Die Geister, die ich rief

Stewart O'Nans neuer Roman "Halloween"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Komm, Freund, Fremder, Geliebter, Nachbar. Komm aus deinem behaglichen Zimmer mit dem Großbildfernseher, komm aus deinem warmen Haus in die kühle Nacht hinaus. Riech die nassen, zermatschten Blätter in der Einfahrt, die moderige Mischung aus Staub und Koriander in der Luft. Es ist die beste Zeit des Jahres, die einzige Jahreszeit, in der du etwas von uns und unserer malerischen Vergangenheit wissen willst - von Hexenjagden und dem Rauch von Holzfeuern, den urigen Namen der Toten auf moosbedeckten Friedhöfen. [...] Also fahr mit uns im Kreis durch die Nacht, die Bäume von den Scheinwerfern aufgeschreckt."

So lockt Stewart O'Nan den Leser in seinen Roman hinein. (Lockt hinein? Er zieht, er verlangt: "Bist du nicht gespannt? Willst du es nicht wissen?") Sofort wird der Lesende aufgefordert, das Zwiegespräch mit Marco aufzunehmen, der die Geschichte erzählt (zusammen mit und unterbrochen von Toe und Danielle).

Die drei Jugendlichen sind vor einem Jahr, an Halloween, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seit diesem Tag befinden sie sich in einer Art "Zwischenreich", im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, angezogen und gerufen von den Bewohnern der Kleinstadt in Connecticut, in der sie aufgewachsen sind. Avon erscheint jedoch selbst als eine Geisterstadt, verschlafen bis zur Katatonie, in der leere, ausgebrannte Menschen miteinander umgehen. Wie etwa die Eltern der Jugendlichen, die nicht vergessen oder verzeihen können. Gerufen werden die Geister allerdings vor allem aber von Tim, der den Unfall unbeschadet überlebt hat und sich nun um den ebenfalls überlebenden, aber schwer behinderten Kyle kümmert, und von Brooks, dem Polizeibeamten, der den Jugendlichen bei ihrer Hochgeschwindigkeitsfahrt gefolgt war, um sie anzuhalten, und der den Unfall aufgenommen hat.

Und sie warten, die Geister, dass etwas passiert, denn passieren wird etwas, das wissen sie. (Sie ahnen sogar, was geschehen wird. Lauern darauf.) Doch beeinflussen können sie nichts, weder in die eine noch in die andere Richtung, weder zum Guten noch zum Bösen, wobei moralische Kategorien immer relativ sind.

Marco ist ein allwissender Erzähler. Er sieht, was die Menschen, die er kannte, tun, wenn sie allein sind und die Maske absetzen, die sie tragen, um andere zu täuschen. Wenn Kyles Mom, die sich um ihren nun behinderten Sohn kümmert, als sei er wieder ein Kind, ihm Möhrenstifte und Oreo-Kekse in seine Lunchbox packt, verzweifelt und leer vor dem Fernsehapparat sitzt. Marco kennt ihre Gedanken, interpretiert und kommentiert sie: "Ein Jahr. Ist das möglich? Es kommt ihr vor, als hätte sie sich schon ein Leben lang um Kyle gekümmert. Wie viel mehr hat sie zu geben? Doch sie wird es bereitwillig tun."

Die Toten sind überall, wo man sich mit ihnen auseinandersetzt, wo man sie nicht gehen lassen will. Wenn Brooks sich wieder einmal Vorwürfe macht, während der Verfolgungsjagd falsch gehandelt zu haben. Brooks ist der "große Held. Denn es muss einen Helden geben, stimmt's, jemanden, dem man die Daumen drückt? Tut uns Leid, er ist alles, was wir haben, er und Tim, aber Tim kann nicht der Held sein".

Warum Tim nicht der Held sein kann, erfährt der Leser allerdings erst am Ende des Romans, obwohl die Toten immer wieder Hinweise geben. Aber wer will schon etwas von der Zukunft hören? Die Charaktere im Buch sicher nicht. Und der Leser vielleicht auch nicht. Nicht umsonst zitiert Marco immer wieder Dickens: "Geist, hab Erbarmen, zeig mir nichts mehr!"

Besonders interessant ist dabei die Erzählweise des Romans - eine Erzählerstimme, immer wieder in Parenthesen unterbrochen von Toe und Danielle, die Marco korrigieren, ihm widersprechen, ihm vorauseilen, ihn verlassen, sich mit ihm streiten, unterbrochen aber auch immer wieder von ihm selbst, wenn er den Leser anspricht oder versucht, zu den Lebenden durchzudringen, die ihn nicht mehr hören können.

Der Roman ist eine modifizierte Geistergeschichte, bei der das wahrhaft entsetzliche nicht die Toten sind, die zurückkehren, um die Überlebenden zu erschrecken, sondern die Lebenden selbst. Die Straßenlaterne zum blinken zu bringen, ist nicht unheimlich, meint Danielle, und damit hat sie recht: "Kyle ist gruselig. Tim ist gruselig." ("Tim ist cool", sagt Toe.) Der dies aber so oft wiederholt, dass man es nicht mehr glauben möchte.

Der Roman ist aber auch eine Gesellschaftsbild einer Stadt, exakt beobachtet. Einer Stadt zwischen Vergessen und Erinnern, zwischen dem Schlaf der Gerechten und den Ängsten der Gequälten. "The angels left this nation and salvation caught the last train out tonight", um jemanden zu zitieren, der sicher nicht auf dem Soundtrack der langen Fahrt auftauchen wird, die Tim am Ende des Romans antritt.

Dort würde sich wohl eher Nirvana wiederfinden, deren Frontmann Kurt Cobain den Abschiedsbrief hinterlassen hat, der als Motto über dem Roman steht: "I hate myself and want to die." Passend zu diesem Motto auch der Ton des Buches: Hier beleuchtet die Lampe des Polizeifahrzeugs die Bäume "Blair-Witch-mäßig", sind die Kapitelüberschriften an alte die Titel alter Horrorfilme angelehnt, vergleicht Marco den Leser mit Mr. Magoo, der das Leben im Roman kurzfristig anhalten, festhalten, sogar zurückdrehen, den drei Jugendlichen für ein paar kurze Momente das 'Leben' zurückgeben kann.

Amerikanische Popkultur, amerikanischer Alltag. Und doch ansprechend, anrührend - wenn man so altertümliche Worte verwenden darf, um den Roman zu beschreiben - oder, um im Bild zu bleiben, einfach cool. Das Buch gleicht der Fahrt, die die Jugendlichen das Leben gekostet hat: Es ist schnell, gefährlich, es geht durch Wälder, in denen man sich verirren kann, gelegentlich ist es dunkel - und es endet in einer Katastrophe.

Titelbild

Stewart O´Nan: Halloween. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498050338

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