Individualismus und Emanzipation

Mario Vargas Llosas Roman "Das Paradies ist anderswo"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Um vier Uhr morgens schlug sie die Augen auf und dachte: ,Heute fängst du an, die Welt zu verändern, Florita.'" Mit diesem eigenwilligen und leicht pathetisch klingenden Satz eröffnet Mario Vargas Llosa seinen neuen Roman, in dem er zwei Lebensläufe nebeneinander stellt und sie zu verbinden sucht.

Bei der kämpferischen Frau handelt es sich um Flora Tristán (1803-1844), eine aus gutem Hause stammende, später verarmte, in Frannkreich lebende Vorreiterin der Frauenbewegung. Ihrer bewegenden Vita stellt Vargas Llosa den nicht weniger turbulenten Lebensweg ihres Enkels, des berühmten Malers Paul Gauguin (1848-1903) zur Seite.

Beider Leben hätte allerdings genug Stoff für einen eigenen Roman hergegeben: Floras geradezu missionarischer Feldzug gegen die Ausbeutung der Frauen und der Arbeiter, ihr leidenschaftlicher, aber letztlich erfolgloser Versuch (lange vor Karl Marx), das Proletariat zu befreien, und Gauguins Flucht aus dem bürgerlichen Alltag, die ihn in die Südsee führte.

Vargas Llosa erzählt auf alternierenden Ebenen in seiner bekannt farbenfrohen, leidenschaftlichen, bisweilen ins überschwengliche Pathos abgleitenden Sprache vom Scheitern beider Figuren. Das verbindende Motiv des Aufbruchs, des Strebens nach Utopien, der Suche nach einem wie auch immer gearteten Paradies thront über der gesamten Handlung. Sowohl Flora als auch ihr Enkel Gauguin geben alles auf, lassen ihre Familien im Stich, beseelt von den eigenen Plänen und angetrieben von einer inneren Stimme. Soweit hält Vargas Llosas Nahtstelle die beiden Handlungsstränge zusammen.

Doch je tiefer man in die Figuren eindringt, offenbart sich eine gewaltige Diskrepanz bei den Motiven der "Ausbrüche" und den Wunschvorstellungen des "Paradieses". Während die emanzipatorische Flora als lupenreine Idealistin eine Verbesserung des Allgemeinwohls im Sinn hat, geht es dem exaltierten Gauguin allein um die künstlerische Selbstverwirklichung. Er sucht in Tahiti die Inspiration, um sein Werk zu perfektionieren.

Etwas überraschend ist bei der Lektüre, dass Vargas Llosa, der sich im Laufe der Jahre vom jugendlichen Sozialisten zum konservativen peruanischen Präsidentschaftskandidaten (Ende der 80er Jahre) gewandelt hat, Floras politisch motivierten Lebensweg mit ähnlich großer innerer Anteilnahme verfolgt wie die ihm eigentlich näher stehende Künstlerexistenz Gauguins.

Der vorgelegte Two-in-one-Roman kann beiden Figuren jedoch nicht vollends gerecht werden - zu inkohärent sind ihre Intentionen, zu unterschiedlich die prägenden Charaktermerkmale, die Schauplätze und die Handlungszeit. Flora und Gauguin konnten ihre Sehnsüchte nicht erfüllen, haben "ihr Paradies" nicht gefunden und starben beide schon mit Anfang vierzig. Vom Umschlag des Buches schauen uns zwei Tahitianerinnen eines Gauguin-Gemäldes skeptisch an - der Blick dieser "erfundenen" Figuren verrät auch etwas Suchendes.

So ergeht es allen (uns selbst als Leser eingeschlossen), ähnlich einem alten peruanischen Kinderspiel, in dem die Mitspieler nach dem Paradies suchen und von einer Ecke zur nächsten geschickt werden. Der Originaltitel "El paraíso en la otra esquina" (dt.: Das Paradies in der anderen Ecke) nimmt darauf Bezug. Nicht einmal die von zwei Buchdeckeln eingehüllten, verschlungenen Pfade der Fiktion öffnen die Pforte zu paradiesischen Zuständen. Also müssen wir weiter suchen.

Wer mehr über Flora Tristán erfahren möchte, dem sei das Insel-Taschenbuch "Meine Reise nach Peru" empfohlen, zu dem Mario Vargas Llosa das Vorwort beigesteuert hat - alles andere als Zufall, denn Floras Reise führte auch nach Arequipa, in den Geburtsort des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels von 1996.

Titelbild

Mario Vargas Llosa: Das Paradies ist anderswo. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
496 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518416006
ISBN-13: 9783518416006

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Titelbild

Flora Tristan: Meine Reise nach Peru. Fahrten einer Paria.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
496 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3458347372

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