Hilfsprogramme auf dem Weg ins Nichts

Matthias Schamps Roman "Hirntreiben" durchmisst die Festplatte

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sam, Bill, Jim, Joe, Mack, Fred, Scotty und Kid sind stolze "Brainboys". Ihr Auftrag: auf einer Computerplatine eine riesige Herde Hirne Richtung Osten zu treiben.

"Und es gab Tamtamhirne. Und es gab Gagahirne. Und es gab Egalhirne. Und es gab fanatische Hirne. Es gab Hirne über Hirne, tausend verschiedene Arten von Hirnen - so weit das Auge reichte. Das ganze Tal war grau von Hirnen. Eine in der Hitze dampfende gigantische Masse."

Auf ihren gezähmten Reithirnen galoppieren die Brainboys durch das Datengras der Prärie, den Colt in der einen, das Synapsenlasso in der anderen Hand; harte, raue Burschen, die abends am Leuchtdioden-Lagerfeuer sitzen, im Informationsfluss angeln und erledigen, was die Programmierung ihnen aufgetragen hat. Für die Brainboys, einfache Hilfsprogramme, doch vom System mit einem Ich-Bewusstsein ausgestattet, existiert keine Welt, keine Realität mehr außerhalb des Rechners. Die der Computertechnik unterlegene Menschheit ist untergegangen, übrig geblieben sind ihre zum Herdenvieh degradierten Hirne, denen seitens der Brainboys keine Intelligenz zugesprochen wird.

Wer jetzt den Kopf schüttelt und dieses Szenario für ausgemachten Schwachsinn hält, etwas für Nerds, Computer-Freaks oder eher schräge Science-Fiction-Anhänger, und statt dessen lieber zu einem der derzeit angesagten Identitätsromane US-amerikanischer Autoren greifen will, dem sei gesagt: Schamps Idee ist genial und sein Roman ist hoffentlich mehr als nur eine Fußnote im großen Buch "Wo bin ich überhaupt?", dessen Lektüre regelmäßig für große Heiterkeit bei den Systemadministratoren sorgt. Spätestens seit der "Matrix"-Trilogie dürfte sich der Gedanke, dass das Ding an sich vielleicht von einem Computerprogramm generiert sei und sich hinter der so genannten Realität vielleicht etwas ganz, ganz anderes verstecken könnte, als das, was ich auf der Netzhaut wahrnehme, bis in die allerletzte Furche Oberbayerns verbreitet haben. Bildungsmenschen und Kinoverächter verweisen lieber auf Descartes, der es ja auch mit isolierten Hirnen hatte, Cineasten auf Rainer Werner Fassbinders grandiosen TV-Zweiteiler "Welt am Draht", eine Verfilmung von Daniel Galouyes gleichnamigen Roman, und das alles im Konjunktiv und in Zeiten, in denen man Schamps Romantitel "Hirntreiben" auch metaphorisch verstehen könnte.

"Welche Informationen?", fauchte ich.

"Daß Ihre Welt auch nicht existiert! Sie ist nichts anderes als ein Komplex veränderlicher Ladungen in einem Simulator ..." (aus "Welt am Draht").

Schamp dreht die große Frage nach der Virtualität des Daseins einfach um. In "Hirntreiben" sind es die auf 0 und 1 basierenden Hilfsprogramme, die an der "Wirklichkeit" verzweifeln. Der Leser erfährt ebenso wie die Brainboys nie, warum die Hirne eigentlich gen Osten getrieben werden, was dort mit ihnen passieren soll. Dass man sie essen kann, dass sie gut schmecken, legt eine Schlachtung nahe. Doch als Kid, ich greife voraus, als letzter Überlebender nach einer langen Reise ans Ende der Festplatte gerät - die Welt ist also doch eine Scheibe - stürzen sich die Hirne über die Kante ins Nichts, als ob das von jeher ihre Bestimmung gewesen wäre: die Flucht aus der Virtualität. Wer den Western "Red River" kennt, weiß, dass eigentlich am Ende eines Viehtrecks die Bahnstation stehen muss, eine Verladung der Viecher in Waggons, hin zu den Schlachthäusern. Nichts von alledem in Schamps Roman. Die Hirne springen über die Festplattenkante, und dieses Ende zitiert das Ende der Spukstadt aus Michael Endes "Unendlicher Geschichte". Das Nichts umschließt die berühmteste Stadt Phantasiens und der Werwolf Gmork erzählt Atreju, was mit denjenigen passiert, die ins Nichts gehen: Vielleicht werden sie zu einer Lüge ... Das Gehirn als Unwahrheit im Betriebssystem eines Rechners, allerhand.

