Ein Bier für Professor Gaede

Axel Mattenklotts und Alexander Schimanskys "Werbung"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bauch trifft Kopf, Emotionen begegnen Verstand, Theorie prallt auf Praxis. Die Forderung nach einer angeblich zurück zu gewinnenden "Einheit" der beiden Antipoden ist so alt wie unsinnig. Denn was unter der Losung "Ganzheitlichkeit" an disparaten Elementen zusammengeführt wird, war in Wirklichkeit nie voneinander getrennt. Jedes Praxisfeld ist wenigstens potenziell angewandte Theorie, jedes theoretische Konzept bewusst oder unbewusst praxisgeleitet.

Wenn Axel Mattenklott und Alexander Schimansky in ihrem engagierten Sammelband "Werbung" also 25 Wissenschaftler und Werbepraktiker zwecks Ideenaustausch und wechselseitiger Befruchtung an den runden Tisch bitten, so muss man augenzwinkernd feststellen: sie sitzen schon. Aber, und das verleiht dem vorliegenden Buch seine Berechtigung, sie wussten vorher vielleicht nur noch nichts davon. Der runde Tisch. Einmal angenommen, dieses Möbelstück hätte eine andere Form, es wäre beispielsweise viereckig, so würden an einem der zwei Kopfenden wie selbstverständlich die beiden Vorzeige-Kreativen Sebastian Turner (Scholz & Friends) und Jean-Remy von Matt (Jung von Matt) Platz nehmen.

Von Matt, ein Beau im Designeranzug, ziert sich nicht lange. Er wünscht sich von den Marktforschern am anderen Ende des Raumes schnellere und günstigere Pretests: "Die meisten Kreativen arbeiten völlig im Dunkeln. Etwas mehr Licht wäre gut." Das Problem mit den Befragungen ist hinlänglich bekannt. Auf dem Weg von der Fußgängerzone in die Räume des Marktforschungsinstituts verwandelt sich der Teilnehmer in einen "Kritik-Junkie", ein "Monster". Als Proband reagiert er nicht mehr unmittelbar und impulsiv, sondern überlegt und distanziert. Das verzerrt die Ergebnisse der Befragungen oft bis zur Unkenntlichkeit. Dagegen könnte ein Videomitschnitt die potenziellen Konsumenten in freier Wildbahn zeigen.

Von Matts Tischnachbar rückt die randlose Brille zurecht. Sebastian Turner benutzt die Instrumente der Marktforschung zur Analyse von Wettbewerbssituationen und zur Klärung von Verständnisfragen beim Probelauf für Kampagnen. Bei den Einschätzungs- und Geschmacksfragen sieht auch er Vorsicht geboten: Oft wird das Unerwartete im Testumfeld von vornherein in einer zurückhaltenden und ablehnenden Haltung wahrgenommen. Da muss man sich bei der kreativen Arbeit schon vorsehen, dass man einer Werbeidee nicht vorschnell den kreativen Stachel zieht. Von der Werbeforschung erhofft sich Turner ebenfalls plausiblere, leichter handhabbare und verständlichere Ergebnisse. Schließlich findet kein Kreativer die Muße, sich durch unverständliches Wissenschaftskauderwelsch hindurchzuquälen!

Turner gibt das Stichwort. In der Tat! Die wissenschaftliche Erforschung von Werbewirkungen, reden Stefan A. Jenzowsky und Alexander Schimansky dazwischen, sorgt mit ihrem undurchschaubaren Repertoire an Modellen und Methoden, mit ihren "kognitiven Landkarten", "Brand Awareness-Koeffizienten" und mehrstufigen "Überzeugungsphasenmodellen" für heillose Verwirrung. Die für den Kunden so wichtigen Erfolgsmeldungen, die mit diesen Maßnahmen eruiert werden sollen, sind auf Sand gebaut, solange die Werbewirkung selbst als Blackbox behandelt wird: Was wirkt an Werbung eigentlich wie? Und warum? Derzeit sind lediglich einige Grundannahmen und Messverfahren vorhanden, es fehlt ein theoretischer Überbau. "Diese Situation", meinen die Jenzowsky und Matteenklott, "verlangt nach einer unabhängigen praxisorientierten wissenschaftlichen Werbewirkungsforschung ..." Und, mit gedämpfter Stimme: " ... die es nicht gibt."

Zigarettenpause im Hof. Blauer Dunst ventiliert die Ventrikel. Jetzt ergreifen führende Köpfe großer Agenturen wie Grey, Young & Rubicam oder FCB das Wort. Das sind Werbeleute, die zugleich "wissenschaftlich" denken und arbeiten. Darunter Bernd M. Michael, der gegen die abnehmende Bedeutung der Marken im Zuge der "Aldisierung" der Welt anwettert. Den Ausweg aus Misstrauen, Verwirrung und Übersättigung erblickt er in einem Wertschöpfungsmodell, das den Verbraucher als dritte Größe neben Kunden und Agentur in die Kommunikation mit einbezieht. Vordringen zu den "Consumer Insights", lautet also die Lösung. Ein Vorschlag, der ihm übrigens seitens der qualitativen Marktforscher ein anerkennendes Raunen einbringt. Auch Susanne Paul (creative analytic 3000), Paul McGowan & Marcus Thiel (Added Value Company) und Hanno Fischer & Eva Altenburg (contest census) fischen in den Tiefen der Verbraucherseele.

Wieder zurück im Sitzungssaal. Mittlerweile hat sich die Stimmung merklich entspannt, auch die in Anzüge aus der vorletzten Saison gehüllten Akademiker am anderen Tischende wirken unverkrampfter. Herbert Putz und Gerhild Werner nutzen die friedfertige Stimmung, um ein agentureigenes Analysetool vorzustellen, das einen detaillierten Zustandsbericht einer Marke geben kann. Dabei schöpfen sie aus der weltweit größten Datenbank für Konsumenteninformationen. Und Udo Klein-Bölting referiert die Essentials der integrierten und strategischen Markenkommunikation. So viel also von den Agenturleuten, von denen wir nebenbei noch etwas über die Geheimnisse erfolgreicher Kommunikation, die strategischen Voraussetzungen für gute Agenturarbeit und die Bedeutung der Mitarbeiter für Spitzenleistungen erfahren.

Es folgt ein Intermezzo der Marktforschung. Welche neuen Ergebnisse gibt es zu vermelden? Die herkömmlichen soziodemographischen Zielgruppenmodelle, konstatiert Manfred Niesel (BAC Advertising Center), haben sich mittlerweile in psychografische verwandelt. In das Fadenkreuz der Markforscher wandern jetzt nicht mehr Alter, Geschlecht und Einkommen, sondern die jeweiligen Lebensstile. Ein entsprechend verfeinertes Analysetool zur Erfassung von Lebenswelten trägt den wohlklingende Namen "Typologie der Wünsche" und spaltet die ahnungslose Bevölkerung in Milieus wie "Konsum-Materialisten", "Hedonisten", "Experimentalisten", "Postmaterielle", "DDR-Nostalgische" und andere mehr. In den Gesichtern der Kreativen ein breites Grinsen. Der verbeamtete Tiefsinn schweigt. In diese Verlegenheitspause hinein skizzieren die Mitarbeiter der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), wie sie Erfolge der Fernsehwerbung wirksam kontrollieren. Abschließend gibt Dirk Engel ein "Betriebsgeheimnis" preis und plaudert über "media in mind", eine Studie zur gezielten Zielgruppenansprache.

Leises Räuspern. Auftritt der Herren Professoren. Was kommt nun? Gelehrte Vorträge mit erhobenem Zeigefinger? Intellektuelle Salti? Doppelter Magenbitter an der Bar jeder Vernunft? Ja und Nein. Manche der akademischen Würdenträger sind selbst Männer der "Praxis" und kennen das Agenturgeschäft aus nächster Nähe. Ihre Wortbeiträge reichen von erfolgreicher Markenführung und neuen Modellen der strategischen Planung über globale Werbestrategien und Werbung im Internet bis zur Erforschung der Informationsverarbeitung in den Köpfen der Verbraucher. "Oldtimer" wie Werner Gaede wirken auf ihrer Suche nach universellen Prinzipien der Werbung etwas betulich. Auch Erwin Geldmacher kann mit seiner Lobeshymne auf die Faszination der Marke wenig faszinieren. Erst recht nicht mit seinem aus uralten Archivunterlagen hervorgekramten Beispiel einer "Ernte 23"-Kampagne.

Eben beginnen die Agenturchefs unruhig auf ihren Stühlen hin- und herzurutschen und ihre Zigarettenschachteln zu befingern (natürlich keine "Ernte 23"!), da gelingt es Axel Mattenklott mit "Werbung und Gefühl" die Aufmerksamkeit für das "Emotional bonding" zu fesseln. Unter den verfügbaren Erklärungsansätzen, wann und in welcher Form Werbung emotional erlebbar ist, favorisiert er ein Modell, demzufolge die Markennutzung Gefühlserlebnisse in Aussicht stellt, die für die Konsumenten selbst erstrebenswert sind. Doch schon wieder gibt es einen Wermutstropfen zu schlucken: ein differenziertes Wissen über Gefühls- und Motivstrukturen ist heute noch nicht verfügbar.

Die Wehklage über die Versäumnisse der Wissenschaft ist noch nicht ganz verstummt, da überrascht René Heymann (Heymann Schnell) die Anwesenden mit der angriffslustigen These, dass im Werbealltag nicht die objektiv beste, nach wissenschaftlichen Modellen und Methoden geformte Idee gewinnt, sondern häufig die zweitbeste, weil sie dem Kunden persönlich gefällt. In der Werbung findet das Entertainment also nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera statt. Das Zünglein an der Waage ist und bleibt die mitreißende Präsentation der Entwürfe! Von Matt schenkt sich mit lässiger Geste ein Glas Obergäriges nach, die Herren Professoren Gaede und Geldmacher lassen die Adamsäpfel hüpfen.

Und die Zukunft? Was bringt die Zukunft? Dazu hatte jeder der Anwesenden schon etwas verlauten lassen. Mehr oder weniger. Aber jetzt noch einmal geballt: "Zukunftsperspektiven der Konsumgesellschaft". Professor Lorenz Fischer zückt das Manuskript, Professor Günter Wiswede nimmt ein Pfefferminz und schöpft frischen Atem. Stichelnder Kontakt mit der Parodontose.

Bevor der erste Sprecher ansetzen kann, blenden wir die Szene aus und ziehen Bilanz. Blockaden und Hindernisse im gemeinsamen Erkenntnisfortschritt von Werbeforschern und Werbepraktikern lassen sich nur beseitigen, wenn beide Seiten sie reflektieren und Bereitschaft zeigen, über den eigenen Schatten zu springen. Ob das hier geschehen ist, werden kommende Treffen und Zusammenkünfte zeigen. Doch irgendetwas wird schon haften geblieben sein von der Erkenntnis, dass weder Kopf noch Bauch entbehrlich sind, da sie zum selben Organismus gehören. Soeben verlangt es aus der Wissenschaftler-Ecke nach einem Bier. Erst leise, dann immer vernehmlicher.

Titelbild

Axel Mattenklott / Alexander Schimansky (Hg.): Werbung. Strategien und Konzepte für die Zukunft.
Verlag Vahlen, München 2002.
623 Seiten, 90,00 EUR.
ISBN-10: 3800627825

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