Viel versprochen und wenig gehalten

Gerd Irrlitz' "Kant-Handbuch"

Von Anke Lindemann-StarkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Lindemann-Stark

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine lange und gute Tradition des Hauses Metzler ist der Verlag von wissenschaftlichen Handbüchern, die insbesondere für eine studentische Klientel erschwinglich sind. In den letzten Jahren werden forciert Autorenhandbücher herausgegeben: 15 Titel zu Musikern, Dichtern und Philosophen sind seit 1995 neu erschienen. Doch so sehr auch die Reihe im Ganzen zu begrüßen ist, so muss bei jedem einzelnen Titel gefragt werden, ob das hohe Niveau und insbesondere der Anspruch an ein Handbuch erreicht wird.

Wie die meisten Bände der Reihe ist das "Kant-Handbuch" noch im Sommer 2002 mit dem Untertitel "Leben - Werk - Wirkung" angekündigt worden. Der wenig später erschienene Band trägt jedoch nur noch den Untertitel "Leben und Werk". Nicht ganz überzeugend heißt es in der Einleitung dazu: "Ein Abriss der Geschichte der Kant-Interpretation konnte schließlich nicht mit aufgenommen werden, um den Band nicht noch mehr zu erweitern."

Der Philosophiehistoriker Gerd Irrlitz ist Herausgeber und alleiniger Verfasser des Handbuchs. Das überrascht, denn Immanuel Kant hat nicht nur ein recht stattliches philosophisches Œuvre hinterlassen. Außerordentlich ist seit mehr als 200 Jahren sein Einfluss auf die Philosophie- und europäische Kulturgeschichte; Jahr für Jahr erscheint eine wahre Flut Kant-spezifischer Literatur auf dem internationalen Buchmarkt. Da fragt man sich unvermittelt, wie eine Person die Aufgabe im Alleingang bewältigen will. Haben doch an den ebenfalls im Metzler-Verlag erschienenen Handbüchern zu den Philosophen Heidegger (2003) und Nietzsche (2000) jeweils circa fünfzig Wissenschaftler mitgewirkt.

Eine 29 Seiten starke Einleitung umreißt die philosophische Thematik, die Aufgabenstellung und die Methode des Verfassers. Eine Einführung "ins Verständnis der Kantschen Theorie" will das Handbuch leisten. Es zeichne, so Irrlitz, "vor allem die Gedankengänge der einzelnen Schriften Kants nach, mit dem Ziel, die Kantsche Theorie in den verschiedenen Problemstellungen und Lösungsschritten als eine Einheit zu umreißen. Die den Kapiteln und deren Abschnitten beigegebenen Literaturverzeichnisse verweisen auf weiterführende Literatur zu einzelnen Themen." Auch verspricht Irrlitz, "Theorien der Zeit und begriffsgeschichtliche Zusammenhänge, die fürs Kant-Verständnis wichtig sind", einzubeziehen. Einige erläuternde Worte zu dem wenig eingängigen Aufbau des Handbuchs wären allerdings ebenfalls wünschenswert gewesen.

Das Handbuch ist gegliedert in fünfzehn, nicht numerierte Kapitel von unterschiedlichem Umfang. Das erste Kapitel ist biographischer Natur. Zweites bis dreizehntes Kapitel haben die von Kant selbst publizierten Werke, also etwa die Abteilung I (Werke) der Akademie-Ausgabe "Kant's gesammelte Schriften" (Berlin 1900 ff.) zum Gegenstand. Im vierzehnten Kapitel rollt Irrlitz die Geschichte der Akademie-Ausgabe auf und bespricht summarisch die Abteilungen I (Werke), II (Briefe), III (Handschriftlicher Nachlaß) sowie IV (Vorlesungen). Zeittafel, Bibliographie, Personen- und Sachregister werden dem Leser schließlich noch in einem Anhang oder fünfzehnten Kapitel geboten.

Betrachtet man nun das Buch im Ganzen und in seinen Teilen oder Kapiteln unter dem Anspruch eines Handbuchs, welches die Erschließung von Leben und Werk des Königsberger Philosophen einfordert, so muß man erhebliche Mängel konstatieren.