Tausend und ein weiterer Verweis ließen sich aufzählen: Lewis Caroll, George Orwell, Niklas Luhmann. Literarisch geerdet ist Schamps Roman an Groschenheft-Western aus dem Bahnhofskiosk und der Marlboro-Werbung, die man mythologisch zugeteert als Vorfilm im Kino zu sehen bekommt. Doch Schamps Hilfsprogramme rauchen nicht, über dieses menschliche Laster sind sie schon lange hinweg. Nichtsdestotrotz treiben sie dieselben Fragen herum, die auch die Menschheit in den Untergang getrieben haben könnten. Brainboy Fred ist es, den auf ihrem Ritt gen Osten die Zweifel überkommen. Er liest die Texte auf den Datenhalmen, die angeblich von Menschen erdacht worden sind. Gedichte von Rilke, wissenschaftliche Abhandlungen über Kybernetik, technische Fachliteratur. Vielleicht sind diese Hirne, die wir hier - warum überhaupt? - über die Festplatte treiben, gar nicht so dumm, wie wir annehmen. Freds Gedanken. Fred stellt die Vermutung auf, dass der Horizont nur so weit reicht, wie sie sehen. Sprich: Dahinter kommt nichts. Hinter ihnen verschwindet alles, sobald es aus dem Blickwinkel gerät. Alle Büsche, fällt Fred auf, haben immer exakt denselben Abstand voneinander. Das System gibt ihnen eine Landschaft vor. Sie könnten unendlich lange so weitergehen. Hamster im Laufrad.

Jeder, der einmal das Computerspiel "Siedler" oder ähnliches gespielt hat, kennt diese Situation. Fred, das skeptische Hilfsprogramm, beginnt das "Scheißsystem" zu hassen. Das System mache zu viele Fehler, argumentiert er. "Versündige dich nicht gegen die Programmierung", entgegnet darauf der sehr religiöse Bill. Programme, die zuviel grübeln, werden vom allmächtigen System ohne jede Vorwarnung gelöscht. Verschwinden einfach. Fred ist der erste, der sich "weggrübelt". Es passiert kurz nachdem der Trupp an einer Schnittstelle vorbei kommt. Fred träumt von einem Leben außerhalb des Rechners, er spricht aus, wovon seine Kollegen nicht einmal zu träumen wagen: Es könnten Ausgabemedien, sprich Drucker, existieren. Es könnte tatsächlich eine "reale" Welt existieren, irgendwo da draußen. Seine Kumpels zucken verstört mit den virtuellen Schultern. Wir sind doch reell, entgegnen sie. Wir sind die nächst höhere Stufe der Evolution. Fordere kein Unheil heraus!

Fred der Skeptiker ist das virtuelle Pendant zu den Zweifelnden aus Aldous Huxleys schöner, neuer Somawelt. Ein ironischer Nachhall der Forderung "Recht auf Unglück" des Wilden im Gespräch mit Systemlenker Mustafa Mannesmann liegt in Freds Euphorie:

"Mensch, Kid, stell dir vor: Realität! [...] Zugegeben, dort draußen muß es jetzt reichlich wüst aussehen. Aber es muß trotzdem ein herrliches Gefühl sein, den heiligen Boden zu berühren. Stell dir vor: Atompilze. [...] Wenn die knatschgrüne Sonne über den grellorangen kontaminierten Ebenen aufgeht. Oder wenn fluoreszierende Bakterienstämme über geborstene Büroeinrichtungen wabern. Atemberaubend. Die Schwelbrände, der Fallout, die Gerippewälder, Goofy und Micky-Maus... Mann, muß das schön sein!"

Vielleicht hat Romanautor Matthias Schamp, der laut Klappentext auch als Konzeptkünstler im Ruhrpott aktiv ist, in seinem "Hirntreiben" die Schraube überdreht. "Wenn die knatschgrüne Sonne..." ist für den Popsozialisierten leicht als abgewandeltes Zitat der Combo "Geier Sturzflug" zu erkennen. Aus dem Atomangst-Song "Besuchen Sie Europa", Zusatz: Solange es noch steht. Den anämischen Hilfsprogrammen in der schönen, neuen Computerwelt, die sich nach der verstrahlten Welt draußen sehnen, würde Mustafa Mannesmanns Antwort auf die "Recht auf Unglück"-Forderung wenig sagen:

"Ganz zu schweigen von dem Recht auf Alter, Häßlichkeit und Impotenz, dem Recht auf Syphilis und Krebs, dem Recht auf Hunger und Läuse, dem Recht auf ständige Furcht vor dem nächsten Tag, dem Recht auf typhöses Fieber, dem Recht auf unsägliche Schmerzen jeder Art..."

Computerprogramme leiden nicht, ihr Ende ist ein Fingerdruck auf der Tastatur. Wer sich im Mannesmann-Leid suhlen will, muss dann doch auf US-amerikanische Autoren der Zeit zurückgreifen. Schamps Roman hat eine "dem Leben und der Realität" distanzierte, dem Trash (siehe das Geier-Sturzflug-Zitat) verpflichtete Betriebsebene, die zwar klug, stellenweise verdammt originell und schlicht und einfach anders als das sonst übliche sich präsentiert, aber ... Kein "Aber", wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, ob dieser Roman lesenswert sei: Ja (und 1:0 für Schamp).

Titelbild

Matthias Schamp: Hirntreiben.EEG. Ein Western-Roman.
edition selene, Wien 2000.
216 Seiten, 21,70 EUR.
ISBN-10: 3852661021

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