Innovation in Uniform

Otto Vowinckels Gedichtband "Die Lerche"

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist Lyrik? Schließt man sich in dieser - selbst in der Literaturwissenschaft oftmals zu kurz kommenden - Frage Gottfried Benn an, der das Gedicht so treffend als Gegenteil von Beliebigkeit definiert, so drängen sich bereits zur Genüge gehörte und dennoch nicht an Aktualität verlierende Paradigmen auf, unter deren Neigungswinkel Dichtung immer noch zu betrachten ist: Gedichte sind noch immer anthropologische Suchbewegung, Gegenentwurf bzw. autonomer Neuentwurf von Gesellschaft und Individuum; noch immer sind sie die auf Herzland hoffende Flaschenpost, noch immer sind sie dialogisch und bestimmt von der ihnen eigenen Intention. Sie sind Konfrontationen der Innerlichkeit, Widerstand und Bewegung.

Insofern wäre dem gegenwärtig so lautstark postulierten Innovationsdogma zuzustimmen: Lyrik als Suchbewegung, als fortwährender perspektivischer Versuch ist innovativ. Sie verortet sich in Alltag, menschlichem Grenzbereich und darüber Hinausgehendem. Nicht jedoch zu verwechseln ist dies mit heutigen von innovativem Formenzwang geprägten und umgetriebenen Texten - meist Prosa mit Zeilenumbruch. Sie berufen sich auf Gernhardt und Schwitters, auf Brecht und Jandl und sind trotz dieses modernen Anstrichs nichts weiter als Kopie, Reproduktion des Immergleichen, rasender Stillstand. Die Innovation ist uniform geworden, sie ist Selbstzweck und greift über ihr Ziel hinaus ins Leere. Eine Avantgarde gibt es nicht mehr - es sei denn, sie ist konservativ, so scheint es -, die literarische "Evolution" im Bereich der Lyrik stockt.

Auch Otto Vowinckel, seines Zeichens 64-jähriger Architekt und Grafik-Designer, hat sich diesem Stocken verschrieben. Seine Texte bespiegeln sich selbst, gerinnen zu effektheischerischen "modernen Formen", will sagen zu reißerisch neuer konkreter Poesie ("Wo ist der Osterhase"), oder einer Replik auf Gernhardts Sonettgedicht. Damit entkleidet auch Vowinckel das "Gedicht" seiner Individualität, es wird Exemplar der immergleichen Variation eines Themas: der innovativen Form, der Textoberfläche also, welcher jedoch kein Verweischarakter auf die Ebene der Signifikate mehr inhärent ist.

Das "Gedicht" Vowinckels zielt auf den in seiner Einmaligkeit konzipierten Effekt nach einem Reiz-Reaktions-Schema, der jedoch - mit den Jahren und Jahrzehnten verblasst - sich nicht einstellen will. Seine Texte sind Spielerei mit Worten, marktschreierisch, weder Ohrenlerche noch Steinlerche, wie der Klappentext verspricht, sie sind auf erdrückende Weise einsilbig, konservativ in ihrer Form. Es fehlt ihnen die Ernsthaftigkeit eines Trakls, eines Celans oder Herberts, wobei diese Beurteilung weder den "Konservatismus" noch die "Innovation" beschwört, sondern auf Gegenstandsangemessenheit hofft. Die sich im Leitgedanken der Innovation eingerichtete Destruktion von Sprache, der Verweis auf die Liquidität der Signifikanten ist - das Fin de siècle liegt nun schon ein Jahrhundert hinter uns - an ihr Ende gestoßen.

Es ist Zeit, dass es Zeit wird, Zeit für eine Bejahung, wenn auch nicht Affirmation, eine Bejahung und Konstruktion von Möglichkeit, der Kraft zur Utopie. Das Gedicht ist zeitenthoben, dies gilt noch immer, es operiert in dem ihm eigenen Raum, welcher tendenziell seine Zeit nicht vergisst, sie jedoch überschreitet.

Die moderne Beliebigkeit Vowinckels, welche ein Gedicht wie das andere erscheinen lässt, führt die Frage nach dem existentiellen Auftrag des Künstlers ad absurdum, negiert jede Möglichkeit der Unterstellung einer Intention und ist nicht anders einzustufen ist als angepasste Unterhaltung ohne Wiedererkennungswert. Die sinnspruchartigen Texte Vowinckels beladen sich nicht mit Wirklichkeit - im Gegenteil, sie meiden sie, sind Flucht und Teilnahmslosigkeit; verschrieben nur sich selbst und damit Selbstgespräch. Sie bereichern nicht die Perspektive des Lesers um den Blickwinkel des Ästhetischen, sondern rauschen vorbei als Teil eines verschwommenen Diskurses, ähnlich wie der fünfzigste Werbespot zum weißwaschendsten aller Waschmittel. Darüber hinwegtäuschen können auch nicht die von Vowinckel dem Text beigegebenen "Typo-Graphiken", vom Autor selbst gefertigt. Lyrik ist eben nicht zum Anschauen, sie ist keine aus der ihr eigenen Form sprechende Plastik, sondern bedarf der dem Sein geschuldeten Worte. Sie ist entweder exorbitant oder gar nicht, wie Benn sagen würde, sie ist die extremste aller Gattungen.

Titelbild

Otto Vowinckel: Die Lerche. Gedichte.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2003.
92 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3899780159

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