Kreativität ist keine Blackbox

Zwei Ideen-Kochbücher von Mario Pricken

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor mir liegt ein Band mit dem Titel "Kribbeln im Kopf". Sie haben richtig gelesen: Kribbeln im Kopf. Demnach handelt es sich nicht um ein Fachbuch über Juckreiz, schmerzhafte Kopfhaut-Dermatosen, garstigen Schuppen- oder Läusebefall. Sondern um ein Buch über Kreativitätstechniken und "Braintools".

So kann man doch keine Rezension beginnen! Doch, man kann. Vor allem, wenn man einen Ratschlag des Autors Mario Pricken beherzigt, der da lautet: Du sollst ein Projekt verspielt und mit ungehemmter Kreativität beginnen! Erst in der späteren Bewertungsphase wird eine Idee auf ihre Tauglichkeit geprüft und berechtigte Kritik angebracht. Doch auch hier gilt: "Vermeiden Sie Ideenkiller."

Prickens übersichtlich und klar strukturiertes Buch schöpft aus den Erfahrungen zahlreicher Kreativmeetings. Ideen, so lässt uns der Autor immer wieder wissen, sind viel zu wertvoll und einzigartig, als dass man leichtfertig mit ihnen umspringen könnte. Das gleiche gilt natürlich auch für das kostbare Ideenreservoir im Kopf des Gegenübers. Ohne Spontaneität, Narrenfreiheit und die Bereitschaft, sich notfalls mit einer Idee lächerlich zu machen, geht es auch im Team nicht.

Nur ein Bruchteil der Rohideen hat das Zeug zum wirklichen Renner. Bevor sie in weiteren Kreativphasen angereichert, ausgearbeitet und feinjustiert werden, gilt es, möglichst in die Breite zu produzieren. Da Antworten immer nur so gut sind wie die Fragen, auf die sie folgen, steht im Zentrum dieses Kreativ-Kochbuchs ein "Clicking-Fragenkatalog", für den Pricken zahlreiche Kampagnen aus Print, TV und Marketing ausgewertet und zu Kommunikationsmustern und Denkstrategien formalisiert hat.

Das klingt kompliziert, ist in der Handhabung aber erstaunlich einfach und effektiv. Pricken formuliert systematisch Fragen und illustriert sie zusätzlich durch einschlägige Kampagnen. Zum Beispiel: "Wie lässt sich der Produktnutzen ohne Worte darstellen?", "Wie lässt sich durch Schock der Produktnutzen dramatisieren?" oder "Wie hätte der Benutzer seine Probleme früher ohne dieses Produkt lösen können?"

Trotzdem muss man "sein" Produkt nicht jedes Mal an den über 200 "Clicking"-Fragen vorbeischieben. Dafür sorgt schon eine zu Beginn der Ideensuche klar formulierte Zielvorgabe. Im übrigen merkt man schnell, auf welche Fragen das Produkt "anspringt" und bei welchen es stumm bleibt. Ein weiterer Vorzug ist, dass der Katalog auch Fragen aufwirft, die man sich selbst vielleicht nie stellen würde. Auf diese Weise retuschiert das Buch zahlreiche blinde Flecken des eigenen kreativen Bewusstseins.

In den anschließenden, wesentlich knapper gehaltenen Kapiteln des Buches stellt Pricken Modelle zur Funktionsweise von Pointen vor und unternimmt einen Abstecher zu den klassischen Kreativitätstechniken. Es folgen Visualisierungstools für TV- und Kino-Spots. Im Abspann dann eine Handvoll Interviews mit bekannten Kreativen wie Walter Lürzer und Stefan Sagmeister - mal in Deutsch, mal in Englisch.

In seinem Handbuch "Visuelle Kreativität" geht Pricken in Sachen kreativer Selbstreflexion noch einen Schritt weiter. Auf der Basis von Gesprächen mit international anerkannten Topkreativen erschließt das Buch die Welt der Tagträume und inneren Bildwelten als bewusst steuerbare Kreativressource.

Die wenigsten Kreativen können beschreiben, was genau sie tun, während sie arbeiten. Der Prozess der Ideenfindung wird üblicherweise als Blackbox wahrgenommen, in deren Inneren etwas Geheimnisvolles und Mysteriöses vor sich geht. Das bedeutet aber nicht, dass Kreativität nicht darstellbar und methodisch erlernbar wäre! Nur wer sich einen Einblick in die Struktur kreativer Prozesse verschafft, kann diesen sensiblen Prozess in sich zur vollen Entfaltung bringen.

Im Bereich des Visuellen, das zeigen die flankierenden Interviews, besteht die Aufgabe des Kreativen zunächst darin, den unkontrollierten Bilderstrom in den Griff zu bekommen und systematisch zu zerlegen, Unschärfen im Kopf besser zu fokussieren, Bewegung in Standbilder zu bringen oder die inneren Schwarz-weiß-Aufnahmen mit Farbe zu füllen.

Auch die weitere Arbeit wird als ein Spiel mit mentalen Bildern beschrieben: Bildelemente werden kombiniert, Szenen vertauscht oder Material hinzugefügt - bis hin zum "Durchspielen" kompletter Szenen im Kopf. Darüber hinaus kommen hier emotionale Elemente zum Tragen, denn der Kreative muss simulieren können, wie sich eine Sequenz nachher "anfühlt". Trotz genauer Kenntnisse über die Funktionsweise unserer Phantasie ist auch dieses Buch Prickens eher handlungs- als theorieorientiert.

In einer Art Grundlagentraining wird der Weg zu einem aktiven Sehen gebahnt: Gegenstände werden in Details zerlegt, aus Kontexten herausmodelliert, in ein anderes Licht gerückt, und so fort. Nach Experimenten mit Nachbildern und Bilderechos kommen Farbe und Gestalt hinzu. Jetzt wird der Kopf zum Filmprojektor. Er spielt nicht nur imaginäre Szenen ab, sondern modifiziert sie auch nach konkreten Anweisungen. Oder er integriert andere Wahrnehmungsaspekte wie Sehen, Hören, Riechen.

Schritt für Schritt wird so das bildliche Vorstellungsvermögen auf eine solide Basis gestellt, in seiner Komplexität gesteigert und flexibilisiert.

Derart gestählt ist der Kreative schließlich fit für das "visuelle Labor", die eigentliche Kreativitätsmatrix. Hier schlägt Pricken mit der gewohnten Strukturiertheit auf und führt den Leser durch ein breites Spektrum möglicher visueller Darstellungsformen. Dabei sind ihm über 750 Beispiele aus den Bereichen Grafikdesign, Werbung, 3-D-Animation und Computer-Games behilflich.

Was passiert, wenn ich die Perspektive verändere? Wie manipuliere ich Körper und Objekte? Weitere Kreativ-Strategien sind: Rollen tauschen, Proportionen verändern, Mikroansichten erzeugen, Mehrfachdeutungen inszenieren, mit Ebenen spielen, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen, Sichtbares unsichtbar machen, Naturgesetze aushebeln.

Keine Frage, auch "Visuelle Kreativität" ist ein anregender Impulsgeber, der originelle Lösungen aus dem Kopf des Kreativen herauskitzelt und ihn durch eine Vielzahl intelligenter Fragen auf neue Wege führt. Beide Bücher leisten keine deprimierende "Entzauberung" der Kreativität. Sie liefern eine Gebrauchsanweisung für dieses sonst nur laienhaft beherrschte Instrument. Im Idealfall befördern sie den Nutzer vom Statisten zum Regisseur seiner Phantasiewelten.

Titelbild

Mario Pricken: Kribbeln im Kopf. Kreativitätstechniken und Brain Tools für Werbung und Design.
Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2002.
237 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-10: 3874395820

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Mario Pricken: Visuelle Kreativität. Kreativitätstechniken für neue Bildwelten in Werbung, 2D-Animation und Computer-Games.
Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2003.
231 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3874396371

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