Selbstreflexive Wissenspoetik

Zu einem Sammelband über Goethes "Wahlverwandtschaften”

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Gabriele Brandstetter herausgegebene Sammelband beruht auf einer im Sommer 2000 in der Nähe von Basel stattgehabten Tagung, die am methodengeschichtlich bewährten Paradigma von Goethes "Wahlverwandtschaften" das Erzählen "als vermittelnde Kraft und Strategie zwischen den Wahrnehmungsformen der Kunst und der Wissenschaft" in den Mittelpunkt stellte. Brandstetter bezeichnet das Erzählen in ihrem Vorwort als "Form der Inszenierung von Fakten", deren Techniken sich die Beiträger unter verschiedenen Perspektiven widmeten. Der Band gliedert sich in die vier Abteilungen "Schrift", "Bild", "Gesellschaft" und "Naturwissenschaft".

Die erste Abteilung "Schrift" wird durch den Aufsatz "Wunderliche Nachbarskinder" von Gerhard Neumann, seinerzeit Mitveranstalter der Tagung, eröffnet. Er entwickelt die These, dass Goethes Roman "mit allen in der Schreibkultur zur Verfügung stehenden Redeformationen experimentiert, um den sich immer wieder entziehenden Transfer zwischen Wissen und Erzählen auf eine neue, bisher unerhörte Weise zur Sprache zu bringen." Neumann prägt für diese spezifische Intention des Romans den Begriff einer 'Wissenspoetik', die das "Problem der Transgression" naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in fiktive Narration im Erzählvorgang selbst reflektiert. Neumann versucht diese selbstreferentielle Verfahrensweise an dem konfligierenden Verhältnis zwischen den codierten Wissensbeständen und den vielfältigen Parallelerzählungen innerhalb des Romans zu erweisen. Eine Schlüsselfunktion kommt laut Neumann in diesem Zusammenhang dem Verhalten der einzelnen Figuren gegenüber dem Phänomen der gesetzhaften Rahmung ihrer Lebensbahn zu. Neumann unterscheidet drei Figurengruppen, die er als "Agenten von Rahmungsprozeduren" (Charlotte, Hauptmann), als Mittler zwischen Rahmenöffnung und -schließung (Mittler, Luciane) und als Rahmensprengende (Eduard, Ottilie) klassifiziert. In der daraus sich ergebenden erzählerischen Strategie permanenter Rahmung und Rahmenüberschreitung sieht Neumann das im europäischen Roman einzigartige Formprinzip der "Wahlverwandtschaften". Abschließend kommt Neumann auf die auffällige Formmischung in Goethes Roman zu sprechen. Die poetologische Funktion der spannungsreichen Koexistenz von Romanform, Anekdote, Aphorismus, Tagebuch und Novelle sieht er darin, dass sie gemeinsam ein Ensemble ,wunderlicher Nachbarskinder' bilden, die den Austauschverkehr von Wissen und Erzählen als komplexes Ineinander von Attraktion, Affinität und Abstoßung erscheinen lassen. Das in der Wiederholung von Ähnlichem sich manifestierende Ordnungsgesetz wird durch ihre fortgesetzte Rahmenbildung und -brechung subvertiert.

Im Aufsatz "Gesten des Verfehlens" der Herausgeberin geht es um das Medium des Briefes. Brandstetter zeigt, dass die Briefe "als Schreib-Szenen vorgeführt und reflektiert" werden. Ihre Untersuchung solcher Schreibszenen (die besonders Eduard und Ottilie betreffen) läuft auf den Befund hinaus, dass die Briefe in den "Wahlverwandtschaften" als "Medien der Verfehlung" fungieren, die die auf Kommunikation zielende Intention der Briefrede dementieren. Waltraud Wiethölter rückt in ihrem Beitrag "Von der Anstalt des Wissens und der Liebe zum eigenen Rock" den Aspekt der Darbietung von Wissensbeständen ins Zentrum, die besonders im zweiten Buch des Romans keinen Beitrag zum Handlungsfortgang liefern. Sie verknüpft diese Beobachtung mit den Darbietungsformen der französischen Enzyklopädie und leitet daraus die These ab, dass Goethe in Fortsetzung des aufklärerischen Projekts eine "Poetisierung des Wissens" angestrebt habe, deren erzählerische Prinzipien Offenheit und Flexibilität seien. Theo Elms Aufsatz über ",Wissen' und ,Verstehen' in den ,Wahlverwandtschaften'", der die erste Abteilung beschließt, stellt dem Verfall des Wissens die Beständigkeit des Allgemein-Menschlichen gegenüber.

Die zweite Abteilung "Bild" ist ganz auf das Thema der Tableaux vivants konzentriert. Sie wird eröffnet von dem Beitrag "Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen" von Birgit Jooss, die 1999 eine kunsthistorische Monografie über dieses um 1800 beliebte Gesellschaftsspiel vorgelegt hat. Jooss rückt diese Kunstübung für Laiendarsteller in engen Zusammenhang mit der zeitgenössischen Theaterreform und macht auf Goethes eigene Vertrautheit mit dieser Darstellungsform, die aus seiner Tätigkeit am Weimarer Theater resultiert, aufmerksam. Sie arbeitet Goethes Funktionalisierung der Tableaux vivants zur Personencharakteristik heraus, mit der er für Autoren wie Hoffmann (in "Berganza") oder Johanna Schopenhauer stilbildend geworden sei.

Nils Reschkes Aufsatz "Die Wirklichkeit als Bild" ist der wohl ambitionierteste Beitrag dieses Sammelbands. Er betrachtet die Lebenden Bilder "als selbstreflexive Verarbeitung von Geschichte", die der "Bildung historischen Bewußtseins als Demystifikation emphatisch auf Dauer gestellter Augenblicke" dienen. Bezogen auf die Romanhandlung erfüllten die Tableaux vivants, so Reschke, eine parodierende Funktion, die über die Figurenkonstellation der "Wahlverwandtschaften" hinausgreife und in ihrer Thematisierung der Vater-Tochter-Relation sogar Lessings "Emilia Galotti" einbegreife. Reschke setzt der geschichtsphilosophischen Deutung der Tableaux vivants, wie sie von Brude-Firnau ins Spiel gebracht wurde, eine dekonstruktivistische entgegen, die in den Lebenden Bildern eine "Karnevalisierung der Historie" erblickt, die nicht auf Sinnstiftung hinauswill, sondern auf die Versinnlichung einer sinnresistenten "Interferenz erotischer und politisch-ökonomischer Macht." Er kommt zu dem Resümee: "Historische Deutungsköder auszulegen und zugleich blinde Flecken der Erkenntnis von Geschichte als Darstellung des Undarstellbaren auszustellen, erweist sich als das selbstreflexive Raffinement der Bilderszenen." Auf diese eisigen Höhen begrifflicher Abstraktion folgt Tim Mehigans pragmatischer Beitrag "Zur Blickproblematik in Goethes 'Wahlverwandtschaften'", aus dem man einiges Kuriose über die englische Fenstersteuer im 17. und 18. Jahrhundert erfährt. Claudia Öhlschläger entdeckt in "»Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation" für sich noch einmal die Aporie, dass das im Lebenden Bild gerettete und überbotene Leben doch nur als Kunst und damit um den Preis seiner Mortifikation fortexistiere.

Die Abteilung "Gesellschaft" beginnt mit Ralf Simons Aufsatz "Zu Gast", der sich als "phänomenologischer Zugang zur Gastsemantik" versteht. Er widmet sich insbesondere der aporetischen Stellung Ottiliens, die sich als Gast auf Eduards und Charlottes Landgut aufhält, aber alsbald die Rolle einer stellvertretenden Hauswirtin übernimmt. Simon leitet daraus die These ab, "daß Ottilie verdrängter Gast und stellvertretender Wirt zugleich ist und damit in den doppelten Ort des Un-Logischen rückt." In seiner spekulativen 'Coda' deutet Simon diese Ortlosigkeit des Gastes Ottilie als Indiz für ihren Zeichencharakter, ist doch "die Sprache als solche unentwirrbar der Gastsemantik verschrieben." Clemens Pornschlegel liest in seinem Beitrag "Das administrierte Verhängnis" Goethes Roman auf der historischen Folie der Etablierung des modernen Verwaltungsstaats. Dessen Rationalität werde von Figuren wie dem Hauptmann, dem Gehilfen und dem Architekten protegiert, könne sich jedoch gegen die im Verlauf der Liebes- und Scheidungskatastrophe entfesselten Leidenschaften nicht durchsetzen. Aus dem "Verschwinden von Institutionalität" resultierten die "sukzessive Ausfaltung einer tödlichen intersubjektiven Struktur" und eine "narzißtische Aggressivität der Subjekte," die den Untergang notwendig herbeiführen. Joseph Vogl geht in seinem Aufsatz "Goethes ökonomischer Mensch" dem "Verhältnis von Ökonomie und Textökonomie" nach, wobei er die "Wahlverwandtschaften" in einer Übergangsstellung zwischen den "Lehrjahren" und dem "Faust II" sieht. Er hebt die Bedeutung der Verbrennungslehre Ritters für die Aufzehrungsprozesse des Romans hervor, da in beiden der Kode einer regulierten Wechselseitigkeit in einem unkontrollierten "Feuerproceß" kollabiere.

In der letzten Abteilung "Naturwissenschaft" finden sich zwei Aufsätze. "Wahlverwandtschaft" von Christine Lubkoll sieht den naturwissenschaftlichen und den Liebesdiskurs des Romans durch zwei Problemaspekte verknüpft: durch einen Paradigmawechsel im Denken und durch eine aporetische Kippstruktur. Sie beschränkt sich im Folgenden jedoch weitgehend auf die Wiedergabe der Ausführungen von Jeremy Adler zur zeitgenössischen Chemie und von Niklas Luhmann über die Umbrüche in der Liebeskonzeption. Goethes Roman erhält abschließend bezogen auf beide Sphären das Etikett einer "kalkulierten Diskurskritik". Dietrich von Engelhardt liefert den Titel seines Aufsatzes einlösend den chemie- und medizinhistorischen Hintergrund von Goethes "Wahlverwandtschaften". Interessant sind seine Hinweise auf den zeitgenössischen Diskurs über das Sprachproblem in den Naturwissenschaften. Während die eher naturphilosophisch orientierten Autoren an einer gleichnis- oder bildhaften Beschreibung natürlicher Prozesse festhalten wollten, optierten die Empiriker für die Etablierung einer reinen Formelsprache.

Die Lektüre des Sammelbands verlangt dem Leser einiges an Steh- respektive Sitzvermögen ab, da nicht wenige Beiträge sich einer forcierten Terminologie bedienen, die im heutigen Wissenschaftsbetrieb gemeinhin als Ausweis besonderer Fachkompetenz gilt. Sie ist indes oft nicht frei von einem bramarbasierenden Tonfall, der den Leser eher einschüchtern als überzeugen möchte. Auch dieser Sammelband enthält Beispiele dafür. Der wissenschaftliche Ertrag von Brandstetters Sammelband scheint mir auf zwei Gebieten zu liegen: Zum einen akzentuieren besonders die Aufsätze der ersten Abteilung, in der Gerhard Neumanns Text herausragt, die Bedeutung des Themas der Rahmensetzung, das schon früh in Goethes Roman in der Mooshüttenszene angeschlagen und hier zu Recht als poetologische Schlüsselkategorie entfaltet wird. Zum anderen führen die Beiträge von Jooss und Reschke die sehr rege Diskussion um die Tableaux vivants auf hohem Niveau weiter und bringen neue kulturgeschichtliche und dichtungstheoretische Aspekte ins Spiel. Dieser Ertrag ist, bedenkt man die Intensität der "Wahlverwandtschaften"-Forschung, kein geringer.

Kein Bild

Gabriele Brandstetter (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes "Wahlverwandtschaften".
Rombach Verlag, Freiburg 2003.
306 Seiten, 50,20 EUR.
ISBN-10: 3793093360

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