Die Reise eines Hermaphrodismus-Gens

Ulrich Matthes liest Jeffrey Eugenides Bestseller "Middlesex"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sprecher eines Hörbuchs trägt viel zum Gelingen des Projekts bei, vielleicht ebenso viel wie der Autor des Textes, welcher der Lesung zu Grunde liegt. Ist der Text nicht gelungen, kann der Sprecher ihn trotzdem manchmal retten, platte Figuren mit Leben füllen und durch seine Stimme den Anschein eines Charakters erwecken, wo auf dem Papier nur die Skizze eines solchen bestand. Ist der Text gelungen, kann die Lesung durch einen guten Sprecher, der die Feinheiten der Vorlage herauszuheben versteht, zu einem Erlebnis werden.

Jeffrey Eugenides hat einen wunderschönen Roman geschrieben, für den er mit dem "Pulitzer Prize for Fiction" ausgezeichnet wurde; Ulrich Matthes ist einer der besten Hörbuchsprecher, die es zur Zeit gibt - der Zuhörer darf also einen Hörgenuss erwarten. Und er wird nicht enttäuscht werden.

"Middlesex" ist ein Roman, der viele Geschichten gleichzeitig erzählt und dabei doch keine aus dem Auge verliert: Er erzählt die Geschichte eines Hermaphrodismus-Gens und dessen Weitergabe durch die Generationen. Die einer griechischen Einwandererfamilie in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die die Schwierigkeiten der Eingewöhnung im "gelobten Land", den Vereinigten Staaten, erlebt. Die einer inzestuösen Geschwisterliebe mit all ihren Problemen und Schuldgefühlen. Die Geschichte der Identitätsfindung der jungen Calliope, die als Hermaphrodit geboren und als Mädchen erzogen wird, als Mann lebt und schließlich als (allwissendes) Ich erzählt - ein Ich zwischen den Geschlechtern. Außerdem versucht der Roman eine Beantwortung der Frage, was den Menschen wohl mehr prägt: die Sozialisation oder die Erbanlagen - ohne übertünchen zu wollen, dass sich diese Frage selbstverständlich auch hier nicht abschließend beantworten lässt. Ein großes Vorhaben für einen einzelnen Roman, aber Jeffrey Eugenides weiß souverän zu erzählen: Kein Erzählstrang geht verloren, der Text verwebt all die unterschiedlichen Geschichten unauflösbar zu einem kunstvoll gearbeiteten Roman, der aber unangestrengt und mit leichter Feder geschrieben wirkt.

Der Roman springt zwischen den verschiedenen Zeiten hin und her, wenn der Erzähler wie auf einer Videokassette mal hierhin, mal dorthin spult, vom Beginn der Geschichte zum Ende rast und umgekehrt, um die Erlebnisse, die Eigenarten und Gefühle der Figuren zu beleuchten - eine Erzählweise, die auf einen Zuhörer verwirrend wirken könnte. Matthes gelingt es jedoch hervorragend, sowohl für Calliopes Jungmädchenstimme als auch für ihre spätere, männliche Identität und den androgyn wirkenden Erzähler einen überzeugenden Ausdruck zu finden, die verschiedenen Ebenen des Romans so auch im Hörbuch unterscheidbar zu machen. Auch alle anderen Figuren erhalten durch ihre unterschiedlichen Stimmen eine eigene Persönlichkeit, die noch im Alter mit starkem griechischen Akzent sprechende und immer leicht leidend erscheinende Großmutter Calliopes, Desdemona, ebenso wie ihr geliebter Großvater Lefty oder die junge und unbekümmerte Amerikanerin Jenny Simonson.

Die Unverstelltheit von Eugenides Erzählweise kommt Matthes dabei sehr entgegen, er liest den 'natürlich' erzählten Roman mit erfrischender Zurückhaltung und erliegt nicht der Versuchung, den leichten Stil des Textes mit bedeutungsschwangeren Pausen und gekünsteltem Pathos zu überfrachten. Statt dessen bewahrt er eine gewisse Distanz zum Text - eine Distanz, ohne die der hintergründige Humor überschattet würde, die Ironie des Romans verloren ginge. Der beste Schauspieler ist der, dem der vorzutragende Text wichtiger ist als die Selbstdarstellung - das gilt wohl auch für Hörbuchsprecher.

Titelbild

Jeffrey Eugenides: Middlesex. 8 CD.
Der Hörverlag, München 2003.
596 min, 39,95 EUR.
ISBN-10: 3899402812

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