Reisen zu Lüsten

Henri Michaux denkt Quergedanken

Von Dirk FuhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Fuhrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer, der "Quergedanken" denkt, hat es nicht immer leicht in der Literaturgeschichte. Henri Michaux wurde in Deutschland lange Zeit vernachlässigt. So recht schien das fragmentarische und sperrige Werk in kein Verlagsprogramm zu passen. Hier und da erschien ein einzelnes Buch, immerhin widmete Eichborn einen Band seiner "Anderen Bibliothek" dem Belgier, rechtzeitig vor seinem 100. Geburtstag im Mai 1999. In Frankreich wurde er im Vorfeld des Jubiläums in den Klassiker-Kanon aufgenommen: In Gallimards "Bibliothèque de la Pléiade" ist der erste Band einer dreiteiligen Werkausgabe erschienen - im Land der wohlkalkulierten literarischen Ehrungen ein untrügliches Zeichen für die Bedeutung, die dem Autor zugeschrieben wird. Im deutschsprachigen Raum musste erst der kleine Literaturverlag Droschl aus Graz kommen, um diesen Reise- und Drogendichter ins Bewußtsein der Leser zu heben. Nach und nach sind Bücher auf Deutsch zu lesen, die so wundersame Titel tragen wie "Im Land der Zauberei", "Erkenntnis durch Abgründe" oder "Ein Barbar in Asien".

Die deutsche Erstausgabe der "Passagen", in der präzisen Übersetzung von Dieter Hornig und Elisabeth Walther, präsentiert eine Sammlung von Artikeln, Aphorismen und Gedichten, die Michaux zwischen 1938 und 1959 in verschiedenen Zeitschriften, Ausstellungskatalogen oder als Einzeldrucke veröffentlichte und die einen Schnitt durch seine Ideenwelt liefern. "Quergedanken" lautet der erste Abschnitt in diesem Werk, das von den Gesichtern junger Mädchen in Asien genauso handelt wie vom "Abenteuer der Linien" in der Malerei oder dem Gemurmel der Undinen am Ufer des Rheins. Kreuz und quer zu den rechtwinkligen Koordinaten eines strengen intellektuellen Gebäudes verlaufen die Gedankenströme des Henri Michaux. Seine Überlegungen zur Erdrotation am Äquator - "Die 465 Meter pro Sekunde in diesen Ländern, wogegen ich in Breiten zur Welt kam und lebte, in denen sich die Erde mit einer Geschwindigkeit von nur 250 Metern in der Sekunde dreht, mußten auf mich, der ich für Drehungen so empfindlich bin, unweigerlich einwirken" - liegen bei ihm nur wenige Zeilen entfernt von einem Exkurs über die Vergänglichkeit. Und noch ein paar Sätze weiter ist er in einem technisch-militärischen Himmel angekommen: "Wird man bald die Engel bombardieren?... Es ist unwahrscheinlich, daß es angesichts der gewaltigen Produktion von kleinsten und verschiedenartigsten physikalischen Erschütterungen nichts geben sollte, das sie stört. Bereiten wir uns darauf vor, den Raum schreien zu hören." Als Michaux das schrieb, im Jahr 1942, waren Satelliten, Mobiltelefone und der Begriff Elektrosmog noch unbekannt.

Der Raum ist in Henri Michaux' dichterischem Universum ein zentrales Element. Nicht nur, weil der Autor einen Großteil seines Lebens auf Reisen verbracht hat. Von 1927 bis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war Michaux in Südamerika und Asien unterwegs, nachdem er im Alter von 20 bereits als Matrose angeheuert - und damit die jugendlichen Ideen, Arzt oder Mönch zu werden, über Bord geworfen hatte. Der kränkliche, schwächliche Sohn eines reichen Bürgers aus Namur im französisch-sprachigen Teil Belgiens suchte aus der Enge seiner häuslichen Umgebung sein Heil in der Flucht übers Meer, "dieses auf das Unermeßliche, das Unbekannte geöffnete Fenster".

Zwar besuchte er zahlreiche Länder und Kontinente, diese Fahrten brachten ihn jedoch nie an Orte, an denen er sich längere Zeit aufhalten wollte. Als Reisenden, dem keine Gegend gefällt, bezeichnete er sich. Weder ganz in den Landschaften der Literatur, noch in den Räumen der Malerei, der er sich seit den fünfziger Jahren verstärkt zuwandte, mochte er sich einrichten. Vom unentschlossenen Wandeln zwischen den Welten, von den Übergängen zwischen den Künsten erzählt Michaux' "Passagen"-Werk. Der Sammelband lässt sich an einer beliebigen Stelle aufschlagen und gibt jeweils einen zunächst offenbar zusammenhanglosen Aspekt dieses verschlungenen, vielschichtigen Denkens frei. Urplötzlich sieht man sich versetzt in Reflexionen über die Stilleben eines Paul Klee, dann wieder über "ein gewisses Phänomen namens Musik"; oder liest einen Aphorismus zur Verteidigung des gemeinen Schädlings: "Die Ratte ist nach zwei Stunden in praller Sonne verloren. Sie bekommt Sonnenkrebs. Wer wird ihr dann verübeln, wenn sie dem Licht den stärkenden Schatten der Kloaken vorzieht?"

Michaux wurde am bekanntesten durch seine Experimente mit Drogen. Äther, Haschisch, aber vor allem Meskalin probierte er während der sechziger Jahre aus. Anders als ein Baudelaire, auf den er sich neben Blaise Cendrars immer wieder bezieht, setzte er seine Rauscherfahrungen in erster Linie nicht in Literatur um, sondern vor allem in Malerei: "Die Verlagerung der schöpferischen Aktivitäten ist eine der seltsamsten Reisen, die man in sich machen kann."

Aber auch seine Texte, ohne den Einfluss von Drogen geschrieben, zeugen von der hohen Sensibilität seiner Sinne und der Lust an entgrenzenden Körpererfahrungen. Seine Anfälligkeit für Gerüche, der Kitzel des freien Falls: Was heute die Freizeit-Mutprobe des Bungee-Sprungs ist, findet sich bei Michaux in der Anekdote von einem Londoner Feuerwehrmann, der vom Strahl des Löschschlauchs bis zur sechsten Etage katapultiert wird. Für die "köstlichen Sekunden" des Schwebens ist der Schmerz des Aufpralls kein zu hoher Preis, denn nur "wirklich wohl fühlt man sich, wenn man fällt". Den privat glücklosen Henri Michaux, der am 19. Oktober 1984 als französischer Staatsbürger in Paris starb, trieb die Suche nach Übergängen um, nach "Passagen" hin zu anderen Wirklichkeitserfahrungen: "Im Grunde bin ich gereist, um Stimmungen zu erleben, die zu anders gearteten Ideen, zu neuen Gelüsten bewegen." Ewiges Fernweh - mit diesem Grundgefühl bietet sich Michaux am melancholischen Ende dieses Jahrhunderts zur Neu- oder Wieder-Entdeckung an.

Titelbild

Henri Michaux: Passagen.
Literaturverlag Droschl, Graz 1999.
80 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3854205171

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