Der Käfer im Bernsteinblock

Maxim Billers Erzählungen "Bernsteintage"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Seine Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock - er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von außen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick", heißt es in der Titelgeschichte des sechs Erzählungen umfassenden Bandes. Der 44-jährige Schriftsteller Maxim Biller hat wieder einmal (dies steht außer Frage) seine eigene Biografie "ausgewertet" und Kindheits- und Jugenderinnerungen literarisch wiederbelebt. Zumindest bei der Lektüre einer Erzählung hofft man inständig, dass es keinen zweiten "Fall Esra" gibt. Der im letzten Frühjahr erschienene Roman beschäftigte bekanntlich die Justiz, weil sich zwei Figuren in Billers Roman wiedererkannt hatten und einen Schutz der Privatsphäre geltend machten. So wurde die Titelfigur Esra als türkische Schauspielerin beschrieben, die den Bundesfilmpreis erhalten hatte und deren Mutter als Trägerin des alternativen Nobelpreises verbargen. Noch im Oktober hatte ein Münchener Gericht verfügt, dass auch die "entschärfte" Form des Romans nicht in den Handel kommen durfte.

In der Erzählung "Der echte Liebermann" geht es bei Biller um den künstlerisch ambitionierten Henry, der sich in den Kopf gesetzt hat, ein halb-dokumentarisches Filmprojekt unter dem Titel "Brüder Geduldig" zu realisieren. Dieser Henry überlässt dem Ich-Erzähler ein Liebermann-Ölbild. Henry ist ein sprunghaftes Wesen - mal euphorisch, mal depressiv, mal bettelarm, mal äußerst großzügig. Zudem hat er Probleme mit seiner jüdischen Vita, schämt sich seines Vaters, der in Übersee im großen Stil Betrügereien mit Entschädigungen der Holocaust-Opfer betrieb. Irgendwann landet Henry im Gefängnis - verurteilt wegen "Betrug und Handel mit gefälschten Kunstwerken." Eine Geschichte, die spannend und flott erzählt ist wie auch alle anderen Erzählungen des Bandes, und an der es eigentlich nichts auszusetzen gibt. Wäre da nicht die klitzekleine Parallele, dass es tatsächlich einen Liebermann-Fälscher gab, der sogar damit kokettierte, "seinen Liebermann" für 600.000 Mark unters Volk gebracht zu haben und anschließend hinter Gitter wanderte.

Maxim Billers Erzählungen kreisen stets um die jüdische Identität, um Erinnerungen, die gewollt oder ungewollt wachgerufen werden, und immer ist die autobiografische Komponente überdeutlich sichtbar: die Kindheit in Prag, die ein hochintelligenter, schon früh dem Schreiben zugewandter Junge unter dem Eindruck der einrollenden russischen Panzer verbringt, der Besuch eines Verwandten aus Israel, die Geschichte einer ständig in Eile und Hektik befindlichen Frau ("Sie konnte gar nicht langsam gehen, auch wenn sie wollte. Sie hetzte sich ab, als habe sie Angst, nicht anzukommen.") oder die Episode des Sohnes Marek, der 20 Jahre nach dem Prager Frühling nach den Spuren sucht, die das künstlerische Werk seines Vaters hinterlassen hat. Auch hier hat sich Biller der Biografie einer realen Figur, des Regisseurs Alfred Radek bedient.

Maxim Biller verkörpert in den Erzählungen dieses Bandes tatsächlich sowohl den Käfer im Bernsteinblock als auch denjenigen, der ihn von außen beobachtet. Im Zweifelsfall siegt dabei immer der neugierige Schriftsteller in Biller - ohne Rücksicht und ohne Scheu vor Selbstentblößungen oder Demaskierungen Dritter. Hoffentlich sprechen diesmal die Leser (und nicht die Justiz) das abschließende Urteil.

Wer noch mehr über Maxim Biller erfahren möchte, dem sei die nun erschienene Autobiografie seiner Mutter Rada (1930 in Baku als Tochter einer jüdisch-armenischen Familie geboren) wärmstens empfohlen.

Titelbild

Rada Biller: Melonenschale. Lebensgeschichten der Lea T.
Berlin Verlag, Berlin 2003.
373 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3827003598

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Maxim Biller: Bernsteintage.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
203 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462033611

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