Am liebsten einen Harem

Konstanze Fliedl gibt eine Essay- und Aufsatzsammlung renommierter Schnitzler-Forscher heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Phantasien, denen sich zahlreiche Männer gerne hingeben, gehört es sicherlich, Herr über einen mit schönen und stets willigen Frauen bestückten Harem zu sein. Auch Arthur Schnitzler hing dieser Phantasie gerne an. "Sag ich mir die Wahrheit: das liebste wär mir ein Harem; und ich möchte weiter gar nicht gestört sein", gestand er sich ein. Ausgegraben wurde das Zitat von Evelyne Polt-Heinzl, die es ihrem Aufsatz über Liebesbriefe in Schnitzlers Leben und Werk als treffendes Motto voranstellt. Ihr anregender Text findet sich in einer von Konstanze Fliedl herausgegebenen Essay- und Aufsatzsammlung renommierter Schnitzler-Forscher, die Wirken und Wirkung des Wiener Autors im 20. Jahrhundert beleuchtet. Denn, so die Herausgeberin, Schnitzlers Texte seien von "ungeminderte[r] Brisanz".

Gotthart Wunberg, der anhand einiger Texte Schnitzlers das Verhältnis von Kultur- und Literaturwissenschaft austariert, findet in Schnitzlers Œuvre gar "ein Organon ohnegleichen". So bedienten sich zahlreiche seiner Werke wie etwa die Novelle "Andreas Thameyers letzter Brief" der Kontextualisierung. Diese aber sei "das genuin kulturwissenschaftliche Verfahren" - man beachte den bestimmten Artikel. Kontextualisierung, so erklärt Wunberg, heiße nichts anderes als "der Provenienznachweis der in den fiktionalen Texten aufgehobenen Diskurse". Im Wort "aufgehoben" scheint Hegelsche Dialektik anzuklingen. Doch zielt Wunberg auf etwas anderes als der Autor der "Phänomenologie des Geistes", dem der Terminus ein zweidimensionaler Begriff von besonderer philosophischer Dignität war. Davon, dass "genuine Diskurse" in fiktionalen Texten auf einer höheren Ebene bewahrt werden, ist bei Wunberg nicht die Rede. Worum es ihm geht, ist "Diskurseinheiten" in literarischen Texten ausfindig zu machen, "sie mit den genuinen Diskursen zu verknüpfen und auf diese Weise Kontextualisierung zu ermöglichen". Ein Verfahren, für das er den Neologismus "Hetero-Topik" prägt.

In weiteren Beiträgen wird die Freundschaft zwischen Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal (Guiseppe Farese) oder Ludwig Tiecks "Gestiefelter Kater" als Vorlage für Schnitzlers Marionettenspiel "Zum großen Wurstel" (Barbara Surowska) beleuchtet. W. E. Yates meldet Zweifel gegenüber der Sprachkrise als "vermeintliche[m] Symptom der Moderne" an und konstatiert, dass Schnitzler "sich im Allgemeinen weniger für die Sprache an sich als für Psychologie, Motivation, Handeln" interessiert habe. Jacques Le Rider widmet sich hingegen "Arthur Schnitzlers Identitätskrise während des Ersten Weltkriegs". Doch handelt es sich bei dem Beitrag des Pariser Professors für Kulturgeschichte deutschsprachiger Länder über weite Teile weniger um einen Aufsatz als vielmehr um eine - durchaus interessante - Zitaten-Sammlung zu Schnitzlers Auseinandersetzung mit dem in diesem Zeitraum virulenten Wiener Antisemitismus. Alfred Dopplers Interesse wiederum gilt den Frauengestalten in Arthur Schnitzlers Schauspiel "Der einsame Weg" und in der Tragikomödie "Das weite Land", wobei er zu der für Schnitzlers Gesamtwerk nicht sonderlich innovativen Erkenntnis gelangt, dass die "ruinöse Ordnung der Männer" und die "von patriarchalischen Vorstellungen geprägte Männermoral" die Frauen zugrunde richten.

Elsbeth Dangel-Pelloquins Interesse gilt einem verwandten Thema. In ihrem aufschlussreichen Aufsatz untersucht sie "Figuren der Scham" und zeigt auf, wie - auch - bei Schnitzler der 'weiblichen' und passiven Scham die 'männliche' und zur aktiven Tätigkeit leitende Schmach kontrastiert wird: "Wo das eine selbstverschuldet erlebt wird und als übermächtiges Gefühl das betroffene Subjekt im Innern überwältigt, wird das andere von außen zugefügt und man kann sich dagegen zur Wehr setzen." Besonders instruktiv sind Dangel-Pelloquins Überlegungen zur "Inszenierung männlicher Scham" in den beiden Novellen "Casanovas Heimfahrt" und "Spiel im Morgengrauen", wenngleich es zutreffender wäre von "Inszenierung der Scham bei männlichen Figuren" zu sprechen. Dessen ungeachtet stellt Dangel-Pelloquin zu Recht eine "verblüffende Übereinstimmung" dieser Inszenierungen mit den "Signaturen des Weiblichen" fest. Schnitzler entwerfe in den beschämten Figuren Casanova in "Casanovas Heimfahrt" und Willi Kasda in "Spiel im Morgengrauen" eine "Choreographie", welche die beide Figuren "ins Weibliche kippen" lasse, bis ihnen die "Rückkehr in männliche Positionen und Requisiten" bei der Überwindung der Scham helfe. Die Scham der weiblichen Figur Beate in der Novelle "Frau Beate und ihr Sohn" verlange hingegen auch dann noch nach der "Todesstrafe", "wenn sie schon in der Schamsituation selbst gebüßt wurde". Nicht recht deutlich wird allerdings, worin der Unterschied zwischen dem Suizid Beates und demjenigen Willis liegt, der es der männlichen Figur ermöglicht, seine Männlichkeit wieder herzustellen, während der Suizid der weiblichen Figur deren - 'weibliche' - Opferrolle unterstreicht. Sollte der Unterschied darin begründet sein, dass Willi sich dem männlichen Ritual, der Konvention gemäß tötet, während Beate - 'ganz Weib' - ins Wasser geht? Recht überzeugend klingt das nicht. Und vermutlich sieht Dangel-Pelloquin den Unterschied auch in etwas anderem begründet. Diese Begründung aber hätte von ihr herausgearbeitet werden müssen.

Natürlich darf in einem Band über Arthur Schnitzler dessen Verhältnis zur Psychoanalyse nicht fehlen. So gelten ihm auch drei der Beiträge. Michael Worbs widmet sich Sigmund Freuds etwas ambivalentem Glückwunschschreiben zu Schnitzlers 60. Geburtstag, Horst Thomé nimmt "die Beobachtbarkeit des Psychischen" bei beiden Autoren in den Blick und Michael Rohrwasser stellt das "Einfluss-Modell" in Frage. Das "Bild vom Einfluss" entpuppe sich als "Element einer Selbstdarstellung", die mit "Abgrenzungen" und "Konkurrenzen" zu tun habe, so Rohrwasser. Es sei vor allem darum "problematisch", weil das, was mit ihm "suggeriert" werde, "methodisch kaum reflektiert" sei. Zudem filtere es "andere Stimmen", die auf Schnitzlers literarisches Schaffen einwirkten, heraus und reduziere deren Vielfalt auf nur eine "Quelle".

Der letzte, von dem - wie er sich selbst beschreibt - "leidenschaftliche[n] Feuilletonist[en]" Franz Schuh verfasste Beitrag sprengt den "Rahmen der Gelehrsamkeit" eines Symposiums und stellt mit gelegentlich leicht satirischem Zungenschlag eine Reihe provokativer, unterhaltsamer und doch auch gelehrter "Behauptungen über den 'Schnitzlerismus'" auf.

Titelbild

Konstanze Fliedl (Hg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert.
Picus Verlag, Wien 2003.
384 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3854524692

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