Chronik des Naheliegenden

Jürgen Beckers "Schnee in den Ardennen" zelebriert die Lakonie eines "Journalromans"

Von Phillipp SaureRSS-Newsfeed neuer Artikel von Phillipp Saure

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Schnee in den Ardennen", das klingt ein bisschen nach Abenteuer, und wohl nicht nur, weil gleich der "Schnee auf dem Kilimandscharo" ins Bewusstsein rieselt. Auch "Ardennen" hat einen schönen und etwas exotischen Klang, als müssten sie eigentlich vom Rheinland, von Deutschland viel weiter weg sein. Außerdem ist bekannt, daß hier im Winter '44 die letzte große deutsche Offensive im zweiten Weltkrieg scheiterte. Hat Jürgen Becker, der 1932 in Köln geboren wurde, mit seinem 'Journalroman' vielleicht einen heimatlichen Kriegsbericht geschrieben? Gleich die erste Eintragung stellt dem Leser jedenfalls eine Schar US-Soldaten vor Augen. Mit der Abendsonne im Rücken dringt sie durch eben jene winterlichen Ardennen vorwärts. Dreifach länger als die Männer sind ihre Schatten, und um sie herum lauert der Tod in Gestalt der 15. Panzergrenadierdivision. Aber der Krieg liefert für dieses Mal kein buchfüllendes Geschehen. Vielmehr ist er schon von Anfang an als Distanziertes, Beobachtetes ausgewiesen und eingeordnet: Die Soldaten sind Gestalten auf dem Foto eines berühmten Kriegsfotografen; das Foto ist dem Ich-Erzähler irgendwo durch Zufall wieder in die Hände gekommen, und jetzt beschreibt er es.

Dass Becker auf die Zufälligkeit des Foto-Fundes aufmerksam macht, ist wiederum kein Zufall, denn Zufälligkeit (oder vermeintliche Zufälligkeit) ist auch ein Prinzip, das seinen "Journalroman" strukturiert. Der handelt nämlich zumindest zu Beginn immer von dem, was dem Erzähler gerade ins Blickfeld gerät, was er im Radio oder anderswo zu hören bekommt. Nach dem eingangs beschriebenen Foto sind das beispielsweise ein Busfahrplan, die vor dem Scheunentor sitzende Katze, Wettermeldungen oder das Heulen der Dorfsirene, auch der Krieg kommt wieder vor, als Erinnerungsfetzen an Einquartierungen etwa. Alles das unspektakuläre Beobachtungen oder, passivischer noch, protokollierte Wahrnehmungen. Manches Mal schließt sich eine Abschweifung an, die unangestrengt ins Allgemein-Menschliche entführt, ohne sich darin zu verlieren. Unter meistens prosaischen, manchmal nur phantasievollen Namen - "Rehe in der Nähe", "Lärmschutzfristen", "Die Spinnen des Radardenkers" - werden die einzelnen Stücke präsentiert. Kostprobe: "Sonntagnachmittag. Das Telefon meldet sich, aber statt der Stimme des Anrufers höre ich Geraschel, vielleicht von Laub, vielleicht Papier; ich sage ein paar Mal hallo und warte ab. Das Rascheln geht weiter, dann läßt es nach, wird leiser und leiser, bis es aufhört und ich anfange nachzudenken, wie das, was der Anrufer mit seinem Geräusch hat sagen wollen, sagbar wäre mit dem Geräusch seiner Stimme."

"Sonntagnachmittag" ist ein repräsentatives Beispiel für Beckers feine Überleitungen von Wahrnehmungen zu Reflexionen. Diese Finesse macht es zuweilen nicht leicht, unter dem ersten Eindruck zu entscheiden, ob man eine bloß schön eingekleidete Binsenweisheit gelesen hat oder eine sinnige Bemerkung. "Wenn Krisengebiete aus den Nachrichten verschwinden, denkt man gleich, die Krise ist behoben." - das ist nicht besonders scharfsinnig, hingegen "Die Erdkunde tröstet. Am Ende gibt jeder große Strom seinen Namen ab." - sicher der Notiz wert.

50 Seiten füllt in der Mitte des "Journalromans" eine zusammenhängende Handlung, der Romananteil, wenn man das so schnöde aufteilen darf. Hier wird in der dritten Person erzählt, von Jörn, der allerdings auch vorher und nachher und zumal in den letzten Werken von Becker vorkommt. Jörn seinerseits beschäftigt sich mit dem Schicksal von Achim alias Micha, der sich geheimnisvoll aus seinem Leben an der Ostsee gestohlen hat, um auf einer Insel im Mittelmeer wieder aufzutauchen. Im Gegensatz zu den vorausgehenden und nachfolgenden Miniaturen wird um dieses Verschwinden und Wiederauftauchen ein klassischer Spannungsbogen geknüpft. Gerade darum ist es der schwächere Teil des Buches, 'verrät' er dessen Eigenart, nicht zuletzt, weil sich der Eindruck der einzelnen Sätze und Wörter unter der Aufmerksamkeit für die Handlung verflüchtigt.

Überhaupt, die Sprache. Lakonisch wäre schon zuviel gesagt. Jürgen Becker hat jahrzehntelang fast nur Gedichte geschrieben, und das merkt man seinem "Journalroman" an (wenn man es weiß, natürlich). Die Sprache in "Schnee in den Ardennen" ist jedenfalls so ostentativ unaufgeregt, dass sie im Effekt wieder anregt zum genauen Lesen. Besonders gelungen klingt sie, wenn ihre Künstlichkeit durch einen Hauch umgangsprachlicher Umständlichkeit wieder gebrochen wird: "Die Schneeschaufel, die an der Wand lehnt, jetzt kann sie in den Geräteschuppen wandern."

Titelbild

Jürgen Becker: Schnee in den Ardennen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
186 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518414585

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