruckenden Materialfülle zu referieren. Sie sind unterhaltsam und werfen Schlaglichter auf sitten- und mentalitätsgeschichtliche Befindlichkeiten. Nichtsdestoweniger ist die Lektüre auf die Dauer unbefriedigend; denn die Einzelheiten werden nicht in eine gedanklich stringente Beziehung zueinander gebracht. Die Arbeit reiht Variationen über ein altes, aber allzeit aktuelles Thema aneinander und verliert sich dabei im Vielerlei. Der Untertitel sollte nicht täuschen: Chronologie allein ergibt noch keine Geschichte. Außerdem verheddert sich der chronologische Leitfaden zu oft, weil die Mentalitätsgeschichte nicht nur geradlinig, sondern auch zyklisch verläuft. Der Versuch, zwischen den einzelnen Kapiteln eine plausible Verbindung herzustellen, gelingt bestenfalls ansatzweise; innerhalb der Kapitel sind die Übergänge sprunghaft.

Die Mängel der Darstellung haben ihre Ursache nicht zuletzt in dem Fehlen einer tragfähigen allgemeinen These, von Theorie ganz zu schweigen. Zwar gibt es hin und wieder verallgemeinernde thesenähnliche Behauptungen, doch gelingt keine hinlängliche Verknüpfung mit dem Konkreten, und sie sind, was noch ärgerlicher ist, nicht frei von Faselei. Das gilt auch für die an und für sich begrüßenswerten Versuche, zwischen verschiedenen Arten des Schamgefühls zu differenzieren. Der Sinn mancher Sätze erschließt sich auch nach längerem Überdenken nicht. Vielleicht ist die Übersetzung mitverantwortlich. Sie macht insgesamt keinen guten Eindruck. Eine Stilblüte wie "Im 19. Jahrhundert steht das gemeinschaftliche Schlafzimmer gewissermaßen auf der Abschußliste." oder ein Komparativ wie "tief sitzendere Angst" stimmen bedenklich. Ein aufmerksamer Lektor wäre vonnöten gewesen.

Die theoretische Unbekümmertheit, mit der Bologne sein Thema behandelt, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass er die Arbeiten von Norbert Elias unberücksichtigt lässt. Wer über die Geschichte von Peinlichkeitsempfindungen schreibt und sich dabei vorwiegend auf die französische Entwicklung vom Mittelalter zur Moderne bezieht, hätte Elias' "Prozeß der Zivilisation" und seine "Höfische Gesellschaft" zur Kenntnis nehmen müssen. Gleichfalls übergangen wird Hans Peter Duerrs "Mythos vom Zivilisationsprozeß", dessen erste vier Bände beim Erscheinen von Bolognes Buch bereits vorlagen. Duerr ist zwar der theorieskeptische Antipode von Elias, aber vom ihm wäre zu lernen gewesen, dass kulturgeschichtliche Quellen nicht unkritisch gelesen werden dürfen. Der Quellenwert etwa dessen, was der Florentiner Humanist Poggio Bracciolini über den Besuch in einem Schweizer Bad schreibt, wird von Duerr weit niedriger veranschlagt als von Bologne. Überhaupt geht Bologne mit seinen Quellen großzügig um: Der Inhalt z. B. der zweiten der "Hundert Neuen Novellen" muss zurecht gebogen werden, damit er passt. Manche Quellen bleiben im Dunkeln, sofern überhaupt aus Quellen gearbeitet wurde. Eher scheint Bologne bereits vorliegenden Arbeiten zu folgen, und die merklichen Qualitätsunterschiede innerhalb seines Buchs dürften sich durch die Qualitätsunterschiede der von ihm konsultierten Literatur erklären.

Kein Zweifel, Bologne bietet viel Information; doch die Nonchalance, mit der er konzipiert und formuliert, weckt Zweifel an der Seriosität. Nichts gegen Populärwissenschaft; aber manche Formulierungen sind allzu flott und deswegen schief, wenn nicht gar falsch, und manche Witzeleien, zu denen das Thema verführt, allzu billig. Auch fragt man sich, was von der historischen Bildung eines Autors zu halten ist, der schreibt, dass Mme de Maintenon, eine "höchst gefährliche Prüde", Frankreichs Thron bestiegen und Königin geworden sei. Ist das Ignoranz oder nur eine saloppe Art, die Bedeutung zu betonen, welche der geheimen Ehe Ludwigs XIV. mit seiner Mätresse für das moralische Klima am französischen Hof um 1700 zukommt?

Nahezu verstimmen kann das Urteil über Diderot: Im "Salon de 1765" macht dieser einige abwertende Bemerkungen über die Person und die Bilder des Hofmalers Boucher, die, aus dem Kontext gelöst, nach kleinlicher Sexualmoral klingen könnten. Doch sie berechtigen keineswegs zu der Behauptung, dass Diderots "bürgerliches Empfinden an Prüderie" grenze und er der "Prototyp jener tugendhaften und konformistischen Bürger, die die Revolution machen werden," gewesen sei. Andere Texte Diderots sprechen eine andere Sprache. Hier sei lediglich an den "Supplément au Voyage de Bougainville" erinnert. Bereits der Untertitel bringt den für das Thema "Sexualscham" entscheidenden Gesichtspunkt zur Sprache: "l'inconvénient d'attacher des idées morales à certaines actions physiques qui n'en comportent pas". Wie zeitbedingt die Ansichten des Aufklärers auch sein mögen, verglichen mit seiner Konsequenz und Radikalität - Promiskuität wird mehr oder weniger empfohlen und selbst der Inzest gebilligt -, wirken Bolognes Ausführungen brav und konformistisch. Mehr implizit als explizit vertritt er das Ideal einer Mitte zwischen Prüderie und Schamlosigkeit. Das mag für die Praxis wünschenswert sein; doch es dient nicht der intellektuellen Schärfe, die notwendig ist, um die Problematik eines Gefühls zu erfassen, das im individuellen wie im sozialen Leben eine zentrale Rolle spielt.

Titelbild

Jean Claude Bologne: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls.
Übersetzt aus dem Französischen von Rainer von Savigny und Thorsten Schmidt.
Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar, Weimar 2001.
480 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3740011386

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