Wir waren eine amorphe Eventualität

Die Lebenserinnerungen des Kulturjournalisten und Musil-Herausgebers Adolf Frisé

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lebensläufe bestehen aus Wendepunkten, sagte einmal Niklas Luhmann, "an denen etwas geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen." Reiner Zufall war es, als der Germanistikstudent Adolf Frisé bei den Eltern eines Kommilitonen 1930 den noch druckfrischen Wälzer eines ihm unbekannten Autors namens Musil liegen sah.

Wie instinktiv leiht sich Frisé diesen "Mann ohne Eigenschaften" aus, fängt Feuer, schreibt dem Autor, der ihm auch freundlich antwortet, wagt sich gar an eine Rezension. Anfang 1933, noch ist Hitler nicht an der Macht, darf der Jung-Kritiker Musil, der in Berlin über der Fortsetzung des Romans brütet, in dessen Pension am Ku'damm besuchen. Jahre später, der Krieg ist vorbei, Musil längst tot und vergessen, überantwortet die Witwe, womit auch sie Instinkt beweist, Frisé den Nachlass ihres Mannes. Eine entsagungsreiche Lebensaufgabe, wie sich zeigt. Von 1952 bis 1957 gibt Frisé, inzwischen Kulturredakteur beim Hessischen Rundfunk, erst eine dreibändige Werkausgabe heraus, die Musils Wiederentdeckung einläutet, ab 1978 eine revidierte, dazu die Briefe und Tagebücher.

Nicht auszudenken, wie es heute um das Werk dieses Autors stünde, hätte es nicht 1930 jenen Wendepunkt gegeben. Auch Frisés Leben wäre nach dem Krieg ein anderes geworden. Seinen ersten Roman etwa hätte er bestimmt nicht erst im Alter von 80 Jahren vorgelegt (ein weiterer folgt sieben Jahre später), laborierte er doch schon in den 1930er Jahren an einem, der den bezeichnenden Titel "Leben um den toten Punkt" tragen sollte, jedoch aufgegeben wurde. Wie biographisch dagegen der Stoff von "Der Beginn der Vergangenheit" (1990) ist, verraten die jetzt posthum veröffentlichten Erinnerungen Frisés.

Bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 hatte er die "Ärmste", im Roman nennt er sie Ruth, in den Erinnerungen Eva, kennen gelernt, eine schwer kranke, mit einem holländischen Geschäftsmann verheiratete Frau. Auch dies ein Wendepunkt: In der Ehe zu dritt überwindet Frisé seine Bindungsängste, kümmert sich um sein "Sorgenkind", dessen Not ihm im Krieg ein Grund ist zu überleben. 1954 stirbt Eva; die folgenden Jahre mit der zweiten großen Liebe seines Lebens, Maria, auch sie zunächst mit einem anderen Mann verheiratet, konnte der im vergangenen Jahr verstorbene Frisé nur noch skizzieren.

Eine komprimierte, spröde Schreibe kennzeichnet freilich schon die Darstellung der Jugendjahre. Der unprätentiöse Autor, manchmal scheint es, als erzählte er nur sich selbst, rechnet auf die geistige Mitarbeit des Lesers, zwingt ihn zu konzentrierter, komplettierender Lektüre. Eine berührende Intimität evoziert Frisés Zurückhaltung dort, wo es um erotische Erfahrungen geht: "Wir übten uns in Zärtlichkeiten. Sie wie ich kamen zur Ruhe."

Aufgewachsen ist Frisé im zunächst noch besetzten Rheinland, in bescheidenen Verhältnissen. Schon früh scheint es zu der Erfahrung gekommen zu sein, dass sein Selbstgefühl nicht selbstverständlich ist. Ungewöhnliche reflexive Wendungen weisen darauf hin: Der Bettnässer, der die Matratze umdreht, ist "erleichtert, mir selbst entronnen zu sein". Vom Jungen, der sich tollkühn die Außenwand entlang hangelt, heißt es, "ich provozierte mich". Als Student will Frisé gleich dreimal promovieren, "in Konkurrenz mit mir selbst".

Ein Identitätsproblem, das früh verstärkt wird dadurch, dass sich der vermeintliche Vater eines Tages als Stiefvater entpuppt und aus dem kleinen Adolf Altengarten Adolf Frisé wird. "Ich war auf einmal, nicht mehr der, der ich all die Zeit gewesen war." Später stellt er über den verstorbenen ersten Mann seiner Mutter Nachforschungen an; fahndet nach einer mysteriösen Großmutter, von der ihm ein Unbekannter ein märchenhaftes Erbe verheißt. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Bereits der mittellose Student, der bei Friedrich Gundolf in Heidelberg promoviert, muss sich sein Existenzminimum mit Zeitungsartikeln erschreiben.

Im Berliner Zeitungsdschungel Anfang der 1930er Jahre knüpft der Jungjournalist emsig Kontakte, rezensiert für das Zentrumsblatt "Germania", besucht den Dr. Gottfried Benn in seiner Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten und Joseph Roth im legendären Café "Mampe". Bestaunt in den Theaterpausen Alfred Kerr und Herbert Ihering. Dass er beim Klinkenputzen bei den Größen des Literaturbetriebes, bei Monty Jacobs von der "Voss" oder bei Rudolf Kayser von der "Neuen Rundschau", eine Welt kurz vor ihrem Ende erlebt, merkt der unpolitische Frisé kaum.

Der Tunnelblick als Folge des täglichen Existenzkampfes: "Nahm ich wahr, was vorging? Ich mochte mir wie so viele nicht vorstellen, wie es kommen könnte." Die Wochen vor Hitlers Machantritt werden geschildert, als hätte sich die Zeit gedehnt. Als wollte der greise Autor begreifen, warum er damals das Unheil nicht vorausgesehen hatte. Wohl symptomatisch für viele nach 1933 ist der Rückzug. Als Mensch flüchtet Frisé ans Meer oder in die Berge, als Journalist in die Historie, als Intellektueller in sich selbst. "Wir hatten uns eingeschlossen, schotteten uns ab. Es fragt sich, ob uns das immer so bewußt war, wie wir es Jahre danach von uns verlangten."

Ratlosigkeit über das eigene Sich-Treiben-Lassen. "Wir waren, das war meine Formel, eine amorphe Eventualität." Musils Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit also. Man passt sich an, hält sich auf Distanz und sucht sich Nischen, auch in der Wehrmacht, wo Frisé Nachrichtenoffizier wird. Man muss halt überleben. Die wenigen Zusammenstöße mit dem Regime sind Versehen, keine Provokationen. Von seiner Militärstudie in dem propagandistischen Sammelband "Unser Kampf in Holland, Belgien, Flandern" (1941) schreibt Frisé leider nichts. Nur einmal, als er in Russland Zeuge einer Massenerschießung wird, wächst er über sich hinaus, versucht vergeblich, den Offizier umzustimmen. Eine der packendsten Szenen des Buches. Kein "Wendepunkt" in seinem Leben; aber einer, auf den er stolz sein durfte.

Titelbild

Adolf Frisé: Wir leben immer mehrere Leben. Erinnerungen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498020919

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch