Lob der Putzfrau

Marius Fränzels Einführung in das literarische Werk Arno Schmidts

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marius Fränzel gebührt ein Ehrenplatz in den Annalen der Arno-Schmidt-Forschung. Und zwar für den verblüffenden Satz: „Kurz und nochmals gesagt: Ich verstehe hier nichts.“ Das trotzige Diktum gilt Schmidts Geschichte „Piporakemes!“. Fränzel hält die Binnenerzählung dieses Prosa-Kabinettstücks aus dem Erzählband „Kühe in Halbtrauer“ (1964) bzw. den „Ländlichen Erzählungen“, wie der Zyklus heute in der Bargfelder Ausgabe heißt, schlicht für den unverständlichsten Text der deutschen Literatur.

Das ist ein recht freimütiges Bekenntnis für jemanden, der sich auf dem Einband seines Buches als „einer der besten Kenner des Werks Arno Schmidts“ vorstellen lässt. Wirft doch der Begriff des „Verstehens“, der hinter Fränzels koketter Ratlosigkeit hervorscheint, Licht auf ein Grundproblem der bisherigen Rezeption Arno Schmidts, dessen Literatur man in weiten Kreisen immer noch wie eine Art Kreuzworträtsel liest. Findet man keine literarische Quelle oder eine handliche Erklärung für die Intention, die der Autor Schmidt mit diesem oder jenem Textpartikel seiner Werke verbunden haben soll, so stellt sich in der ‚Schmidt-Gemeinde‘ Ratlosigkeit ein.

Einen literarischen Text zunächst einmal so zu nehmen, wie er buchstäblich ‚ist‘, und ihn ohne fuchtelnde Verweise auf andere Erklärungsinstanzen mit seinen Motiven und in seiner Struktur geduldig zu betrachten, fällt nach wie vor nur wenigen Schmidt-Forschern ein. In der Rezeption Schmidts herrscht mithin seit Jahrzehnten ein merkwürdig verdinglichter Begriff von Literatur vor, der in großen Teilen der entsprechenden Philologie dazu führte, dass man die funkelnde Prosa eines der avanciertesten Autoren der Nachkriegszeit mit so sekundären Dingen wie zweifelhaft belegten biographischen Daten, triumphierenden Verweisen auf Büchernennungen in vergilbten Antiquariatskatalogslisten oder gar mit dem Anlegen dubioser geheimer Zahlenschlüssel erschöpfend erklären zu können glaubte.

Fränzel versucht in seiner Arbeit, einen Überblick über die maßgeblichen bisherigen Lesarten der verschiedenen Werke und Werkphasen Arno Schmidts zu geben und distanziert sich im Vorwort ausdrücklich vom biographischen Ansatz. Auf eine eingehendere selbständige theoretische Verortung verzichtet Fränzel jedoch. Damit gehört seine Arbeit eindeutig nicht zu jener „zunehmende[n] Anzahl von Dissertationen, Zulassungs- und Magisterarbeiten zu Schmidt“, „die ihre Ansätze zu einem nicht unbedeutenden Teil aus Theoriebereichen beziehen, die dem verhandelten Autor selbst immer fremd geblieben waren oder fremd sein mußten“, wie Fränzel die begrüßenswerten und zaghaften Entwicklungen hin zu einer wirklichen Schmidt-Philologie eingangs beschreibt.

Damit wäre auch bereits benannt, warum Fränzels Studie zumindest als Doktorarbeit keinerlei Sinn ergeben kann. Es fehlt ihr an einem theoretischen Standpunkt, der über bisherige Erkenntnisse hinaus zu eigenen Ergebnissen gelangen könnte. Fränzel klebt an den oftmals kruden und unseriösen Erträgen der bisherigen Schmidt-Forschung, die er teils akribisch referiert, auch kritisiert, aber niemals durch eigene interpretatorische Vorschläge ergänzt und weiterführt. Fränzel versinkt selbst in dem tiefen Sumpf literaturwissenschaftlichen Schunds, in den er uns als väterlicher ‚Kenner‘ „einführen“ möchte.

So diskutiert er die teilweise lähmend stumpfsinnigen mythologischen ‚Dechiffrierungen‘, die Ralf Georg Czapla an den „Ländlichen Erzählungen“ durchgeführt hat, um den Leser schließlich mit dem eingangs zitierten, persönlichen Bekenntnis zu „Piporakemes!“ zu konfrontieren und hinzuzufügen: „Auch die Forschungsliteratur macht bis dato durchaus nicht den Eindruck, als verstehe sie die ‚Ländlichen Erzählungen‘ auf mehr als rudimentäre Art und Weise.“

Die Aufgabe einer Doktorarbeit wäre es nun gewesen, nach einem solchen Befund den Vorschlag für einen neuen (oder ersten) Weg zum „Verstehen“ des Unverstandenen zu machen. Das höchste der Gefühle aber bleibt es bei Fränzel beispielsweise, uns in einer Fußnote darauf aufmerksam zu machen, dass ein „Schwellenreißer“ nicht so funktionieren kann, wie Arno Schmidt es in „Leviathan“ beschrieben hat – und dies noch mit dem zusätzlichen Hinweis, dass diese Erkenntnis nicht einmal von ihm, Fränzel, selbst stamme.

In dem „wundersamen Gemisch“, das uns der Autor präsentiert, werden bestenfalls altbekannte Fragen nachgebetet, nicht aber neue Antworten gesucht. Es gibt in dieser Arbeit keine markante eigenständige These, deren Verifizierung durchgängig versucht würde. Gewiss: Vielleicht braucht eine „Einführung in das erzählerische Werk Arno Schmidts“ eine solche These auch nicht. Doch eine „Einführung“ sollte zumindest eines bieten: Den ausgewogenen Überblick über das vorzustellende Werk und die einschlägige Forschung. Leider hapert es auch hier.

Es sei vorweggenommen, dass Fränzel damit die einzige Chance seines Projektes verspielt, zumindest den Anschein wissenschaftlicher Nützlichkeit zu entwickeln. Der hätte darin bestehen können, Wolfgang Albrechts 1998 in der „Sammlung Metzler“ erschienene, knappe und systematische Einführung in das Werk Schmidts zu aktualisieren, die sich übrigens nicht einmal in Fränzels Literaturliste findet. Tatsächlich aber fällt Fränzels weit umfangreicherer Band als Forschungsübersicht weit hinter das zurück, was Albrecht bereits vier Jahre zuvor geleistet hat.

In den einzelnen Abschnitten, die er chronologisch und nach den verschiedenen Wohnorten Schmidts geordnet hat, an denen die Texte entstanden sind, fasst Fränzel zunächst die jeweiligen Erzählungen zusammen. Immer wieder begibt er sich in der Diskussion der Handlung in die anmaßende Position desjenigen, der Arno Schmidt die sachlichen ‚Unstimmigkeiten‘ und ‚Fehler‘ in seinen fiktionalen Texten vorrechnet; ganz so, als wolle der Germanist dem Autor posthum endlich einmal erklären, wie naiv er doch war, weil er dies und jenes nicht wusste. Stirnrunzelnd wird hier manchmal sogar durchgespielt, wie ein Roman ‚eigentlich‘ nach den Regeln der Fränzel’schen Dramaturgie hätte verlaufen können oder sogar: müssen.

So bescheinigt der Germanist Schmidts superber „Novellen=Comödie“ „Die Schule der Atheisten“ herablassend einen „kaum zu tolerierende[n] Grad an Unwahrscheinlichkeit“. Er neigt außerdem dazu, sich über Seiten Fragen wie die zu stellen, warum die Russen in Schmidts „Gelehrtenrepublik“ ihre Atombomben ausgerechnet auf Las Vegas geworfen hätten, sei dies doch wahrlich kein „kriegsentscheidendes“ Ziel; auch beschäftigt ihn das weltbewegende Rätsel, aus welchem Grund das Liebespaar in „Leviathan“ am Ende Selbstmord begangen haben könnte – schließlich habe doch die Möglichkeit bestanden, abzuwarten, „ob denn der Krieg nicht wenigstens zeitweilig eine andere Wendung nehmen wird und sie vielleicht doch gerettet werden könnten“.

Mit solchen unerträglichen Besserwissereien begeht Fränzel den ewigen Grundfehler des laienhaften Kunstkonsumenten: Fiktionale Figuren werden wie lebende Menschen behandelt, deren möglicherweise ’sinnloses‘ Tun es zu tadeln gilt. Von da aus ist es nur noch ein Katzensprung zu der Putzfrau, die empört aus dem Kino tritt, weil ihr das Ende des neuesten Liebesfilms mit Julia Roberts nicht einleuchten will. Damit sollte übrigens nichts gegen die Putzfrau gesagt sein. Denn die maßt sich wenigstens nicht an, uns mit dem Zeigestock das erzählerische Werk Arno Schmidts zu erklären.

Leider wird die beabsichtigte erzieherische Wirkung von Fränzels Studie nicht zuletzt dadurch zerstört, dass der Autor ohne erkennbare Systematik obsolete Aufsätze und Forschungsbeiträge referiert. Er zeigt sich hier als angeblicher ‚Kenner‘ alles andere als auf dem neuesten Stand der Forschung. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen:

– Angesichts der Tatsache, dass es bisher nur wenige Interpretationen von Schmidts Typoskript „Die Schule der Atheisten“ gibt, wäre im Rahmen einer wissenschaftlichen ‚Einführung‘ ein kurzer kritischer Hinweis auf Horst Denklers und Carsten Würmanns ausführlichen Sammelband „Alles=gewendet!“ aus dem Jahr 2000 angebracht gewesen. Doch Fränzels lückenhafte Literaturliste verzeichnet nicht einmal diese Veröffentlichung.

– In einer Fußnote fordert Fränzel eine genetische Untersuchung zu Schmidts wechselvoller Stifter-Rezeption ein. Ein kurzer Blick in die Schmidt-Bibliographien Robert Weningers und Karl-Heinz Müthers oder auch den „Eppelsheimer-Köttelwesch“ hätte hier genügt, um festzustellen, dass teilweise bereits seit Jahrzehnten entsprechende Beiträge (von Josef Huerkamp, Timm Menke, Gerald Stieg u.a.) vorliegen. Offenbar beruhen Fränzels bibliographische Kenntnisse auf der kursorischen Durchsicht der üblichen Schmidt-Periodika – auch dies ein typisches Manko der oft unprofessionell agierenden Schmidt-Forschung, die nicht gerade entlegene Erscheinungsorte wie die „Vierteljahreshefte des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich“ (VASILO) gerne selbstgefällig übergeht.

– In seiner Besprechung der Schmidt’schen „Juvenilia“ ‚vergisst‘ Fränzel die Erwähnung der bisher wichtigsten und einzigen umfassenden Studie zu diesem Werkkomplex: Maike Bartls immerhin in den „Heften zur Forschung“ erschienene Magisterarbeit zur „Methodik des Entkommens“, die bereits 2001 für Furore sorgte.

– Auch behauptet der langjährige „Schauerfeld“-Redakteur in seiner Besprechung von „Seelandschaft von Pocahontas“, der gesamte Pocahontas-Komplex sei „bis dato nicht detailliert untersucht worden“. Es ist ein starkes Stück, dass in einer 2002 erschienenen Doktorarbeit Klaus Theweleits vielbeachteter Pocahontas-Band, der bereits 1999 erschöpfende Auskunft über das Thema gab, unberücksichtigt bleibt – mehr noch: dem Autor offenbar Jahre nach dem Erscheinen nicht bekannt war.

– Stattdessen kann sich Fränzel zum Beispiel unverhältnismäßig lange an der Diskussion eines abgestandenen Uralt-Beitrages von 1973 aufhalten und dafür ganz nebenbei große Teile der „Ländlichen Erzählungen“ unter den Tisch fallen lassen. Als alleinige ‚Erklärung‘ für diesen erstaunlichen Umstand lesen wir den Satz: „Im Rahmen dieser Einführung soll nicht jeder einzelne Text der ‚Ländlichen Erzählungen‘ detailliert besprochen werden.“

Immerhin handelt es sich bei den „Ländlichen Erzählungen“ um einen der, wenn nicht sogar den Werkgipfel im Œuvre Arno Schmidts. Um so weniger ist einzusehen, warum Fränzels „Einführung“ daraus lediglich die Texte „Windmühlen“, „Piporakemes!“ und „Caliban über Setebos“ en passant behandelt, sieht man einmal von bloßen Nebensatz-Erwähnungen ab, wie sie etwa „Kundisches Geschirr“ im Zusammenhang mit der „Etymmystik“ – so beliebt Fränzel die Etymtheorie zu nennen – zuteil wird.

Ähnlich prekär verhält es sich mit Fränzels Besprechung von „Zettels Traum“. Im Gegensatz zu den überaus inspirierenden Textbeobachtungen, die Doris Plöschberger in ihrer ebenfalls 2002 erschienenen Doktorarbeit zu „Zettel‘s Traum“ an einer der wichtigsten Szenen des Werkes – dem obszönen Scortlebener Jahrmarktstreiben im siebten Buch – gemacht hat, lesen wir bei Fränzel ernüchtert: „Es kann hier nicht detailliert auf den Scortlebener Jahrmarkt eingegangen werden; es muß bei dem Hinweis darauf bleiben, daß die gesamte Szenerie als große Phantastische Vision angelegt ist.“

Bitter enttäuscht legt man schließlich dieses wundersame Buch aus der Hand. Die Arbeit ist als ‚Dissertation‘ wertlos und als ‚Einführung‘ eine schlichte Zumutung. Fränzels hilflose Ergüsse nehmen dem Leser die Hoffnung, es könne irgendwann doch noch gelingen, Schmidt vor seinen selbsternannten „Kennern“ zu retten. Fränzels erklärtes Ziel, Arno Schmidt von dem Ruch der Unlesbarkeit zu befreien und sein Werk auch Laien zugänglich zu machen, dürfte jedenfalls gründlich verfehlt worden sein. Im Pantheon der problematischen Forschungs-Trouvaillen, die Fränzel so ausgiebig referiert, ist ihm selbst ein Logenplatz sicher.

Titelbild

Marius Fränzel: Dies wundersame Gemisch. Eine Einführung in das erzählerische Werk Arno Schmidts.
Verlag Ludwig, Kiel 2002.
349 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3933598540

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