Eine Lehrstunde

Immanuel Kant (1724-1804)

Von Reinhard BrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Brandt

1. Das Zeitalter der Kritik

"Ich bin selbst aus Neigung Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis und die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete dass diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könnte, die rechte der Menschheit herzustellen." Aus der Retrospektive sieht Kant eine existentielle Wende seines Lebens kurz nach 1762, dem Erscheinungsjahr von Rousseaus "Nouvelle Héloise", "Émile" und "Gesellschaftsvertrag". Danach hat sich die Welt verändert: "Wenn ich in die Werkstatt eines Handwerkers gehe so wünschte ich nicht dass er in meinen Gedanken lesen konnte. [...] Ich nehme wahr, dass ich nicht einen Tag ohne seine Arbeitsamkeit leben könne." Später, 1796, wird gegen die Aristokraten unter den Philosophen und deren "vornehmen Ton" an das Gesetz der Vernunft appelliert, "durch Arbeit sich einen Besitz zu erwerben", "the labour of the thought", wie John Locke den falschen Enthusiasten und Begriffsdichtern in ihr geerbtes Poesiealbum schrieb. Kant ändert nicht in franziskanischer Bekehrung sein äußeres Leben, sondern den Orientierungspunkt seines Denkens. Es wird jetzt nicht mehr akademisch gefragt: "Was ist der Mensch?", sondern selbstkritisch "Wozu bin ich bestimmt? Worin liegt der Endzweck, die Bestimmung meines Lebens?" Die Frage "Was ist der Mensch?" ist theoretisch und zielt auf eine schulgemäße Definition, die Bestimmungsfrage ist dagegen unmittelbar praktischer Natur, und jeder stellt sie und jeder beantwortet sie. Wissenschaft ja, aber unter Führung der praktischen Vernunft, also in der Verantwortung für die Menschheit ist die neue, die Zukunft bestimmende Losung. Und die zu Ende gedachte Frage nach der Bestimmung des Menschen führt zu der Antwort: Der Mensch ist dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen. Zur Wendung von der einseitigen Ausrichtung an der Schulphilosophie hin zur Weltphilosophie trug die russische Besatzung während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) bei; Königsberg entkrampfte sich und wurde aus einer pietistisch-verbiesterten, preußisch-verzopften Stadt der vergessenen Krönung (1701) zu einer weltläufigen Metropole, in der es möglich wurde, sich scheiden zu lassen, als Professor in aristokratischer Gesellschaft zu dinieren und auf dem Schloss zu tanzen. In Kants beiden öffentlichen und nicht-philosophischen Vorlesungen über Anthropologie und physische Geographie kam, was Rang und Namen hatte, und an der Lektüre von Kantischen Vorlesungsskripten im Berliner Salon seines jüdischen Schülers Marcus Herz und dessen Frau Henriette nahmen Minister teil. Der Zeitgeist - ein Schlagwort der Epoche - änderte sich. Kant zog die Impulse aus den fortschrittlicheren Ländern Frankreich und England - dort besonders Rousseau, hier besonders der Skeptiker David Hume - und entwickelte eine neuartige, vertiefte Reflexionsform in den alten Strukturen der Schulphilosophie. Mit dieser Verbindung gab er dem kritischen Zeitalter die Philosophie, die bis heute ihre Aporien und ihre Diskussionen bestimmt.

2. Das Hochgebirge der drei Kritiken

Die "Kritik der reinen Vernunft" (KrV) von 1781, 2. Auflage 1787, will nach ihrem Selbstverständnis die "Quellen, den Umfang und die Grenzen" des menschlichen Erkenntnisvermögens bestimmen, und zwar "alles aus Prinzipien" und nicht empirisch, wie John Locke es getan hatte. Die beiden Quellen sind, so wird gezeigt, Sinnlichkeit und Verstand, und der Umfang und die Grenze der Erkenntnis bestimmt sich danach, ob die Verstandesbegriffe auf das in der Sinnlichkeit Erscheinende, durch Raum und Zeit neben- und nacheinander Geordnete, beziehbar sind. "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", lautet die allgemeine Maxime. Wie das so gänzlich Unterschiedene mithilfe der vermittelnden Einbildungskraft aufeinander bezogen werden kann, wird in der sog. Transzendentalen Deduktion der Verstandeskategorien gezeigt. Durch sie erhalten bestimmte Sätze über das in Raum und Zeit Erscheinende die Auszeichnung, notwendig und wahr, d. h. Gesetze der Natur zu sein. Gegen die Skeptiker also wird bewiesen, dass Naturerkenntnis, wie sie Isaak Newton intendiert, tatsächlich möglich ist. Lässt sich den Begriffen dagegen keine Anschauung zuordnen, dann können sie keine Erkenntnis stiften, sondern allenfalls das bloße Denken organisieren. Was heißt das?

