Sein Träumen ist Sinnen

Christoph Weismüller über Richard Wagners öffentliche Traumarbeit

Von Christa JostRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christa Jost

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nun soll der Freund 'träumen'; sein Träumen ist Sinnen, sein Sinnen Walten des Wissens!" Dieser Satz, den Cosima von Bülow in einem Brief vom 19. September 1865 an König Ludwig II. von Bayern prägte, bezog sich auf Richard Wagner, ihren damaligen Lebensgefährten. Von der Nähe zwischen Kunst und Traum fest überzeugt, brachte sie als seine Ehefrau über vierhundert Traumerinnerungen Wagners in ihren eigenen Tagebuchaufzeichnungen von 1869 bis 1883 zu Protokoll. Bereits 1982 edierte Philippe Muller die komplette Sammlung dieses Traummaterials in französischer Übersetzung für das belgische Verlagshaus von Pierre Mardaga unter dem Titel "Wagner par ses rêves". Im Rahmen des Bandes "Musik, Traum und Medien" erschien eine eindrucksvolle Auswahl dieser Traumbilder unter der Überschrift "R. träumte" nun erstmals in der deutschen Originalsprache.

Auch in seinem Traumleben bewegte sich Wagner häufig im Theater: ohnmächtig vor Wut am 30. Juni 1872 bei einer Aufführung des "Tannhäuser" in Wien, weil nach dem Abgang der Elisabeth eine von ihm in der Theater-Partitur gestrichene Cabaletta gegen seinen Willen dennoch gegeben wurde, sprachlos vor Erstaunen am 27. Dezember des selben Jahres in München, weil er seine eigene "Walküre" vor lauter hin und her trappenden Reitern, die Hunding eskortierten, nicht wieder erkannte, voller Wehmut über den Auftritt des Tenoristen Ludwig Schnorr von Carolsfeld in einer Gluck'schen Oper am 5. November 1873, da dem luziden Träumer zugleich bewusst war, dass sein legendärer Tristan-Darsteller gar nicht mehr lebte. Albträume verursachte dem Komponisten vor allem die Rolle des Kapellmeisters. Eine nicht gerade angenehme Traumerinnerung bildete der nächtliche Empfang, den ihm am 1. März 1874 Orchestermitglieder im Foyer der Pariser Oper bereiteten. Auch auf seine Bemerkung hin, "daß er nie ein Orchester gequält habe", fanden sich die höhnischen Musiker unter seiner Leitung nicht zur konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Am 27. September 1878 träumte Wagner "von einer Klarinette, die sich selbst spielte", am 14. Juni 1879 sollte er "Fra Diavolo" in einem Saal dirigieren, "wo er das Orchester gar nicht sah, und im Ärger über den Unsinn erwachte", und sein Versuch am 29. Juni 1879, zwei Holzbläser beim Einstudieren einer Beethoven-Symphonie zu disziplinieren, spitzte sich in der Traumwelt des Dirigenten sogar bis zur handgreiflichen Auseinandersetzung zu: "[W]ie er beginnen will, unterhalten sich der 1te Fagottist und der 1te Oboist; wie er ihnen das verweisen will, gibt ihm der Fagottist eine Ohrfeige, welche ihn rücklings fallen läßt - nach der Lage, in welcher er im Bett war!" Dass Wagner im Land seiner Träume ein bewegtes Musikerdasein führte, wird wohl auch die vom Autor bereits angekündigte separate Publikation der vervollständigten Traummaterialsammlung bestätigen.

Christoph Weismüller, Jahrgang 1957, gehört zu den wichtigsten Vertretern der "praktischen Philosophie", einer Disziplin, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Austausch über philosophische Themen im Alltagsleben zu verankern. Seine vorliegende Studie über Richard Wagners "öffentliche Traumarbeit" schließt Überlegungen zu den wichtigsten Wagner-Texten von Thomas Mann, Friedrich Nietzsche, Carl Dahlhaus und Theodor Adorno ein. Angelpunkt der Ausführungen Weismüllers bildet die Abhandlung, die Wagner zum 100. Geburtstags von Beethoven verfasste, um seine eigene Konzeption des Musikdramas vor dem Hintergrund der Philosophie Schopenhauers zu betrachten. In Anlehnung an Schopenhauers Traumtheorie entwickelte Wagner seine musiktheoretischen Ansätze. "Nicht aber identifiziert er den Traum mit der Musik; explizit findet sich bei ihm die Auskunft, daß er 'das Phänomen des Traumes analogisch, nicht aber mit diesem [dem Tonstück] identifizierend, auf die Entstehung der Musik als Kunst anwendet.' [...] Die Musik ist die Repräsentation des Übergangs vom Tiefschlaf zum Traum", resümiert Weismüller in seinem Kapitel "Die Entstehung der Musik: Eine Traumanalogie".

Wagner differenzierte in seiner Beethoven-Schrift zwischen einem "leichteren, dem Erwachen unmittelbar vorausgehenden Traum", den er "allegorisch" nennt und einem "dem wachen celebralen Bewußtsein gänzlich entrückte[n] Traum des tiefsten Schlafes". Dank einer besonderen Fähigkeit zur Introspektion blendet der schöpferische Musiker - im wachen Zustand gleichsam wie im Traum - die Reize der Außenwelt aus und versetzt sich nach Wagners eigenen Worten "in den Zustand des Hellsehens, wo er sich dann außer den Schranken von Zeit und Raum als Ein und All der Welt erkennt. Was er hier sah, ist in keiner Sprache mitzuteilen; wie der Traum des tiefsten Schlafes nur in die Sprache eines zweiten, dem Erwachen unmittelbar vorausgehenden, allegorischen Traumes übersetzt, in das wache Bewußtsein übergehen kann, schafft sich der Wille für das unmittelbare Bild seiner Selbstschau ein zweites Mitteilungsorgan, welches, während es mit der einen Seite seiner inneren Schau zugekehrt ist, mit der anderen die mit dem Erwachen nun wieder hervortretende Außenwelt durch einzig unmittelbar sympathische Kundgebung des Tones berührt."

Um Wagners Gedanken zu Vorgängen wie jenen des Träumens und des Komponierens zu beleuchten, bedient sich Weismüller einer eigen geprägten, stellenweise unverständlichen Sprache. Das hängt jedoch nicht zuletzt damit zusammen, dass er Dinge berührt, die sich der Sprache entziehen. Dabei stößt er auf Zusammenhänge, über die wohl die meisten Wagner-Experten bislang kaum nachgedacht haben.

Titelbild

Christoph Weismüller: Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
263 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3826020456

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