Gehirn, Seele und Akustik

Caroline Welshs Dissertation erforscht den Zusammenhang zwischen Sinnesphysiologie, Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1800

Von Anja SchonlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Schonlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inmitten der mittlerweile geläufigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten über den Körper (vgl. literaturkritik.de, November 2003) fällt diese Monographie nicht nur durch ihren ungewöhnlichen Titel auf: Caroline Welsh hat mit ihrer Giessener Dissertation "Hirnhöhlenpoetiken" einen gelungenen Nachweis für die Notwendigkeit der Erforschung des Grenzgebietes zwischen Naturwissenschaft, Philosophie, Ästhetik und Literatur jenseits aller wissenschaftlichen Moden vorgelegt.

Welsh geht von der Beobachtung aus, dass um 1800 "gerade die noch relativ junge Disziplin der Ästhetik [...] sich zunehmend an wahrnehmungstheoretischen und sinnesphysiologischen Modellen orientierte", die "den Übergang zwischen Körper und Seele zu denken versuchten". Damit möchte sie "Veränderungen in den Vorstellungen zur Produktions- und Wirkungsästhetik zwischen der Spätaufklärung und der klassizistisch-romantischen Kunstperiode als Reaktionen auf unterschiedliche anthropologische Modelle zur Wahrnehmung hin lesbar" machen. Dieses Vorhaben gelingt Welsh dank intensiver Quellenstudien.

Im ersten, wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Teil analysiert sie die Verflechtungen ästhetischer, akustischer und sinnesphysiologischer Diskurse zwischen 1750 und 1810. Sie stellt dazu zunächst Leonhard Eulers Vorstellung des Menschen im Menschen, der Seele in der camera obscura des Körpers vor. Ein weit größeres Gewicht als die Denkmuster rund um das Auge hat die Akustik für die Arbeit. Dies beruht auf der rezeptionsästhetischen Bedeutung, die Welsh insbesondere dem nervenphysiologischen Resonanzmodell von David Hartley und Johann Gottlob Krüger, aber auch dem Klangfigurenmodell von Samuel Thomas Soemmering zumisst.

In den Ausführungen zu Soemmering erhält der Leser Aufschluss über den Ansatzpunkt des ungewöhnlichen Titels der Arbeit: Der Hirnforscher sieht in der Flüssigkeit der Hirnhöhlen das Organ der Seele, weil die zerebralen Enden aller Sinnesnerven darin einmünden. In Analogie zu Chladnischen Klangfiguren - Chladni bildete Tonschwingungen u. a. auf mit Sand bestreuten Glasplatten ab - nimmt Soemmering weiterhin an, dass die Sinnesnerven die Hirnflüssigkeit in Schwingungen versetzen können, welche miteinander korrespondieren, ohne sich aufzulösen. Welsh bezeichnet diese Schwingungsform als "WellenKlangfiguren", wobei sie offen lässt, warum sie den Begriff mit einer Binnenversalie schreibt. Dieser Prozess lässt sich nach Soemmering auch umkehren. Die "Spontanität der Seelenkraft" kann auch auf die Nervenenden zurückwirken, was die Autorin als entscheidend für die Bedeutung der Hirnflüssigkeit in den Texten der Romantik herausstellt. Johann Wilhelm Ritter entwickelt das Modell durch die unabhängige Instanz einer die Klangfiguren lesenden Seele weiter. In der Differenz zwischen dem passiven, nervenphysiologischen Resonanzmodell und diesem aktiven, subjektiven Modell der Wahrnehmung sieht Welsh den Wandel von der Darstellungsästhetik zu einer Autonomieästhetik.

Der Bedeutung dieser Modelle und ihrer wahrnehmungstheoretischen Konzepte für die Kunsttheorie in Philosophie und Literatur bzw. Poetik geht Welsh im zweiten und dritten Teil der Arbeit nach. Dabei lautet ihre zentrale These, dass die Theorie des Schönen bei Kant und Schiller ebenso wie die frühromantische Autonomieästhetik eine Reaktion auf die subjekttheoretischen Konsequenzen des Resonanzmodells der Spätaufklärung darstellt. Die Musik, ehemals in ihrer Materialität die gefährlichste Kunstgattung für das Subjekt, wird von Kant über Schiller zu Tieck zum Exempel romantischer Autonomieästhetik.

In der Literatur, so erläutert Welsh, bezieht sich Tieck noch nicht auf eine konkrete physiologische Grundlage. Erst Novalis nimmt Soemmerings Klangfigurenmodell poetisch auf und führt damit "die Verfahrensweisen ästhetisch-künstlerischer Produktionen explizit auf die physiologisch-geistigen Prozesse bei der Sinneswahrnehmung" zurück. Hierbei handelt es sich nach Welsh nun um die eigentliche "Hirnhöhlenpoetik". Diese definiert sie als eine Literatur, "die die Interaktion zwischen den an der bewußten Wahrnehmung beteiligten heterogenen Elementen des Physiologischen und des Geistigen am Übergang zwischen Körper und Seele ästhetisch ins Bild setzt, diese Prozesse zugleich zum Inhalt ihrer poetischen Darstellung macht - und selbstreflexiv auf die Bedingungen der Entstehung und Wirkung von Literatur hin befragt." Einfacher formuliert die Autorin am Beispiel des Konzepts der Ursprache von Novalis: "Sie will die Schrift zum Tönen bringen und die Einbildungskraft des Lesers zur Produktion innerer Bilder anregen." Als Hauptreferenz dient der Arbeit die Satire "Wunderbare Geschichte von BOGS, dem Uhrmacher" von Clemens Brentano und Joseph von Görres. Welsh zeigt, dass hier nicht nur das mechanistische Menschenbild der Aufklärung und mit ihm das Resonanzmodell, sondern auch die romantische Autonomieästhetik und die romantische Anthropologie persifliert wird.

Angesichts dieses neuen Forschungsstandes wäre nun der Blick über die deutschen Sprachgrenzen hinaus wünschenswert, insbesondere was die englische Romantik betrifft. Auch hier sind bereits erste entsprechende Studien geleistet worden, beispielsweise durch Alan Richardsons Arbeit "British Romanticism and the Science of Mind" (2001). Welshs Darstellung gibt außerdem Impulse, die weit über die Romantik hinausreichen: So erscheint Rainer Maria Rilkes jugendliche Idee, den Riss eines menschlichen Schädels durch ein Tongerät zum Klingen zu bringen, die er 1919 in seinem Essay "Urgeräusch" erläutert, vor dem Hintergrund der romantischen Akustikmodelle zum Gehirn in einem ganz neuen Licht.

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Caroline Welsh: Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800.
Rombach Verlag, Freiburg 2003.
328 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 379309362X

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