Fürst Igor, offizielle Schafsköppe und Franz vom Walde

Neue Prosastücke von Sarah Kirsch bieten Lyrisches und Spottendes

Von Johanna BackesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Backes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sarah Kirsch lebte und arbeitete in Ostberlin, als sie den vorliegenden Text schrieb. In "Tatarenhochzeit" finden wir Prosascherben aus dem Leben und Schaffen der Autorin, aus ihrer Arbeit, aus der damaligen Heimat DDR kurz vor ihrer Übersiedlung in den Westen im Jahr 1977, die sich zu einem bestaunenswerten, sanft schillernden Mosaik zusammensetzen.

Die scheinbar gegensätzlichen Sprachebenen werden so einander gegenübergestellt, dass Hymnisches neben Alltäglichem aufleuchtet. Durch den losen Zusammenhang von lyrikähnlichen Prosafragmenten entsteht eine tagebuchartige Skizzenfolge voller Andeutungen. Dem Kompositionsvermögen der Autorin ist es zu verdanken, dass daraus ein harmonisches Ganzes entsteht, in das sich auch die Übersetzung der Igor-Sage vom Altrussischen ins Deutsche aus der Feder der Autorin wunderbar einfügt.

Eines dieser Fragmente beginnt: "Oh Julius! Julius! Die Sonne brennet und lacht mich an, ich telefoniere und renne Reisepapieren hinterher". In diesem Ausruf wird die ausgelassene Freude über den Sommer spürbar, enthusiastisch werden der Monat Juli und die Sonne begrüßt. Der Leser kann mitfühlen, wie die heiße Jahreszeit in das Leben der Erzählerin hineingreift und ihr Freude, Kraft und Lebensmut spendet. Dabei beschreibt die Autorin gleichzeitig den drögen, nerven- und kraftaufreibenden Systemalltag und nimmt ihm mit fröhlicher Ironie die menschenunfreundliche Härte: "Ein paar offizielle Schafsköppe stehen meinem Vorhaben wohlwollend gegenüber, außerdem kann ich eine echte Einladung zum Pressefest der Humanité vorweisen". Gelungen verbindet sich die Anrufung des Sommermonats, die implizit alles Heroische jenes berühmten Römers mitklingen lässt, mit der verachtenden Titulierung der eigenen Herrschaftselite. Treffend gewählt sind in diesem Zusammenhang auch die Worte "wohlwollend" und "echt". Durch den Wechsel von der Naturbeschreibung auf hohem sprachlichen Niveau zur lakonischen Betrachtung des eigenen, durch einen absurden Bürokratismus geprägten Lebens werden die an sich positiv konnotierten Wörter zu Ironie. Weder wird hier beißend mit dem DDR-Regime abgerechnet, noch gibt sich Kirsch ostalgischen Gefühlen hin. Sie geht einen eigenen Weg der Vergangenheitsbewältigung. Bei ihr wird aufs Freudigste gespottet, geschrieben, gelebt.

An anderer Stelle tönt die Erinnerung an das Leben im realsozialistischen Staat poetischer: "Franz vom Walde [...] ist, seit ich ihn kenne, schon auf der Büßerstrecke. Weil er erst das eine, dann an das andere glaubte". Lyrisch verkürzt wird auf erster Ebene von einem Freund der Ich-Figur gesprochen, assoziiert werden können jedoch der Mythos um das erst weltliche, dann tief religiöse Leben eines anderen Franz, des Franz von Assisi. Dieses Zitat verweist aber auch auf ein Problem der Generation, zu der auch die Autorin gehört. Zwischen den stark ausgeprägten und prägenden Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts musste die sich ein eigenes Leben bewahren. Zwischen welchen Weltanschauungen sich der Gesinnungswandel bei Franz vollzog, bleibt der Interpretation des Lesers überlassen. Solcherlei Offenheit ist nicht nur für diesen Auszug charakteristisch. Das Verharren in der Andeutung prägt die gesamte sprachliche Gestaltung des Textes und entwickelt einen geheimnisvollen Reiz.

Überzeugend passt die Lyrikerin die deutsche Sprache einem tieferen Wunsch, sich mitzuteilen, an: "Wenn mir hellsichtig zumut ist, weiß ich sein Leben [das Leben von Franz]". Die "Hellsicht" verliert hier bei Kirsch die Absolutheit einer menschlichen Eigenschaft. Sie reduziert die geistige Fähigkeit zum Zumut-Sein, zum Fühlen. Dieses sinnliche Vermögen wiederum befähigt die Erzählerin, das Leben von Franz nicht nur zu kennen, sondern zu "wissen". Das ist eine Formulierung, die im Deutschen nicht ganz zulässig ist. Hier drückt sie jedoch einen differenzierteren Blick auf die dargestellte Beziehung zweier Menschen aus.

Wer sich auf solche und andere kleine sprachliche Kunstgriffe einlassen möchte, und wen ein Stil, der mit Andeutungen spielt, berauschen kann, der sollte diesen Band unbedingt lesen.

Titelbild

Sarah Kirsch: Tatarenhochzeit.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
74 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3421056919

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