Erstens: "Leben - Zeit - Weg des Denkens" nennt Irrlitz das erste Kapitel seines Buchs. Dem Leben widmet er, wenn man großzügig rechnet, zwölf Seiten. Bezogen auf den Untertitel des Handbuchs erscheint dies mehr als dürftig. Eine Darstellung, die einen Zusammenhang zwischen äußerem Lebensablauf und innerer Entwicklung herstellt, gelingt Irrlitz nicht. Ob er dies überhaupt beabsichtigt hat, wird nicht ganz klar. Nach den Überschriften zu urteilen, scheint Irrlitz in einem ersten Block (Königsberg - Geistiges Leben - Universität) die örtlichen Voraussetzungen für die Entwicklung des Philosophen beschreiben zu wollen, in einem zweiten (Kants Herkunft - Schule, Studium - Dozent, Universitätsprofessor - [ohne Titel]) die wichtigsten Lebensstationen und abschließend in einem dritten Block (Bild der Persönlichkeit) im Charakter den Zusammenhang von Leben und Werk. Dass dieser Ansatz auf so eingeschränktem Raum nicht gelingen kann, dürfte jeden, der sich mit der komplexen Materie schon einmal beschäftigt hat, nicht verwundern. Dem Leser präsentiert sich denn auch unter keinem der genannten Themen ein befriedigender Überblick. Vieles muss demjenigen, der durch das Handbuch Orientierung sucht, unverständlich bleiben, wie die genannten Personen, die von zwei drei Ausnahmen abgesehen, nur Nachnamen erhalten, manchmal Initialen und wenn es hoch kommt noch Berufsbezeichnungen, und ohne Alter bleiben. Da fallen denn auch Ungenauigkeiten nicht ins Gewicht, wie der Satz "Kants Freundeskreis bestand aus Kaufleuten, Juristen, Ärzten, Theologen, auch einigen Universitätskollegen." Nun ist diese Liste zwar keinesfalls vollständig und könnte mit Kommilitonen, Studenten, Beamten, Adligen, Offizieren, Frauen etc. fortgesetzt werden, aber sie sagt eben auch ohne oder mit Ergänzungen wenig aus. Denn sie berücksichtigt nicht die verschiedenen Phasen eines immerhin fast 80-jährigen Lebens und sie macht die Freundschaften in ihren je unterschiedlichen Eigenarten nicht plastisch. Es ist müßig, auf weitere Defizite im Detail einzugehen. Der biographische Überblick ist gründlich misslungen und eignet sich nicht zur Orientierung. Den Zusatz "Leben" im Untertitel des "Kant-Handbuchs" rechtfertigt er nicht.

Qualitativ anspruchsvoller und souverainer vorgetragen sind im Folgenden dieses ersten Kapitels zweifellos die Begriffserklärungen und historischen Zusammenhänge, die zu ausgewählten Themen und Debatten der Aufklärungszeit gegeben werden. Gleiches gilt für die Einführung in Kants "Weg des Denkens".

Zweitens: In der Werkanalyse (2. bis 13. Kapitel) hat Irrlitz eine von der Akademieausgabe und der Chronologie der Publikationen abweichende eigene Reihenfolge gewählt. Im Mittelpunkt der 'Referate und Interpretationsansätze' stehen die systematischen Schriften, die ausgehend von der "Kritik der reinen Vernunft" (1781 und 1787, 4. und 5. Kapitel) und endend mit der "Metaphysik der Sitten" (1797, 13. Kapitel) chronologisch vorgestellt werden. Die übrigen Schriften - in etwa genauso umfangreich wie die systematischen - werden in insgesamt drei Kapiteln besprochen. Die Publikationen vor 1781 verteilt Irrlitz auf zwei Gruppen: Erstens 'frühe naturphilosophische und metaphysische Schriften'. In dieses Kapitel nimmt er auch ' 'spätere kleinere naturphilosophische Aufsätze' sowie die 'Geographie-Vorlesung', die Kant von 1756 bis in die 1790er Jahre gehalten hatte, auf. Die zweite Gruppe (3. Kapitel) umfasst die "metaphysikkritischen Schriften" der 1760er Jahre und die Disputation von 1770. Im vorletzten, zwölften Kapitel findet man schließlich unter dem Titel "Aufsätze und Schriften der 80er und 90er Jahre" (S. 405-447) neben den kleineren Aufsätzen und Arbeiten auch die drei Abhandlungen "Zum ewigen Frieden", "Der Streit der Fakultäten" und die "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" besprochen.

Gegen die Unterteilung ist nichts einzuwenden. Allerdings hätte man insbesondere in einem Handbuch eine Erklärung und Begründung dieser Schwerpunktsetzung erwarten dürfen. Ebenso hätte der Hinweis nicht fehlen sollen, dass diese Anordnung nicht eine allgemein übliche ist und mit der Seitenzahl der gedruckten Texte nicht korreliert. Allerdings erschwert die gewählte Gruppierung die Suche nach einzelnen Beiträgen, und es wäre daher zu wünschen gewesen, dass im Anhang auch ein Werkregister aufgenommen worden wäre, das ein schnelles, erfolgreiches Auffinden im Handbuch hätte ermöglichen können. Nicht gegeben ist dies vor allem bei manch kleineren Schriften, die nur en passant in Einleitungen oder Übergängen oder wie die Aufsätze zum Philanthropin (1776, 1777) im biographischen Kapitel erwähnt sind.

Und gleichermaßen hätte man zumindest bei den eben nur erwähnten oder mehr oder weniger detailiert besprochenen kleineren Schriften mit dem Stellenverweis auf die Akademieausgabe die Nutzerfreundlichkeit erhöhen können.

"Gewiss", so hatte Irrlitz in Anlehnung an Günther Patzig in der Einleitung angemerkt, "liest jeder den Kant, von dem er am meisten lernt". Es dürfte nicht überraschen, dass Irrlitz mit seinen "Referaten und Interpretationsansätzen" eindeutige Schwerpunkte in seiner Darstellung der Philosophie Kants setzt und entsprechend anderes vernachlässigt. Dies wäre in der vorhandenen Schärfe sicher bei einer größeren Autorengruppe ebensowenig hervorgetreten, wie die nicht selten unausgewogenen Interpretationen einzelner Werke oder Abschnitte, in denen man die differierenden Rezeptionsansätze oft vergeblich sucht. Schon Otfried Höffe ("F. A. Z." vom 22. Nov. 2002) hat dies am "Kant-Handbuch" bemängelt. Dass Irrlitz nicht durchgehend auf dem neueren Stand der Kantforschung ist, hat er selbst schon indirekt in der Einleitung angedeutet, wenn er schreibt: "Auch der breite Strom der Kant-Interpretationen, der jährlich Tausende von Arbeiten zum Kantianismus mit sich führt, ist nicht überschaubar." Dies mag vielleicht noch zu akzeptieren sein, problematischer aber - insbesondere in einem Handbuch - erscheint der Rezensentin die Äußerung: "Wie könnte ich, beim Reichtum allein der deutschen gegenwärtigen Kant-Literatur die Autoren und Schriften nennen, deren Interpretationen ich viele Einsichten verdanke, die im Handbuch wiederkehren."

Erfreulich ist es, dass Irrlitz das 15. Kapitel mit einer ausführlichen Besprechung der Akademieausgabe anfügt. Spätestens an dieser Stelle aber hätte man klare Hinweise auf Neueditionen erwarten dürfen, die über den Stand der vielfach überholten Bände hinausgehen und deren lange bekannten Mängel beseitigen. Dahin gehören zum Beispiel die neu kommentierten Einzeleditionen der Werke in der "Philosophischen Bibliothek" des Felix Meiner Verlags.

Drittens: Im gesamten Handbuch vermisst man Unterteilungen der Literaturverzeichnisse in Quellen, Primär- und Sekundärliteratur. Quellen werden zwar in den Texten durchaus thematisiert, in den Verzeichnissen aber üblicherweise gar nicht erwähnt, wie Irrlitz denn schon in der Einleitung nur von "weiterführender Literatur" gesprochen hatte. Selten findet man mal eine.

Die Auswahlbibliographie (S. 510-513) folgt wie die Bibliographien einzelner Kapitel nur in Teilen der chronologischen Reihung, meist ist weder Chronologie noch Alphabet zugrunde gelegt. Über die notwendige oder überflüssige Aufnahme von einzelnen Titeln in einer Auswahlbibliographie lässt sich immer trefflich streiten. Das 780 Seiten starke Buch "Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781-87", hrsg. von Albert Landau (Bebra 1991) gehört aber sicherlich in die Auswahlbibliographie eines "Kant-Handbuchs". Daß Manfred Kuehns Kant-Biographie "Kant. A Biography" (Cambridge 2001) nur im ersten Kapitel Abschnitt "Leben" und nicht in der Auswahlbibliographie zu finden ist, ist schade, dürfte aber mit den nahe beieinander liegenden Erscheinungsdaten zusammenhängen.

Wünschenswert wäre schließlich ein kurzer Abschnitt über die Recherchemöglichkeiten im Internet gewesen. Zu nennen wären drei deutsche Forschungseinrichtungen mit Basisinformationen zu Immanuel Kant: Erstens das Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung, Universität Bonn (http://www.ikp.uni-bonn.de/dt/forsch/kant/), das im Internet "Kants Gesammelte Werke" in elektronischer Form bereitstellt, ein von der DFG gefördertes Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Zweitens die Kant-Forschungsstelle der Johannes Gutenberg Universität Mainz (http://www.uni-mainz.de/~kant/kfs/Welcome.html), die einen elektronischen Informationsdienst zur Kant-Bibliographie eingerichtet hat und die seit einiger Zeit auch mit einer "Kant-Galerie" aufwartet. Drittens Kant-online, eine Kooperation des Marburger Kant-Archivs und der Akademie-Ausgabe (http://www.uni-marburg.de/kant/webseitn/), wo einerseits Informationen zu "Leben, Werk, Wirkung und Umgebung" gegeben werden und andererseits eine "elektronische Dokumentation zu Kants Vorlesungen über Anthropologie: Band 25 der Akademie-Ausgabe" anrufbar ist.

Fazit: Der Titel "Kant-Handbuch. Leben und Werk" ist in zweifacher Hinsicht irreführend. Nicht Leben und Werk, sondern das Werk ist der eigentliche Gegenstand, mit dem sich der Verfasser beschäftigt. Der Handbuch-Charakter schließlich bezieht sich auf die inhaltliche Erschließung und zu einem geringen Teil auf die Genese der Werke, wobei die Rezeptionsgeschichte durchweg unberücksichtigt bleibt - ganz wie in der Einleitung angekündigt.

Titelbild

Gerd Irrlitz: Kant-Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
526 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3476012344

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