Der Eröffnungssatz in der Vorrede der KrV, also der erste Satz des Buches überhaupt, besagt, dass die menschliche Vernunft durch Fragen belästigt werde, die sie nicht abweisen könne, "denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen (sc. theoretischen) Vernunft." Um welche Vernunft-Probleme es sich handelt, wird erst am Schluss des Werkes explizit gesagt, und zwar in Form von drei Fragen, in denen sich alles "Interesse meiner Vernunft" vereinige: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" Es ist sicher, dass die KrV selbst von diesen drei Fragen handeln muss, aber wo und in welcher Form tut sie es? Die Ausführungen, die Kant den Fragen folgen lässt, geben hierüber keine Auskunft; in ihnen verrät sich nicht die Dimension, die der Herkunft und Verwendung bei Kant anhaftet. Die drei Fragen haben eine mittelalterliche Vorform in der Erörterung dessen, was man glauben, tun und hoffen möge ("quid credas, agas, speres"), und diese Vorform wiederum geht auf die drei christlichen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zurück. Damit ist aber auch das Bezugsfeld in der KrV gefunden: Der Glaube bezieht sich auf Gott, die Liebe auf mein Handeln in der Welt und die Hoffnung auf das Geschick meiner Seele. Genau das sind die drei speziellen Themen der Metaphysik: Theologie, Kosmologie und Psychologie. Kants "alles zermalmende" Antwort: Diesen drei metaphysischen Wissenschaften fehlt die anschauliche Grundlage, um wirkliche Erkenntnisse zu liefern, denn unser Wissen beschränkt sich auf das Gebiet der Natur, das bei der kritischen Vermessung des Umfangs und der Grenzen als resistent erwiesen wurde; zu dieser Natur, die uns in Raum und Zeit erscheint, gehören weder Gott noch die Freiheit des Handelns in der Welt noch das Wesen der Seele. Sie sind insgesamt keine Erscheinungen, also sind sie Dinge an sich: denkbar, aber nicht erkennbar. Die KrV enthält also wenigstens zwei zukunftsweisende Aussagen: Sie begründet die Erkenntnis der Natur in einer Verbindung von Begriff und Anschauung, und sie widerlegt die Erkenntnisansprüche der drei großen abendländischen Themen, die sich bis in das "Neue Testament" zurückverfolgen lassen. Diese metaphysischen Erkenntnisansprüche sollen jedoch, so Kants Versprechen, in der Moralphilosophie, also in der "Kritik der praktischen Vernunft" (KpV), rehabilitiert werden.

Diese zweite Kritik, die KpV von 1788, eröffnet ihre neue Lehre mit einem Paukenschlag. Alle Welt hatte gegen die Philosophen die Forderung gestellt: Keine immer neuen Theorien, mit Hamlet: words, words, words, sondern Fakten, Fakten, Fakten. Kant antwortet ihnen mit einem gelehrten Buch und stellt an den Anfang ein Faktum, mit dem niemand gerechnet hatte und das alle kennen sollten: das "Faktum des Bewusstseins" vom kategorischen Imperativ: Dass die Regel oder Maxime des Handelns gegen sich und andere Personen ein allgemeines öffentliches Gesetz sein könnte. In diesem Prinzip erkennt der Mensch das Grundgesetz seiner eigenen praktischen Vernunft und damit seine eigene Freiheit. Als moralisch Handelnder, so die These, weiß ich mich unabhängig von allen mich sonst bedingenden Faktoren. Hier führt also nicht (wie in der theoretischen Philosophie der KrV) die Raum-Zeit-Lehre zur Differenz von Ding an sich und Erscheinung, sondern die Moral übernimmt diese Funktion und eröffnet damit eine hochbrisante Willensmetaphysik, die von aller theoretischen Erkenntnis unabhängig ist. Und dann der zweite Schachzug: Der kategorische Imperativ, das Gesetz der Freiheit, bestimmt, was gut und böse ist - ein offener Anti-Platonismus innerhalb einer platonisierenden, von aller Empirie abgelösten Metaphysik. Anti-platonisch, weil jetzt das Gute nicht mehr das höchste Objekt einer schwierigen Ideenerkenntnis ist, sondern das Folgephänomen unseres moralischen Gesetzesbewusstseins. Was gut ist, wird einzig durch das Moralgesetz bestimmt, und damit weiß es jeder. Und dann der dritte Trumpf: Um zum moralischen Handeln motiviert zu werden, bedarf es keines Gottes, der das gute Handeln belohnen und das böse bestrafen wird, sondern der bloßen "Achtung vor dem Gesetz"; dieses Gefühl der Achtung wird durch die Präsenz dieses Gesetzes in uns erzeugt; wir motivieren uns also selbst und sind nicht auf eine transzendente Macht angewiesen, die Moral wird zu einem auto-mobile, zu einer gänzlichen Selbstbestimmung und Selbstbewegung. Es folgt der Versuch, nun trotzdem das Versprechen einzulösen und die alte Metaphysik auf der Grundlage der KpV zu erneuern. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, darauf hatte sich alles Vernunftinteresse in der KrV bezogen. Kant ist der Meinung, die Einhaltung der rigorosen Gesetzesethik sei ohne eine rationale Hoffnung, dass mit der Moralität auch eine Glückserwartung erfüllt wird, dass also das gute Handeln auch fühlbar gut für den Handelnden sei, eine gänzliche Chimäre. Man sage nicht, die Tugend sei ihr eigener Lohn - unser erhofftes Glück ist mehr als die stoische Selbstzufriedenheit, und ohne diese Hoffnung gibt es kein moralisches Handeln. Dazu aber bedarf es der Unsterblichkeit und eines Gottes. In der KpV werden sie zu realen Gegenständen eines rationalen Glaubens, nachdem sich ihre theoretische Erkenntnis als unmöglich erwiesen hatte. Gläubige allerdings hat Kant mit dieser Theorie kaum gefunden. In der Religionsphilosophie, speziell der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) wird die Konsequenz aus der aufgeklärten Moralphilosophie gezogen: Es gibt keine denkbare Offenbarung, die uns über etwas belehren könnte, was höher wäre und in einem Widerspruch stünde mit der menschlichen Vernunft, sondern alle Religion unterliegt ihrer Kontrolle, sei es die jüdische, christliche, die mohammedanische oder eine private Inspiration. Im Bild der sogenannten Kopernikanischen Wende: In der Moral nehmen wir den Sonnenstandpunkt ein, der nicht durch einen Gottes- und Offenbarungsglauben überbietbar, sondern der selbst absolut ist.

1790 erschien die dritte Kritik, die mit dem Zweckbegriff zwischen der theoretischen Naturerkenntnis der ersten Kritik und der Freiheitsanalyse der zweiten Kritik vermitteln sollte. Sie zerfällt in zwei Teile, die Ästhetik und die Zwecklehre der Natur, die Teleologie; und die Ästhetik ihrerseits handelt von dem Kontrastpaar des Schönen und Erhabenen. Das Schöne in Kunst und Natur ist begrenzt, es ist harmonisch geformt, es stimmt uns ein in eine Harmonie mit den Gegenständen, den gleichgestimmten Menschen und mit unserer eigenen Natur im freien Spiel des Erkenntnisvermögens, der Einbildungskraft und des Verstandes. Aber dieses Spiel ist kein Filigran des Ästhetizismus, sondern wird zurückgewonnen für den Ernst der Moral: Das Geschmacksurteil des Schönen hat nur dann Geltung, wenn es Symbol des Sittlich-Guten sein kann. Den Gegenpol zum Schönen bildet das "Geistesgefühl" des Erhabenen: "Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses, u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit." - Physisch also vernichtet uns gleichsam die übergroße und übermächtige, die nicht mehr schöne Natur, aber die äußere Übergewalt vernichtet uns nicht in der Betrachtung, sondern erweckt das Bewusstsein einer inneren Macht in uns, die allem Physischen überlegen ist: Die Idee unserer Sittlichkeit. Daher die unmittelbare Verknüpfung des bestirnten Himmels über uns und des moralischen Gesetzes in uns. "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."

Außerhalb dieser drei Kritiken wird die Rechtsphilosophie entwickelt, freilich auf der Grundlage der kritisch abgesicherten Freiheitsidee und des kategorischen Imperativs. Hier entdeckte erst das zwanzigste Jahrhundert mit einigem Staunen, dass die Kantischen Ideen zu den Menschenrechten, zur Gewaltenteilung, zur Demokratie (von ihm Republik genannt), zum Völkerrecht und zur Idee der Vereinten Nationen fast wörtlich den Vorstellungen entsprechen, die nach 1945 allgemeine Anerkennung fanden. Nichts ist spannender als die Wort- für Wortlektüre von Kants rechtsphilosophischen Schriften, nichts folgenreicher in der neueren deutschen Philosophiegeschichte als die Tatsache, dass die linken und rechten Wortführer, Nietzsche und Heidegger, Carl Schmitt und Adorno, entweder die Kantische Rechtsphilosophie nicht kannten oder sie als liberal verachteten. Kants Schriften zum ewigen Frieden und zur notwendigen Rechts- und Gerechtigkeitsverfassung der menschlichen Gesellschaft bildet die beste Begleitlektüre zu den Diktaturen, deren interne Mechanismen er aus den zeitgenössischen Despotien kannte, und zu den Kriegen, die heute von den Demokratien mit menschheitswidrigen Waffen geführt werden.

Politik ist keine eigenständige Dimension menschlichen Handelns, sondern die bescheidene Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit: so die Bestimmung im "Ewigen Frieden". Die Rechtsverwirklichung ist keine Aufgabe eines einzelnen Menschen, sondern der Menschheit, und die Geschichtsphilosophie sucht zu zeigen, dass die Geschichte Spuren zeigt, die den steten Gang in diese Friedens-Richtung anzeigen. Es gibt also eine Vernunft in der Geschichte, die allerdings noch immer Naturgeschichte ist und so am allgemeinen Zwecksystem der Natur teilnimmt. Wir können jedoch hoffen, dass das an der Moral und am Recht orientierte Handeln mit der Weltvernunft übereinstimmt. Das Reich der Freiheit, in dem die Menschen die Geschichte selbst bestimmen, liegt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart.

3. Die Konflikte des Friedens-Philosophen

Es ist heute üblich, die großen Philosophen insgesamt als Ikonen aufzubauen: Kant, der Philosoph ohne Schimpf und Tadel, schafft die Grundlagen der modernen Philosophie, Hegel stiftet das Fundament aller Wahrheitssuche, und natürlich Nietzsche, der unüberbietbare Urdenker alles Radikalen. No doubt. Hört endlich auf mit dem Skeptizismus und werdet positiv, Ihr Deutschen! Nun gut. Fichte, Schelling, Hegel gingen von Kant aus, distanzierten sich jedoch von ihm nicht aus Ranküne oder purer Unkenntnis, sondern aus Gründen, die sie anführen. Der Marburger Kantianer Hermann Cohen notiert, die Kantische Philosophie müsse bis auf die Grundmauern niedergerissen werden. Das soll hier nicht näher verfolgt werden, wir möchten jedoch auf einen Grundbegriff von Kant hinweisen: Philosophie hat es mit Konflikten und der Vernunft in den Konflikten zu tun. Bei Kant ist die Materie nichts anderes als das Zentrum der konfligierenden Kräfte von Attraktion und Repulsion; aus diesen Konfliktzentren erbaut sich das Universum im Programm der Vorsehung, wie in der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie der Himmels" von 1755 dargelegt wird. Das Analogon in der Menschheitsgeschichte: Der Mensch lebt im gesellschaftlichen Antagonismus von Anziehung und Abstoßung, und aus diesem Antagonismus entwickelt sich die rechtlich verfasste Weltgesellschaft mit der ihr inhärenten Friedenstendenz - so die Lehre der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784). Die Dialektik ist eine andere Form des Widerstreits, jetzt innerhalb der unterschiedlichen Vernunftansprüche.

