Eine Reise ist eine Reise ist eine Reise

Xenja von Ertzdorffs und Gerhard Giesemanns Symposiumsband zur Poetik der Reise- und Länderberichte

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band "Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte", herausgegeben von Xenja von Ertzdorff und Gerhard Giesemann präsentiert die Vorträge eines Symposions, welches unter dem gleichen Titel im Sommer 2000 an der Justus-Liebig Universität Gießen stattfand.

Chronologisch und geographisch füllen die Beiträge dabei einen weiten Rahmen aus: Die behandelten Themen erstrecken sich ausgehend von den Pilgerberichten und Weltkarten des Mittelalters über humanistische Bildungsreisen der Renaissance und Beschreibungen der Erfahrungen bei der Entdeckung der Neuen Welt bis hin zu Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" und Reiseberichten neuesten Datums. Neben europäischer Reiseliteratur wurden dazu Texte von byzantinischen, hebräischen, arabischen, chinesischen und koreanischen Reisenden berücksichtigt - beinahe jeder Philologe kann also Beiträge zu Reisetexten "seiner" Literatur finden, die zudem fast ohne Ausnahme fundiert und informativ sind.

Vielfalt in der Textauswahl ist damit eine Stärke, gleichzeitig aber auch das große Manko des vorliegenden Bandes: Die unglaubliche Vielgestalt der Texte und ihrer Umfelder macht es dem Leser unmöglich, sich mit allen Beiträgen unter einem gemeinsamen Blickwinkel auseinanderzusetzen. Sucht man nach dem Grund für diese Disparität des Materials, so findet sich dieser relativ schnell in der Tatsache, dass eine "Theorie des Reiseberichts" nicht oder nur ansatzweise existiert: Reiseberichte werden als kultur- und ideologiegeschichtliche Quellen genutzt, an ihnen wird wieder und wieder die Auseinandersetzung mit dem Anderen, Fremden und in Konsequenz daraus mit dem Selbst, dem Eigenen diskutiert - grundlegende Untersuchungen zum Genre des Reiseberichts fehlen dagegen weitgehend, ebenso wie eine klare Definition, die eine Einordnung bestimmter Texte als Reiseberichte zulassen oder zurückweisen könnte. Aus diesem Dilemma resultiert das Problem, dass schlichtweg jeder Text, den eine Person außerhalb ihres Herkunftslandes über ein Gastland verfasst, als Reise- oder Länderbericht deklariert werden kann, ungeachtet der Tatsache, dass diese Texte sich nicht nur von der kulturellen und literarischen Tradition, aus der sie entstammen, grundlegend unterscheiden, sondern dass auch bedingt durch die ungleichen außerliterarischen Bedingungen völlig unterschiedliche Intentionen der Verfasser bei Erstellung der "Berichte" - auch dieser Begriff wäre dringend enger zu fassen - vorliegen.

Begrüßenswert ist daher besonders der Beitrag von Friedrich Wolfzettel, der - leider als einziger der Autoren - theoretische Fragen aufgreift, indem er mythische Strukturen als mögliche Grundlage des Genres "Reisebericht" untersucht. Wolfzettel kritisiert die "Ignorierung der spezifisch narrativen Inszenierung" von Reiseberichten in der bisherigen Forschung; dieser setzt er das Modell einer mythisch-archetypischen Struktur, bestehend aus den Elementen Auszug, Ziel und Heimkehr entgegen; die Reise allgemein wird als Grenzgang, als Grenzerfahrung und Initiationsprozess in der Begegnung mit dem Anderen gedeutet. Einem ersten, vielversprechenden Praxistest unterzieht Wolfzettel dieses Deutungsschema in seiner Anwendung auf französische Reisetexte unterschiedlicher Epochen; tatsächlich scheint sich hier eine historische Entwicklung innerhalb der Gewichtung der einzelnen Elemente zueinander ablesen zu lassen.

Die übrigen Autoren bewegen sich mit ihren Untersuchungen dagegen zumeist auf einer rein deskriptiven Ebene. Dies muss für die einzelne Darstellung kein Verlust sein - zu mehreren der präsentierten Themen existierte bisher kaum ein Forschungsstand, so dass Texterschließung und -sicherung zunächst unstrittig eine vordringliche Aufgabe darstellen, welche zuverlässig und routiniert, oft mit interessanten Ergebnissen gelöst wird. So setzt sich etwa Annelies Kuyt in ihrem Beitrag über die mittelalterlichen Reiseberichte der beiden jüdischen Autoren Benjamin von Tudela und Petachja von Regensburg nicht nur mit dem real-historischen Hintergrund der Reisen und der unterschiedlichen literarischen Technik der beiden Autoren sowie den von ihnen benutzten Quellen auseinander, sie verweist auch erstmals auf die Unterschiede der Fassungen des "Buches der Reisen" des Benjamin von Tudela in Handschriften und Drucken, welche gerade in Hinblick auf die wichtige Frage nach der Verfasserschaft des Textes abweichende Informationen bieten.

Unklar bleibt jedoch, wohin auf dieser Ebene der konkreten Textarbeit an den Reiseberichten ein komparativer Ansatz - um einen solchen muss es sich wohl handeln, ansonsten wird das Konzept des Tagungsbandes vollends unverständlich - führen soll. Welcher wissenschaftliche Nutzen mag wohl daraus zu ziehen sein, mittelalterliche Weltkarten mit Álvar Núñez "Naufragios" (1542) und der Erforschung der Seidenstraße durch die Autorin Sir Galahad und die Filmemacherin Ulrike Ottinger zu vergleichen? Oder was haben die Reisen des Mustafâ al-Latîfî (1602-1711) mit Dostojevskijs "Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke" zu tun, und diese mit Kairoer Reiseberichten von Studierenden aus den neunziger Jahren?

Komparatives Arbeiten kann grundsätzlich nur dann sinnvoll sein, wenn ein gemeinsamer Ausgangspunkt gegeben ist, von dem aus die unterschiedlichen Texte zueinander in Bezug gesetzt werden können; ein literarisches Genre allein - besonders wenn es sich um ein schwer abzugrenzendes Genre wie das des "Reiseberichtes" handelt - ist als solcher Ausgangspunkt aufgrund der großen Bandbreite der inbegriffenen Texte kaum geeignet.

Um übergreifende Ergebnisse zur Poetik des Reiseberichts erbringen zu können wäre eine weitere thematische Einschränkung des Symposiums entweder auf einen geographischen Raum - etwa "Reisen ins Heilige Land" - oder wenigstens auf einen engeren zeitlichen Rahmen - so z. B. Reiseberichte der Frühen Neuzeit - notwendig gewesen. Da eine solche Einschränkung, die gemeinsame Fragestellungen erst ermöglicht hätte, nicht erfolgt ist, bleibt der Leser mit einer gewissen Ratlosigkeit angesichts des vorliegenden Tagungsbandes zurück: Dieser enthält gelungene Studien zu verschiedensten Einzelthemen, die sicherlich zu einer näheren Beschäftigung mit den jeweiligen Texten einladen; doch treten diese Studien in keiner Weise miteinander in Verbindung - die Möglichkeit, über die Einzeluntersuchungen hinausgehende Erkenntnisse zur Reiseliteratur als literarischer Gattung und zu deren Poetik zu gewinnen, konnte auf Grund der fehlenden thematischen Koordination der zu untersuchenden Texte nicht genutzt werden.

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Xenja Ertzdorff von / Gerhard Giesemann (Hg.): Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2003.
663 Seiten, 120,00 EUR.
ISBN-10: 904200992
ISBN-13: 9789042009943

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