"Die Innovation ermüdet"

Zu Nora-Eugenie Gomringers junger Lyrik

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Überblickt man gegenwärtige Publikationen im Bereich der deutschsprachigen "Lyrik", ist man versucht, das eingangs zitierte Aperçu Michel Houellebecqs ("Die ZEIT" vom 22.01.2004) als zutreffend auch und gerade in diesem Bereich kultureller Hervorbringung zu konstatieren. Ein sehnsuchtsvolles Loblied auf den Konservativismus anzustimmen fällt umso leichter angesichts einer Literatur, die offenkundig dem Streben nach Originalität und Neuigkeit als einem kritikenthobenen Selbstwert sich bedingungslos unterworfen hat. Freilich tragen die Verantwortung hierfür nicht die Schriftsteller allein: Literatur entsteht - dies wissen wir spätestens seit Adornos "Rede über Lyrik und Gesellschaft" - nicht in einsiedlerischer Abgeschiedenheit, sondern stets im Spannungsfeld soziokultureller wie ökonomischer Interessen und (Markt-) Strukturen, an deren Konstitution Autor, Verlag und Publikum gleichermaßen beteiligt sind. Thesenhaft zugespitzt und notwendig vereinfacht bedeutet das: 1) Junge Autoren entwickeln Vorstellungen darüber, was "Lyrik" sei, im Zuge ihrer literarischen Sozialisation, also allein anhand derjenigen Texte, die von Verlagen zuvor als veröffentlichungswürdige "Lyrik" ausgewählt worden sind. 2) Der Maßstab, anhand dessen im Lektorat die Publikationswürdigkeit eines Textes bestimmt wird, ist - der Verlag ist ein Wirtschaftsunternehmen - primär ein ökonomischer. Obzwar Gedichtbände sich nur auf ein sehr schmales Marktsegment beziehen, sich bestenfalls an ein Nischenpublikum richten und üblicherweise ein sicheres Verlustgeschäft für den Verlag darstellen, das allein durch die Einnahmen aus dem Verkauf belletristischer Verkaufsschlager zu finanzieren ist, verfolgt der Verlag auch mit diesem Luxus seines Programms ökonomische Interessen. 3) Diese sind abzulesen am Produktdesign. 4) Die marktgerechte Gestaltung eines Produkts beruht auf Hypothesen über die Erwartungen potentieller Konsumenten und eine Analyse aktueller kultureller Moden, wobei eine Gestaltung oder Auswahl des Produkts nach deren Maßstab zu einer Steigerung seiner Attraktivität führen soll. 5) Die vom Lektorat zur Publikation bestimmten Texte weisen wesentliche Eigenschaften der aktuellen literarischen Moden auf und bieten mithin eine hohe Attraktivität. 6) Die derzeit wesentlichste Eigenschaft modischer "Lyrik" ist deren Streben nach Originalität, nach dem Neuen, Außergewöhnlichen, Unerwarteten, Fortschrittlichen. Auch Jugendlichkeit ist stylisch und trendy zugleich, spielend übertüncht sie in Union mit der medienwirksamen, in der Happening-Kultur der Spaßgesellschaft perfekt unterzubringenden Performanz der eigenen Person, mangelnde literarische Qualität. 7) Ein wesentlicher Aspekt des Produktdesigns ist die Eignung des Autors, seine Vermarktbarkeit, die im wesentlichen auf seiner Attraktivität beruht. 8) Wo aber alles sich den Nimbus des Progressiven und Innovativen gibt, wird das Außergewöhnliche zur ermüdeten und ermüdenden Normalität. All das, was in den Avantgarden der letzten hundert Jahre noch Traditionszertrümmerung und substantielle Evolution war, hat sich inzwischen als ein sich selbst reproduzierendes Sprachspiel etabliert. Bemerkenswerterweise - und dies ist m. E. besonders ärgerlich - gefällt man sich hier in der vermeintlich aufgeschlossenen, kritischen, innovativen etc. Haltung so sehr, dass man beginnt sie und sich selbstgefällig in seiner vermeintlichen Partizipation an der Verbesserung der Welt zu zelebrieren. Was hier aber abgefeiert wird, ist letztlich der rasende Stillstand, der Abschied vom großen Projekt. Die Kraft zur Vision bringt diese "Lyrik" längst nicht mehr auf. Und: Das als neu und innovativ apostrophierte Moment entpuppt sich allzu oft als blutleere Reminiszenz an altbekannte Topoi.

Auch Nora-Eugenie Gomringers zweiter, im Düsseldorfer Grupello Verlag ("schöne Bücher für intelligente Leser") erschienener Gedichtband "Silbentrennung" stellt hier keine Ausnahme dar. Schon die Gestaltung des äußerlich in der Tat sehr schönen Bändchens ist vielsagend. Ein in der Ikonographie der Popliteratur inzwischen übliches Bild der sehr sympathisch dreinschauenden "erst 22jährigen Autorin" ziert den Pappband. Ihr curriculum vitae wird knapp skizziert: "Nach zahlreichen Auslandsaufenthalten" - laut Verlagsinfo u. a. in Amerika (!) - "studiert sie heute Germanistik und Anglistik in Bamberg" und "organisiert den dortigen Poetry Slam, ist Mitbegründerin des BeGo Verlags und arbeitet als Rezitatorin." Wir haben es also mit einer gebildeten, überaus engagierten und zudem den Belangen der "Lyrik" verschriebenen Kosmopolitin und - man bedenke das Alter - einem lyrischen Wunderkind zu tun. Die Beteiligung an der Organisation des örtlichen Poetry Slams und ihre Tätigkeit als Rezitatorin weisen sie zudem als in innovativen, öffentlichkeitswirksamen Medialisierungskonzepten der Literatur (und damit ihrer Person) hinreichend Bewanderte aus. Der Verdacht, man habe es hier mit einer lyrischen Eintagsfliege zu tun, wird durch den Hinweis zerstreut, der vorliegende sei immerhin schon der zweite Gedichtband der jungen Autorin. Nicht einen Augenblick kann ein Zweifel darüber bestehen, dass hier der Versuch einer Rezeptionslenkung unternommen wird.

Auch das Projekt der Originalität, der Exploration, des Vorstoßens in unbekannte, unzugängliche Sprachräume, des - ein abgedroschener Topos der deutschen Nachkriegslyrik - Ringens um Sprache wird mit Emphase moduliert: Es gehe der Dichtung der jungen Autorin um "unbegangenes Gelände", sie breche auf "das Relief der Sprache neu (!) zu vermessen". Auch der - sich allerdings sogleich als missglückte Stilisierung entlarvende - Nimbus der Tiefsinnigkeit darf nicht fehlen: Auch "vor unwegsamem Gebiet" schrecke die junge Autorin nicht zurück, wisse sie "doch zu berichten: Gedichte sind Gefechte / Auf weißen Seiten / Oder Tierhäuten / Ausgetragen." Abgesehen von der Banalität dieser Verse: Wie ein Kampf wirken die "Gedichte" Frau Gomringers nun wirklich nicht, eher wie ein krampfhaftes Bemühtsein um den unbedingt erforderlichen geistreichen Ausdruck, die originelle Fügung. Intime oder tatsächlich brillante Momente gelingen der jungen Autorin höchst selten. Man verstehe mich bitte nicht falsch: Nora Gomringers Texte erheben sich deutlich über das sonst übliche Niveau "junger Lyrik". Immerhin wird weder der abgedroschene Gassen- und Gossen-Jargon noch der obligatorische Abfall poetisiert; auch modische Anglizismen begegnen höchst selten, vor allem fehlt dankenswerter Weise das eigentlich unvermeidlich als Motto fungierende, die eigenen Melancholie als Ausdruck des Zeitgeistes ausweisende Tom Waits oder Heather Nova Zitat. Dennoch merkt man der jungen Autorin ihre Vorbilder ebenso an wie ihr Bestreben intelligente, anspruchsvolle Texte hervorzubringen. Da wird das gymnasiale Bildungsgut ebenso zutage gefördert wie sprachwissenschaftliche Kenntnis, eifrig werden Neologismen gebildet und Fremdwörter oder Fachausdrücke bemüht. Die üblichen formalen Spielchen á la Ernst Jandl oder Robert Gernhardt dürfen ebenso wenig fehlen, wie tiefsinnige Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Der Reim wird natürlich nur noch in ironischer Brechung gebraucht, der prosaische Text mit reichlich eingebrachten aber irgendwie beliebig wirkenden Zeilenumbrüchen und natürlich ohne Satzzeichen herrscht vor. Nur wirkt diese "Tendenz zum Verstummen" - der Weißanteil beträgt zuweilen an die 98 % - nur noch wie ein sehr bemühtes und darum eher peinliches Formzitat aus besseren Tagen.

Ihre Stärken hat die junge Autorin unzweifelhaft auf der metakommunikativen, die reflexive Metaphorisierung der Sprache (man vgl. schon den Titel "Silbentrennung") vorführenden Ebene. Freilich stellt sich auch hier die Frage, ob nicht das bloß originelle Bild den Vorrang vor tieferer Bedeutung erhält, so etwa wenn in "Ungesagtes" - auch die Zyklen- und Gedichttitel haben selbstverständlich etwas sehr eingängiges - die reibenden Kiefer das "Wortgebirge / Abtragen / Den so entstehenden Sand / Schlucken // Die Worte im Innern / Zu Dünen aufwerfen". Diese selbstgenügsame Metaphorik besitzt den Charakter einer Art Leitmotivik und durchzieht in leichten Abwandlungen den gesamten Band. Ansonsten werden eigene Emotionen und menschliche Beziehungen thematisiert, Liebe und Trennungsschmerz in stets eingängiger Fügung besungen. Auch auf das obligatorische Betroffenheitspathos einer beflissenen political correctness ("Reimendes Schlußlied für das Friedensabkommen") wird nicht verzichtet.

Es muss das gute Recht des Lesers sein, angesichts dieser "Lyrik" nach deren Rechtfertigung zu fragen: Warum trifft er Nora Gomringers Texte nicht in deren Schreibtischschublade, sondern zwischen zwei Buchdeckeln an? Leisten diese etwa einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft oder wenigstens zur Literaturgeschichte? Ganz unweigerlich drängt sich dem Leser die Frage nach dem Sinn des Ganzen auf - welcher positiven Vision haben sich diese Texte verschrieben? Aber vermutlich ist bereits die Frage falsch gestellt. Ein höheres Ziel: Ist dergleichen überhaupt möglich angesichts der Fragilität und Fragmentierung der Sprache, ihrer Instrumentalisierung im schnöden Konsum etc.? Ich halte dagegen: Dergleichen ist nicht nur möglich, sondern zwingend erforderlich gerade in Anbetracht jener um sich greifenden Unverbindlichkeit und mangelnden Konzentrationsfähigkeit, welche den Gebrauch von Sprache - zumal im Gedicht - dieser Tage auszeichnen. Mir will die Forderung nach einer weiteren Bestandsaufnahme des status quo, einer weiteren "Rettung der Sprache", die letztlich nur auf die Reproduktion ihrer Fragmentierung und Instrumentalisierung im ästhetischen Medium hinausläuft, schlechthin nicht länger einleuchten. Man möge mir das naive Pathos nachsehen: Solcher "Lyrik" bedarf unsere Zeit nicht, solche "Lyrik" ist nicht die Antwort auf die brennenden Fragen unserer Zeit. Und es stellt sich ernstlich die Frage, ob nicht das Gros der heute unter dem Namen der "Lyrik" publizierten Texte besser ungedruckt - vielleicht sogar ungeschrieben - geblieben wäre.

Es mag freilich verfrüht sein, Nora Gomringer aufzugeben; auf der Suche nach der ihr eigenen authentischen Sprache liegt jedoch ein weiter Weg vor ihr, an dessen Ende womöglich das tatsächlich Neue, die Überwindung der Konventionalität des Neuen liegt. Allerdings fragt sich, ob solche Gedichte dann noch in das Programm irgendeines Verlages zu integrieren wären.

Titelbild

Nora Gomringer: Silbentrennung. Gedichte.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2002.
80 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3933749786

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