Der Vorgänger von Sherlock Holmes

Adolph Müllners Novelle "Der Kaliber - Aus den Papieren eines Criminalbeamten"

Von Nina WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Criminalbeamter träumt in den Tag hinein. Er wünscht sich, dass endlich etwas passieren möge: "Im Scheidewald eine mit Wunden bedeckte Leiche aufheben zu können, war mein sehnlichster Wunsch [...], so paradox das auch klingen mag". Aus diesen Träumen heraus weckt ihn in der Dämmerung eines trüben Herbsttages sein Diener. Ein Herr wünsche ihn zu sprechen. Den Raum betritt Ferdinand Albus. So enden jäh die Tagträume des Ermittlungsrichters, denn Ferdinand berichtet von einem tödlichen Zwischenfall, der sich soeben im Wald ereignet hat - sein älterer Bruder Heinrich wurde von einem Räuber niedergeschossen.

Goethe definierte im Gespräch mit Eckermann die Gattung Novelle als "eine unerhörte Begebenheit", und tatsächlich ist auch hier ein 'unerhörtes', überraschendes und unwahrscheinliches Ereignis Gegenstand der Erzählung. Es gilt einen merkwürdigen Brudermord aufzuklären. Der Berichterstatter Ferdinand Albus verwickelt sich in Widersprüche. Es geht um viel Geld, Liebe, eine Verlobung, um Geschäfte. Man munkelte, Mariane, die schöne und allseits beliebte Tochter des jüdischen Kammerraths Brand, sollte mit einem der beiden Albus-Brüder verheiratet werden. Der zukünftige Verlobte sollte außerdem in Handelsgenossenschaft mit dem Vater treten. Nun ist Heinrich Albus tot, und sein Bruder wird verdächtigt. Doch lässt sich so leicht nichts beweisen.

Es vergeht fast ein Jahr, die Wahl des Verlobten für Mariane fiel nun doch auf Ferdinand, und am Vorabend der Hochzeit kommt es zum ersten Höhepunkt. Ferdinand sucht den Criminalbeamten auf, um ein Geständnis abzulegen. Er bittet freiwillig um die ihm, in seinen Augen, zustehende Todesstrafe. Und der Fall wird erneut aufgenommen.

Müllners Novelle liegt auf der Grenzlinie zwischen Rührseligkeit und spannender Unterhaltung, von Spätromantik und Biedermeier, Liebesgeschichte und Detektiverzählung. Schriftstellerisch virtuos versteht er es, den damals zeitgenössischen Lesergeschmack zu bedienen, indem er dem Handlungsmuster von empfindsam-pathetischer Figureninszenierung, Gefährdung der Liebenden, bedingungsloser Hingabe und glücklichem Ausgang folgt.

Andererseits ist zu bemerken, dass die Figur der Mariane ein gewisses weibliches Emanzipierungspotential entfaltet, wenn sie aus eigenem Antrieb Englisch lernt, wenn sie Geschäftsbeziehungen nach Übersee knüpft oder wenn sie sich ohne weiteres zutraut, vor Gericht ein mündliches Plädoyer für ihren Geliebten zu halten - wenn man sie nur ließe: "Aber in Deutschland? Er muß schriftlich verteidigt werden, auf der todten, weißen Fläche, vor ausgetrockneten Gemüthern, vor eiskalten Actenrichtern."

Auch die Figurenzeichnung des exaltierten, sich theatralisch gebärdenden, geradezu vom Theaterwahn besessenen Ferdinand kann als ein verborgen kritischer Hinweis gelesen werden: auf den geistigen Zustand einer Zeit, die charakteristischerweise eine besondere Vorliebe für melodramatische Schicksalstragödien hegte.

Der 1828 veröffentlichte "Kaliber" gehört zu den besten und aus heutiger Sicht interessantesten literarischen Arbeiten Müllners. In der Novelle finden sich, 13 Jahre bevor Edgar Allen Poe 1841 die Tradition der 'Detective story' begründet, wesentliche Strukturelemente dieser Gattung realisiert. "Kaliber" folgt der für eine Detektiverzählung typischen analytischen Erzählweise mit dem Schema Kriminalfall - Ermittlung - Lösung. Bei der Lösung des Falles spielt der Zufall eine hilfreiche Rolle. Dies ist auch bei später klassisch gewordenen Gattungsbeispielen nicht selten der Fall. Im Ansatz vorhanden ist bei Müllner die charakteristische Konstellation eines Ermittlerduos, wie es mit Sherlock Holmes und Dr. Watson Weltruhm erlangte. Der Ich-Erzähler verbindet sich mit dem besten Defensions-Advokat der Gegend, Doktor Rebhahn. Zum Habitus des redlichen Bemühens bei dem einen gesellen sich Verstandesschärfe und Eloquenz des anderen.

Es ist jedoch nicht Dr. Rebhahn, sondern der Criminalbeamte und Erzähler, der bei der Lektüre besonderes Augenmerk verdient. Anders als bei anderen berühmten Detektiven, geht es hier weniger um die möglichst eindrucksvolle Demonstration eines Mannes, dessen Stärken Kombinationsfähigkeit und unbestechlicher Scharfsinn im Dienste einer rational-logischen Beweisführung sind. Der Charakter ist bei Müllner als Mensch dargestellt, der wie alle Menschen fehlbar ist. Nicht einer, der kühl ermittelt, sondern einer, der sich gefühlsmäßig in seinen Fall verstrickt - kein Siegreicher, sondern ein Gefährdeter.

Der Zweifel daran, ob Form und Methode des damals herrschenden Rechtssystems immer dazu geeignet sind, die diffizile Frage nach Schuld und Unschuld eines Menschen zu beurteilen, das ist vielleicht der Kern jener 'unerhörten' Begebenheit dieser frühen "Detektiv-Novelle". Das Buch berührt in Sprache und Begebenheit nicht mehr so sehr die Gefühlswelt des 21. Jahrhunderts, dennoch ist es ein schönes Buch für Krimi-Liebhaber, die auch mal nach den Ursprüngen 'ihres' Genres schauen wollen.

Titelbild

Adolph Müllner: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten.
Liliom Buchhandlung und Verlag, Waging am See 2002.
128 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3934785018

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch