Konsumgeschichtsforschung

Ein wichtiger Sammelband von Historikern zu Entwicklungen seit der Vormoderne

Von Alexander SchugRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Schug

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Herausgabe des vorliegenden Sammelbandes und seinen insgesamt 24 Beiträgen auf knapp 600 Seiten ist Michael Prinz eine Publikation gelungen, die zum einen eine hervorragende Informationsquelle ist, um sich in den derzeitigen Stand der deutschen Konsumgeschichtsforschung einzulesen. Zum anderen werden von den unterschiedlichen Autoren neue Fragestellungen angegangen, die bisherige Forschungslücken zu schließen versuchen. Prinz' Zielsetzung, die Frage nach Ursprung und Entwicklung einer modernen Konsumgesellschaft, ihren Voraussetzungen, Vorbildern, Etappen und Folgen als eine lohnende Perspektive in der Geschichtswissenschaft tiefer zu verankern, löst er zu einem großen Teil ein. In fünf großen Themenblöcken ("Vormoderner Konsum - Weltliche und religiöse Regulierung", "Die Epoche der Konsumrevolution - neue Impulse und Bedürfnisse", "Die Moderne - Fortschritt und Ambivalenzen", "Konsum und Umwelt" sowie "Theorieprobleme und Interpretationsentwürfe") hat der Herausgeber Überblicksdarstellungen, die Forschungsstand, laufende Kontroversen und offene Fragen der Forschung thematisieren, mit regionalen Fallstudien vor allem aus Westfalen und Norddeutschland zusammengefasst, die einen guten Einblick in die Tiefe und Breite des derzeitigen Wissensstands geben.

Deutlich wird durch die Beiträge des ersten Themenblocks, wie sehr der Konsum in den deutschen Ländern durch den Zwang äußerer ökonomischer Umstände (Armut), aber vor allem auch durch soziale Zwänge einer strengen Regulierung unterlag. Luxusverbote, Aufwandsgesetze oder religiöse Tabus waren weit verbreitet und schränkten den freien Konsum stark ein. Im Übergang von der Vormoderne zur Moderne im 18., spätestens jedoch im 19. Jahrhundert wurden diese sozialen Fesseln jedoch weitgehend gesprengt. Die Frage, wieviel Konsum erlaubt und vor allem auch sozial akzeptabel sei, war immer schwieriger zu beantworten. Der obrigkeitsstaatlich bzw. kirchlich sanktionierte und dadurch sozial akzeptierte Konsum wurde ersetzt durch den modernen Wahlkonsum, der einer Individualisierung entsprang, in dem Sinne, dass Kaufentscheidungen immer häufiger durch den Konsumenten eigenständig zu tragen waren. Dem Geist der vormodernen Konsumethik im Sinne weltlicher und religiöser Regulierung entsprangen Vorgaben wie die, bei einer privaten Hochzeit nicht mehr als eine bestimmte Anzahl von Gästen einladen zu dürfen, um von Staats wegen der Verschwendungssucht der Bürger einen Riegel vorzuschieben. Die vormoderne Konsumethik und die strenge Konsumregulierung war dabei nicht nur Produkt typischer vormoderner Machtverhältnisse zwischen Staat/Kirche und Bürgern, sondern auch beeinflusst durch das Denken, dass Konsum per se "schlecht sei" und in den wirtschaftlichen Ruin führe. Das Leben im Überfluss wurde nur einer Führungsschicht zugebilligt.

Änderungen ergaben sich erst in der "Epoche der Konsumrevolution", die - so Prinz in seinem Aufsatz "Aufbruch in den Überfluss? Die englische,Konsumrevolution' des 18. Jahrhunderts im Lichte der neueren Forschung" eben von England ausging und bereits im 18. Jahrhundert begann. Zentrale Merkmale der Konsumrevolution waren u. a. das Vordringen der Geldwirtschaft und der Lohnarbeit, die Intensivierung und Ausdifferenzierung von Handelsformen und Märkten, verfügbare Geldmittel (und nicht Status) als Kriterium des Konsumgütererwerbs, was die Aufhebung oder zumindest Abschwächung vormoderner Kleiderordnungen, Luxusgesetze und religiöser Vorschriften voraussetzte. Über Modejournale, so Daniel Purdy, hatte auch die deutsche Elite ihren Anteil an der englischen und französischen Konsumgesellschaft, die bis ins 19. Jahrhundert Vorbild blieben. Auch aus der Perspektive der Konsumgeschichte erscheint das Deutsche Reich deshalb als "verspätete Nation".

Die Entfesselung des Konsums datieren die Beiträger des Sammelbandes auf das 19. Jahrhundert. Die Menschen in den deutschen Ländern griffen zunehmend auf industriell gefertigte Waren zurück, statt sich z. B. ihre Kleidung selber zu fertigen (André Steiner). Die Nahrungsmittelindustrie ersetzte die Subsistenzwirtschaften (Karl-Peter Ellerbrock). Im Rahmen der Entfesselung des Konsums im 19. Jahrhundert etablierte sich die Wirtschaftswerbung, die laut Stefan Haas als wichtiger Konsumverstärker und Sinnkonstrukteur der Konsumgesellschaft zu verstehen ist. Ein weiteres Element der Konsumentfesselung war die Rationalisierung des Einzelhandels und insbesondere die Einführung der Selbstbedienung, die aus den USA nach Europa herüberschwappte, in Deutschland bereits Ende der 1920er Jahre ausprobiert, dort aber seinen Durchbruch erst in den 1960er Jahren erleben sollte (siehe hierzu den Beitrag von Karl Ditt). Das Leben in der Konsumgesellschaft und der von ihr geschaffene Überfluss erregte auch Widersprüche und forderte zur Umgestaltung ihrer Strukturen auf. So wurden als Reaktion auf die Kommerzialisierung des Lebens Werte wie Sparsamkeit und auch die Selbstversorgung als alternativer Lebensentwurf im 20. Jahrhundert wieder aktuell (Beitrag von Rita Gudermann).

Unter dem Schwerpunkt Konsum und Umwelt thematisiert Martin Fiedler am Beispiel der industriellen Margarineproduktion und des Walfangs die ökologischen Folgen des Massenkonsums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Beitrag ist deshalb so interessant, weil gerade die Erforschung der Folgen des Massenkonsums - auch aus historischer Perspektive - bislang viel zu kurz gekommen ist und die Forschung zu sehr auf ökonomische Determinanten, Produktionsmethoden, Kaufkraft und Marketing beschränkt war. Im letzten und fünften Themenschwerpunkt werden Theorieprobleme und Interpretationsentwürfe vorgestellt. So etwa vertritt Hannes Siegrist das Konzept einer Konsumkultur, die durch ihre starke regionale Prägung klare räumliche Dimensionen hat und somit der Gleichsetzung von Konsumgesellschaft und Globalisierung widerspricht. Die Perspektive der Verräumlichung geht einher mit einer spezifischen Vergesellschaftung und Individualisierung in dem Maße wie regionale Produkte Hilfsmittel zur Identitätskonstruktion werden. Der Frage, was und wer der Konsument sei, stellt sich abschließend Sheryl Kroen, die im Konsumenten den "Kundenbürger" sieht. Diesem Bild liegt eine Interpretation der Gesellschaft zu Grunde, nach der Konsum und die Ermöglichung von Konsum zu staatstragenden Kategorien wurden bzw. ein Bürgerrecht für alle darstellen.

Abseits der Diskussion um unterschiedliche Periodisierungen und Kategorisierungen zeigt der Band von Prinz, dass die Konsumgesellschaft in einem langen Prozess geschaffen worden ist, der seit dem 18. Jahrhundert begonnen, im 19. Jahrhundert beschleunigt und im 20. Jahrhundert schließlich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zum Durchbruch gefunden hat. Das, was die Konsumgesellschaft definiert (u. a. Lohnarbeit, industrielle Produktion, eine bestimmte Konsumethik) wird immer wieder deutlich herausgestellt. Anlass zur Kritik gibt es kaum, außer dass nach wie vor in der Konsumgeschichtsschreibung kaum akteursbezogene Perspektiven eingenommen werden. So vermisst man Fragestellungen nach den Erlebnisgefühlen der Konsumenten, nach dem konkreten Einfluss von Konsum auf Selbstwertgefühl, Statusfantasien und Milieubildung. Neben den Konsumenten als Individuen bleiben ebenso die "Macher" der Konsumgesellschaft im Dunkeln. Wenn man von Werbung bspw. spricht, wäre es nicht nur interessant ihre Funktionsweise in der Konsumgesellschaft zu besprechen, sondern ebenso zu fragen, wer die Akteure der Werbung waren, mit welchen gesellschaftlichen Ideen sie ihre bunte Werbewelt erschufen und welche Interessen sie dabei verfolgten. Insgesamt aber überzeugt der Sammelband von Prinz. Er sei all denen als notwendige Lektüre empfohlen, die zur Konsumgeschichte arbeiten.

Titelbild

Michael Prinz (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne.
Schöningh Verlag, Paderborn 2003.
578 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 350679616X

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