Die Philosophie Kants enthält jedoch ungewollte Konflikte, die bis heute nicht gelöst sind, oder besser: die in ihr nicht lösbar sind.

Der Herd der meisten dieser internen Konflikte ist die Zweiweltentheorie, die in unterschiedlichen Figurationen erscheint. Eine ist die rigorose Trennung von Natur und Freiheit und die damit verbundene Emanzipation der Moralphilosophie von der theoretischen Philosophie; wir hatten schon gesehen: Es wird jede vorgängige Erkenntnis des Guten im Sinne Platons gestrichen. Der kategorische Imperativ, unsere Handlungsregeln daraufhin zu überprüfen, ob sie Gesetze einer Vereinigung von freien Personen sein können, dieser Imperativ eliminiert nach Kant die Lüge als Mittel, einen für gut gehaltenen Zweck zu verwirklichen. Aber wie steht es mit Schindler, der mit Lug und Betrug Juden vor der Vernichtung rettet? Unser moralisches Urteil nimmt - gegen Kant - Partei für Schindler, und zwar nicht aus Neigung und bloßer Menschenliebe, sondern aus Prinzip: Die Verhinderung des Unrechts kann im Ausnahmezustand nicht unrecht sein. Aber maßt sich hier nicht der einzelne Bürger an, in einem unmittelbaren Rückgriff auf das Gute über den Ausnahmezustand zu urteilen? Hat diese Anmaßung einen Ort in der Kantischen Moralphilosophie? Hier liegt die Härte der Kantischen Moral: Sie verstellt jedem Versuch, an der Gesetzlichkeit der praktischen Vernunft vorbei einen Zugriff auf das vermeintlich Gute zu gewinnen, den Weg. Und hier ist es weit über die Beobachtungen von Hannah Ahrendt hinaus interessant, den anti-kantischen Kantianismus des Staatsterroristen Eichmann zu studieren.

Innerhalb der theoretischen Philosophie ist die oder wenigstens eine grundlegende These, dass der Weltraum die subjektive Form der äußeren Anschauung sei (die das räumliche "Außer-mir" und "Außer sich" also erst ermöglicht). Das ist seit Beginn ein Ort des schwelenden Zweifels und des offenen Nein! Kants Beweis enthält wenigstens einen Zirkel, denn er setzt gleich voraus, dass nur von der Vorstellung des Raumes gehandelt werden soll, nicht aber von dem Raum, auf den sich die Vorstellung beziehen könnte. Und sie lässt sich wohl auch in der Sache nicht halten, und sei es auf Kosten des Eingeständnisses, dass wir als Philosophen nicht wissen, was der Raum ist.

4. Was bleibt?

Es bleibt das Königsberger Gedankenlabor, aus dem die meisten Werkstücke, mit denen die philosophischen Debatten umgehen, ursprünglich stammen. Es bleibt diese Werkstatt, in die alle angehenden Philosophen kommen sollten, nicht um den Meister hermeneutisch oder anthropologisch zu belehren, sondern um seine Schriften - kritisch, weil philosophisch - Wort für Wort zu studieren. Was bleibt? Die detaillierte Differenzbestimmung des Geschmacksurteils des Schönen und des Geistesgefühls des Erhabenen: Die spätere Ästhetik arbeitet mit den Präzisionsinstrumenten, die Kant geliefert hat. Man denke an die Neuinszenierung des Erhabenen durch Lyotard und Barnett Newman: Die Grundlage der Debatte über den Konflikt von Schön und Erhaben stammt aus der Kantischen KdU. Die synthetischen Urteile a priori: Lassen sie sich rechtfertigen, oder zerfällt die Reflexionswelt in die beiden Seiten des analytischen Rationalismus einerseits und der Sinnlichkeitsphilosophie oder des Heideggerschen Irrationalismus andererseits? Es bleibt der heroische Versuch einer Synthese, zu der die Reflexion über dieses Problem ständig zurückkehrt. Es bleibt die weltbürgerliche Absicht des Philosophierens; mit dieser Komponente nahm Kant eine antike Innovation der Stoa auf und führte sie in die modernen Rechtsstrukturen - hierin ist er bis heute nicht übertroffen.

(Der Text wurde zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 2.1.2004 veröffentlicht.)