Eine Reise durch die Welt der Sprache und der Sprachen

Zu Jürgen Trabants Buch "Mithridates im Paradies"

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Titel von Jürgens Trabants Studie zum Sprachdenken steckt eine spannungsreiche und bezeichnende Szene, die wunderbar anschaulich macht, worum es Trabant in diesem Buch geht. Doch bevor man dies erkennen kann, muss Jürgen Trabant Mithridates, den man heutzutage kaum mehr kennt, vorstellen. Mithridates ist einer, der viele Sprachen kann; und zudem ist er ein Feind der antiken Weltmacht Rom mit ihrer fast schon biblisch-paradiesischen Einheitssprache Latein. Die Spannung besteht also zwischen den vielen Sprachen und der einen Sprache. Das ist nicht nur ein Spannungsbogen, der sich von der Empirie und der Realität der vielen Sprachen bis hin zu der Idee und der Idealität der Sprache als solcher erstreckt. Auf diesem Spannungsbogen beruht auch die Konzeption des Bandes, und das Feld, das damit eröffnet wird, nennt Trabant das Sprachdenken.

Die Geschichte dieses Sprachdenkens will Jürgen Trabant nachzeichnen. Gegenüber den großen Projekten, die Geschichten der Sprachen in einer Geschichte des Sprachdenkens monographisch nachzuzeichnen, nimmt sich Trabants Buch - wie er selbst deutlich macht - bescheiden aus. Gleichzeitig aber ist ein solcher Versuch auch vermessen, weswegen Trabant sich auch sofort entschuldigt. Er hat ein bestimmtes Anliegen, und dieses Anliegen ist es, zu zeigen, wie das Verhältnis zwischen den Sprachen und der Sprache immer neu bedacht und bewertet wurde. Es ist ein philo-logisches Interesse, ein Interesse, das sich aus Liebe zu den Sprachen speist. So wird das Buch zu einem Plädoyer für die Verschiedenartigkeit der Sprachen und für den Erhalt und die Pflege dieser Verschiedenartigkeit angesichts der neuen Sprachvereinheitlichung der - wie Trabant es nennt - Globanglisierung.

Doch für Bescheidenheit ist gar kein Anlass, im Gegenteil: Trabants Buch ist selbst eine große Monographie geworden, die durch das gesamte Sprachdenken von der biblischen Vorgeschichte über die griechischen Wurzeln der abendländischen (Sprach-)Kultur, über die Antike Welt, über die Renaissance in Italien und Frankreich, über die Neuzeit und Moderne Europas, über die Transzendentalphilosophie in Deutschland bis hin zu der angelsächsischen und kontinentalen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts führt. Und darüber hinaus ist es ein schönes Buch!

Diese Geschichte führt über unterschiedlichste Stationen; dass es Stationen einer Geschichte sind, macht Trabant deutlich, indem er für den Leser eine Reise inszeniert, die ihn über die unterschiedlichsten Orte führt, an denen das Sprachedenken stattgehabt hat. Die Reise beginnt - wo sonst - im Paradies und führt über Athen, Rom, Florenz, Bologna, London, Paris, Neapel, Riga, Tegel, Cambridge (USA), Cambridge (Großbritannien) bis in den Schwarzwald. Die Kenner können mit diesen Orten die entsprechenden Namen derjenigen wiedererkennen, die dort über Sprache nachgedacht haben, z.B. Sokrates, Platon, Aristoteles, Dante, Bacon, Descartes, Locke, Condillac, Leibniz, Herder, Humboldt, Chomsky, Wittgenstein und Heidegger.

Diese Reise kreuzt den Spannungsbogen mehrfach. Sie geht nicht kontinuierlich von der einen Sprache im Paradies zu den vielen Sprachen in der Welt von heute. Die babylonische Sprachverwirrung ist kein historisches Ereignis - weder historisch, noch Ereignis, sondern es ist ein Moment in einem Prozess, in dem die Vielheit der Sprachen immer wieder zum Thema, auch zum Problem wird, und in dem immer wieder versucht wird, die Verschiedenheit der Sprachen zu relativieren oder zu umgehen oder gar politisch abzuschaffen, sei es durch die römische Einheitssprache Latein des Imperiums bzw. der katholischen Kirche, sei es durch die philosophische Idealsprache, durch die Sprache der Mathematik oder durch die Globanglisierung unserer Tage. Der Prozess ist eher dialektisch, und Trabant listet sehr schön den Amplitudenausschlag auf, den Denker mit ihrem Sprachdenken der Entwicklung in der einen oder anderen Richtung gegeben haben.

So zeigt er, wie prägend die Auffassung von Aristoteles gewesen ist, der Sprache lediglich als kognitives Mittel der Erkenntnis begriffen und damit die konkrete Einzelsprachlichkeit weitestgehend relativiert hat. Diese philosophische Abwehr und Abkehr von der Einzelsprachlichkeit und der jeweils konkreten Sprachausprägung setzen sich auf philosophischem Terrain fort, wo es Bacon, Descartes oder Locke darum ging, Erkenntnisse sprachunabhängig zu sichern. Demgegenüber haben Condillac oder Leibniz die Verschiedenheit der Sprachen zumindest wahrgenommen oder ihnen sogar ein philosophisches Eigenrecht, eine Wesensart eingeräumt.

Auf der anderen Seite rekonstruiert Trabant den Typus des Höflings, der - anders als die Humanisten und Scholastiker - keine wissenschaftliche Schreibsprache, sondern eine pragmatische Sprechsprache braucht, um sich an den Höfen kommunikativ inszenieren und etablieren und auch schlicht und einfach verständigen zu können. Seine Haltung wurde als Sprezzatura gekennzeichnet, was die Franzosen mit nonchalance übersetzt haben. Trabant schreibt weiter: "in der deutschen Übersetzung [...] finde ich Lässigkeit. Das ist nicht schlecht, aber ich denke, die beste Übersetzung ins heutige Deutsch wäre coolness." Heutiges Deutsch? Das muss man Trabant schon zugute halten, wie souverän er selbst die Sprachen einsetzt, um die Muster von - wie wollen wir es nennen - Interlingualität nicht nur aufzuzeigen, sondern selbst zu vollziehen. Interlingualität wohnt daher auch ein Moment des Performativen inne, auf das Trabant ausführlich eingeht.

Besonders hebt Trabant das Sprachdenken von Herder und dann von Humboldt hervor, weil sie - wie die Philosophen Bacon oder Locke - die Sprache nicht mehr als Gegenspielerin der Erkenntnis sehen. Sie sind die ersten, die die sprachliche Verfassung der Erkenntnis herausgearbeitet haben. Sprache ist nicht "mist before our eyes" (Locke), sondern Sprache ist selbst Erkenntnisinstrument. Sprachlich erkennen wir die Welt.

Das sind auch die Gewährsleute, die den babylonischen Sündenfall im Nachhinein als Glücksfall erscheinen lassen. Dass Trabant hier in die Nähe einer theologischen Diskussion rückt, die in den technischen Maschinensprachen unserer Zeit einen Rückfall hinter die babylonischen Zustände in eine unerlaubte Hybris sehen, wird von ihm selbst nicht weiter reflektiert.

Doch gerade hier verbinden sich verschiedene Überlegungen: Das Wechselspiel von Diversität und Vereinheitlichung wird insgesamt von einer zirkulären Struktur abgelöst, die zu einem Zustand zurückführt, der dem Paradies zwar strukturell ähnlich, aber ihm eigentlich völlig entgegengesetzt ist. Denn neue Einheitssprachen führen zum Gegenteil dessen, wofür das Paradies stand. Anstelle der Bewahrung der Natur dienen die technischen Sprachen gerade dazu, die Natur umfassend zu unterwerfen und auszubeuten. Genau das ist übrigens ein Gedanke von Heidegger, den Trabant in seiner Heidegger-Besprechung hätte aufnehmen können. Heideggers Plädoyer für die Sprachlichkeit ist zugleich ein Plädoyer gegen die technische Ausbeutung der Welt.

Was diese Idee im besonderen und die Berücksichtigung von Philosophen wie Heidegger oder auch Wittgenstein im Kontext des Sprachdenkens im allgemeinen angeht, so zeigt sich doch, wie weit der Begriff des Sprachdenkens bei Trabant gefasst wird. Er versammelt darunter Dichter, Philosophen, Sprachwissenschaftler. Das ist das Innovative und vielleicht auch das Problematische an Trabants Buch. Dass Trabant die heutige Fächerklassifikation nicht mitmacht, die ein sprachwissenschaftliches Nachdenken über Sprache grundsätzlich von einem ästhetisch-poetologischen oder auch philosophischen Nachdenken unterscheidet, spricht für sein Buch. Andererseits entsteht dadurch aber auch die Notwendigkeit, die Geschichte des Sprachdenkens auf einen Sprachbegriff zu gründen, der die unterschiedlichen Facetten nicht nur umfasst, sondern zudem auch noch erklären kann, wie es zu dieser Auffächerung gekommen ist.

Und auch das gelingt Trabant bravourös. Denn den Spannungsbogen zwischen der einen Sprache und den vielen Sprachen kann er auf konkrete Probleme zurückführen, die sich als Schwerpunktsetzungen im ästhetischen, grammatischen (also weitgehend sprachwissenschaftlichen), hermeneutischen, semiotischen oder philosophischen Bereich verstehen lassen. Diese Probleme lassen sich in Fragen ausdrücken wie: Wie sind die Sprachen intern organisiert? In welchem Verhältnis stehen die Sprachen zu dem, was sie bezeichnen? In welchem Verhältnis stehen die Sprachen - historisch und systematisch - zueinander? Welche Erkenntnisfunktion hat die Sprache?

Dass allerdings das Feld doch ein wenig weit gespannt wird, wird an den letzten beiden Stationen - Cambridge und Schwarzwald - deutlich. Zwar kann Trabant Wittgenstein noch differenziert beurteilen, wo er einerseits sieht, wie der späte Wittgenstein die Verschiedenartigkeit sprachlicher Möglichkeiten in den Sprachspielen erkennt, andererseits wird Trabant Wittgenstein nicht ganz gerecht, wo er ihn in jene philosophische Tradition einreiht, die die Sprache für die philosophischen Probleme ausschließlich verantwortlich macht. So informativ es einerseits ist, wenn Trabant die Entstehung der Sprachwissenschaft nachzeichnet, so problematisch ist dies doch auch, wo es um den philosophischen Kontext von Denkern wie Wittgenstein oder Heidegger geht. Vielleicht ist hier der äußerste Rand dessen erreicht, was man noch sinnvollerweise mit dem Begriff des Sprachdenkens abdecken kann. Die Philosophien von Wittgenstein und Heidegger und ihre Art, Sprache philosophisch zu reflektieren, gehen jedenfalls darüber hinaus, denn bei den beiden Denkern steht ihr Sprachdenken im Dienste eines verbissenen Kampfes gegen das, was sie die Metaphysik nennen, also gegen ein Denken, das sich seine eigene Selbsterkenntnis verstellt. Diesen metaphysischen Kontext, der bei beiden Denkern unmittelbar mit ihrem 'Sprachdenken' verknüpft ist, gliedert Trabant aus dem Sprachdenken aus.

Wittgenstein spricht vom Feiern der Sprache. Er meint damit eine Sprachverwendung, die - unabhängig von ihren gängigen Funktionen wie Bezeichnung oder Kommunikation - lediglich ihrer Selbstperformance dient. Darin sieht Wittgenstein den Ursprung philosophischer Probleme; Heidegger hingegen feiert die Sprache - so Trabant. Was Trabant weniger berücksichtigt, ist, dass bei beiden nicht nur über Sprache nachgedacht wird, sondern dass Sprache selbst eine philosophische Bedeutung bekommt, zum philosophischen Medium wird: Sprachdenken nicht nur als (Nach-)Denken über Sprache, sondern als Denken mittels der oder gar gegen die Sprache.

Das Feiern der Sprache ist auch Trabants Sache nicht, wo es ihm um das Sprachdenken geht. Dennoch schließt Trabant mit einem persönlichen Plädoyer, wo er zugibt, welchen ästhetischen Genuss er dort erfährt, wo Sprache wirklich feiert, wie z. B. in der Lyrik oder selbst in den esoterisch anmutenden Passagen eines Heidegger. Ein solcher Genuss aber ist nur möglich, wo Mithridates und das Paradies nicht auseinander treten, sondern miteinander vermittelt werden. Trabant will weder der Diversität, der sprachlichen Zersplitterung, schon gar nicht aber der Einheitssprache das Wort reden. Sprache wird aber nur dort in ihrer vollen Dimension erkannt, wo man die Diversität und ihre Funktionalität anerkennt, dennoch aber nicht bei der Diversität stehen bleiben muss, sondern die Möglichkeit besitzt, sie auch in wechselseitiger Mehrsprachigkeit zu überwinden. Statt Vertreibung Versöhnung! Ginge es nach Trabant, dürfte Mithridates ins Paradies zurück - oder überhaupt erst einkehren.

Titelbild

Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
360 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 3406502008

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