Theater mit Blick auf Gletscher und Meer

Steinunn Sigurdardóttirs Roman "Gletschertheater"

Von Carolina GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im isländischen Papavík soll zu Ehren von Cechovs 140. Geburtstag "Der Kirschgarten" aufgeführt werden. Dieses Projekt, angeleitet vom Dorfvorsteher Vatnar Jökull nimmt Dimensionen eines permanenten Megaschauspiels an, bei dem jeder Dorfbewohner seine Rolle einnimmt. Cechovs "Kirschgarten" soll neu übersetzt werden und zwar vom ortsansässigen russischen Buchhändler Valdimar, der wie so einige Personen in Papavík dem Alkohol verfallen ist und zunächst wegen seiner Selbstmordabsichten dem Projekt zu entgleiten droht. Der extra aus Berlin engagierte Regisseur Dýri Blængur stellt in Absprache mit der Souffleuse ein Schauspielteam - ausschließlich Männern - zusammen, die mit Hilfe von zunächst Entsexualisierungs-, und schließlich Verweiblichungsmethoden an die Rollen herangeführt werden. Aufgrund individueller Probleme, die auf die Biografien der Darsteller als Handwerker und Bauern zurückgehen, nehmen die Proben einen eher unkonventionellen Verlauf. So wird eine Probe, die zum Zwecke der Neutralisierung von männlichen Körpern in Kimonos stattfinden soll, kurzerhand durch einen kollektiven Schwimmbadbesuch ersetzt, weil ein Darsteller keine Zeit mehr gefunden hatte, sich vor der Probe zu waschen. Verhalten und Lebenswandel der Laiendarsteller bleiben auch vom ungewöhnlichen Regiestil nicht unbeeinflußt. So verliert "Goliath" das Interesse daran, sich täglich mit seinem Bruder zu prügeln und Ófeigur hat Probleme, sich von seiner weiblichen Identität wieder zu lösen und leidet im Folgenden unter "Bettkälte".

Stattfinden soll die Aufführung schließlich in einem eigens für die Vorstellungen gebauten Theater mit Blick auf Gletscher und Meer. Zum Inventar gehört eine extra eingeflogene Nebelmaschine, die durch ihre Überfunktion die Premierenfeierlichkeiten gänzlich zu verhüllen droht.

Beschrieben wird der dreijährige Vorbereitungsprozess von der Souffleuse, die ihre Landsleute und ihre Verschrobenheiten sowohl aus einiger Distanz ironisch betrachtet, als auch sich in der entgrenzten Gletscherwelt zwischen Alkoholfahnen und Bergeshöhen gefangen fühlt. Wie schon bei der ersten Aufführung der Theatergruppe vor einigen Jahren droht das exzentrische, egomanische Mutterschlachtschiff auch diesmal bei der Premiere anzurücken, um im Alkoholrausch ihre Präsenz während und nach der Aufführung zu demonstrieren.

In die witzige Sitten- und Charakterzeichnung mischt sich ein dunklerer Ton: die Brutalität der Personen im Umgang miteinander. Zwischen Alkoholflaschen tummeln sich Albträume und Sehnsüchte, Aggressivität und Lieblosigkeit.

Steinunn Sigurdardóttirs Können liegt darin, die Realität des isländischen Bergdörfchens so zu sezieren, dass sie grotesk erscheint. Leidenschaften, Fiesheiten und Verwicklungen scheinen riesengroß, weil sie mit Lust beschrieben werden. Sie bringen zum Lachen, Staunen und Frösteln. Unerschöpflich scheint die Phantasie, mit der sie die Akteure immer wieder auf die Bühne holt. Dem Leser eröffnet sich der Innenraum einer fremden, fantastischen Welt weit weg vom Mythos der grünen Wiesen und springenden Pferde. Das ist es, was begeistert, ein fremder Mikrokosmos, eine absurde Gletscherwelt mit bekannten Ausdünstungen.

Titelbild

Steinunn Sigurdardóttir: Gletschertheater. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Coletta Bürling.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498063669

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