Was noch zu lesen wäre

Die zehnbändige Neuausgabe von D.A.F. de Sades "Justine und Juliette"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Abschlussband der von Stefan Zweifel und Michael Pfister herausgegebenen, zehn Bände umfassenden Neuausgabe von Donatien Alphonse François de Sades "Justine und Juliette" liegt erstmals eine ungekürzte und unzensierte Ausgabe des Mammutromans vor. Zwölf Jahre sind zwischen dem Erscheinen des ersten und des letzten Bandes vergangen, mehr als 2.500 Seiten wurden mit den Horrorvisionen des 'göttlichen Marquis' gefüllt, neu übersetzt mit größtmöglicher sprachlicher Finesse, die auch auf die vom Autor so geliebten Wortspiele Rücksicht nimmt, soweit deren Übertragung ins Deutsche möglich ist. 2002 ist, ebenfalls bei Matthes und Seitz, dazu der Band "Pornosophie und Imachination - Sade, La Mettrie, Hegel" der beiden Übersetzer erschienen - mit Anregungen, Anmerkungen und als Versuch der Einordnung de Sades in die Reihe europäischer Denker.

Wieso aber de Sade lesen? Wieso sich auseinandersetzen mit seitenlangen Beschreibungen von Folter grausamster Art, auf die dann die ebenso lange philosophische Erklärung und Aufwertung der geschilderten Torturen folgt? Und dies immer und immer wieder, bis irgendwann die Langeweile den Leser einschläfert, ihn empfänglicher macht für die Einflüsterungen der Lektüre, bis der Schrecken ab- und das Interesse zunimmt?

De Sade zu lesen ist kein Vergnügen: In seiner Welt werden die Schwachen gefoltert und abgeschlachtet, die Starken jedoch überleben und triumphieren - weil es der Lauf der Welt ist, wie de Sade zu suggerieren scheint, weil es Naturgesetz ist, dass der Hilflose vom Mächtigen ausgenutzt wird. Und wieso auch nicht, gleicht der Mensch im Werk des Marquis doch einer Maschine, ist er ersetz- und austauschbar. Was kümmert es die ewig schöpferische Natur, wenn diese Masse Fleisch, die heute eine Frau ist, morgen in der Gestalt von tausend Insekten wiederkehrt?

Muss man das heute noch lesen, muss man sich heute noch mit den 'schwarzen' Seiten der eigenen Seele auseinandersetzen, sich klar machen, dass in uns allen, tief und tiefst verborgen dunkle Lüste wohnen? Sind wir uns nicht alle dessen bewusst?

Muss man das heute noch lesen, wenn man die Gewalt täglich viel näher erlebt, im Fernsehen, im Radio, im Internet? Wenn Hunderte von Menschen mit einer einzigen Bombe in den Tod geschickt, Frauen vergewaltigt, Kinder sexuell missbraucht, geschlagen und getötet werden, wenn Sades Fantasien also wahr zu werden scheinen? Braucht es wirklich noch eine Rechtfertigung all dessen?

Vielleicht schwingt in diesem Roman der Grausamkeiten aber noch eines, etwas ganz anderes mit - nämlich die Hoffnung, dass alles doch ganz anders sein könnte und ganz anders sein sollte. Wie Mario Erdheim einmal bemerkte: "Wer die Gewalt phantasiert und sie so ent-wirklicht, der zerbricht ihren Bann und muß sie weder gegen die anderen noch gegen sich selbst richten. Als der Marquis de Sade 1792 Kommissar und 1793 Richter der Revolution wurde, verfiel er nicht den terroristischen Gelüsten wie der tugendhafte und allen Phantasien abholde Robespierre. [...] Die Gewalt phantasieren heißt, sie als irreal und irrealisierbar setzen, so, wie es zum Beispiel der Marquis mit seinen Romanen tat."

Und vielleicht kann man das heute dann doch noch lesen - vielleicht nicht ganz und vielleicht nicht mehr, als der Einzelne verträgt - als Erinnerung und Aufforderung zum Nachdenken.

Titelbild

D. A. F. de Sade: Justine und Juliette. Werkausgabe Band 10.
Herausgegeben von Stefan Zweifel und Michael Pfister.
Matthes & Seitz Verlag, München 2002.
404 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3882218355

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch