Träume machen Diskurse

Wolfgang Mertens Einführung in die Traumdeutung

Von Hermine WehrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hermine Wehr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neue Forschungsparadigmen müssen sich, wie Thomas Kuhn gezeigt hat, nicht nur gegen die Vertreter der alten Paradigmen behaupten, sie werden auch von den Kritikern bestimmt, die sich auf dem Feld des neuen Paradigmas bewegen, ohne die Voraussetzungen vorbehaltlos zu akzeptieren. Der Diplompsychologe und Psychoanalytiker Wolfgang Mertens gibt in "Traum und Traumdeutung" nicht nur einen historischen, sondern auch einen historisierenden Überblick über die Paradigmen zur Traumforschung unter den besonderen Bedingungen der Forschungskonkurrenz. Er beginnt bei Sigmund Freud, dessen "Traumdeutung", deren Erscheinen auf 1900 vordatiert wurde, und bietet ein breites Spektrum an psychologischen und psychoanalytischen Arbeiten, die sich seither mit diesem Thema auseinandersetzen. Neurophysiologische und neurobiologische Ansätze werden in "Traum und Traumdeutung" ebenso aufmerksam abgehandelt, wie Forschungsergebnisse, die aus empirisch gewonnenen Schlaflaborstudien stammen.

Während Sigmund Freud in erster Linie vor das Problem gestellt war, seine Zeitgenossen zu überzeugen und sie nicht gänzlich in rätselhaftes Schwanken zu versetzen, konnten seine Nachfolger und auch Gegner jene Freiheiten genießen, die sich durch Freuds erfolgreiche Etablierung der Psychoanalyse als Wissenschaft öffneten. Als einer der prominentesten Gegnern der Freud'schen Psychoanalyse und Traumdeutung ist Carl Gustav Jung hervorzuheben, der sich wegen seines ganzheitlichen Blicks auf die menschliche Psyche in wissenschaftlichen Kreisen einen unverhältnismäßig esoterischeren Ruf als Freud zuzog.

Ohne für eine Seite Partei zu ergreifen, zieht Mertens nichts geringeres in Erwägung, als die rationale Perspektive der Traumpsychologie nach Freud und deren sinnlich-oppositionelles, jungianisches Pendant mit jener Dichotomie zu analogisieren, die uns aus der cartesianischen Philosophie vertraut ist. Problemlösungsaktivitäten seinen, so Mertens, ausschließlich auf der Ebene des Intellektuellen anzusiedeln, ließen ebenso eine Entsinnlichung und Entkörperung kognitiver Aktivitäten erkennen, wie die derzeit so beliebte Entsexualisierung in den Objektbeziehungs- und Bindungstheorien. Hier scheint der schon tot geglaubte Cartesianismus in Form einer Trennung von Intellekt und Körper zurückzukehren.

Die Anknüpfung an geistesgeschichtliche Diskurse und die damit einhergehende Betrachtung der Traumpsychologie aus einem interdisziplinären Blickwinkel stellt jedoch nur den Paragegenstand von Mertens Untersuchungen dar. Der thematische Kernpunkt seiner Abhandlung ist und bleibt der Traum, einschließlich seiner Bedeutungshorizonte. Wie wir an folgendem Beispiel deutlich erkennen können, vermeidet Mertens sogar einen allzu theoretischen Abhandlungsmodus. Er spricht dieses Anliegen unmittelbar aus, indem er den Wunsch nach einer Trennung zwischen der psychologischen und der physiologischen Betrachtungsebene äußert. Letztlich ist es Mertens Anliegen, die gegenseitige Ergänzung beider Perspektiven aufgrund ihrer etwaigen Korrelationen als ein bereicherndes Moment der die Traumdeutung zu formulieren: "Bei der Klärung der Zusammenhänge zwischen psychischen und physiologischen Prozessen betritt man bereits einen metapsychologischen bzw. interdisziplinären Boden, einen Zwischenbereich, der jenseits der psychologischen Betrachtungsweise angesiedelt ist. Psychologie und neurophysiologische Zugänge erfordern jeweils eine eigene Begrifflichkeit und eine eigene Methodik; weder lässt sich die psychologische auf die neurophysiologische oder -biologische Betrachtungsweise reduzieren, noch umgekehrt."

Die große Spannweite, die Mertens kurze Einführung umfasst, ist im mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen erhält der Leser einen Überblick über unterschiedliche Modelle der Traumpsychologie, wodurch die Darstellung einen gewissen Grad an Objektivität erlangt und selbstständiges Nachdenken des Lesers über das Thema angeregt wird. Des weiteren markiert der Psychologe die Folie der Rekapitulation seiner eigenen Position. Wir dürfen Mertens' Stellungnahme jedoch nicht dahin gehend missverstehen, dass der Autor einen lediglich gegensatzbetonten und folglich eingeschränkten psychologischen Forschungsüberblick artikulierte. Rigidität bestimmt ohnehin nicht sein psychologisches, und vermutlich auch nicht sein therapeutisches Wissen, fremde Theorien werden eben nicht nur durch die eigene Brille wahrgenommen. Diese Determiniertheit wirft Mertens manchen der jüngsten Lehrmeinungen vor. Er meint, dass das Verständnis der Psychologie des Traums und der darauf basierenden Traumdeutung in diesem Jahrhundert stark von den Auffassungen Sigmund Freuds geprägt ist. Die Freudianer, wie auch die Kritiker der Psychoanalyse nähmen bis zum heutigen Tag auf Freud Bezug, um ihre eigenen Auffassungen kontrastierend darzustellen. So bliebe für Freunde und Gegner die psychoanalytische Traumauffassung Ausgangspunkt für alle Modifizierungen und Weiterentwicklungen.

In "Traum und Traumdeutung" wird ein vielschichtiger und ausgereifter psychodynamischer Begriff ins Visier genommen, der die schwarz-weiße Grenzlinie der Cartesianer hinter sich gelassen hat. "Wie [...] deutlich geworden ist, wurden in der Vergangenheit die eher emotionale und impulshafte Seite [...] und die kognitive Seite der Problemlösung [im Traum] viel zu stark dichotomisiert. Heutzutage ist demgegenüber von einer Affektlogik auszugehen [...]: In jeder Emotion steckt auch ein intelligentes Erkennen, und jeder Denkprozess enthält gefühlsmäßige und intuitive Anteile." Mertens Interesse an Träumen konzentriert sich in erster Linie auf die psychoanalytische Therapiesituation zwischen Therapeuten und Analysanden. Aus dieser Präferenz resultiert im folgenden, dass nicht nur die Traumsemantik, sondern auch die Mitteilbarkeit von Träumen und die Aspekte der entsprechenden Kommunikationssituation Gegenstand der Abhandlung sind. Zum Beispiel setzten Mark Kanzer, John Klauber und der Münchner Psychoanalytiker Michael Ermann sich mit der kommunikativen Funktion des Traumberichts auseinander. Dieser Ansatz rechtfertigt sich dadurch, dass die herkömmliche Fokussierung auf das Intrapsychische des Traumgeschehens 'übersehen habe', dass das Berichten eines Traums immer eine kommunikative und beziehungsdefinierende Funktion habe. Es wird untersucht, zu welchem Zeitpunkt ein Traum, und vor allem wem er erzählt wird. Mertens zieht keinen der beiden Ansätze dem anderen vor, da der Inhalt nicht nur seine Mitteilung, sondern stets geprägt sei von konflikthaften Beziehungsphantasien, weshalb beides gleichgewichtig bliebe.

Zunächst muss die vornehmlich visuelle Erscheinungsgestalt des Traums vom Analysanden in ein sprachliches System übertragen werden. Mit Bezug auf den New Yorker Neurobiologen Jonathan Winson spricht Mertens die Dominanz des Visuellen im Traum an: Aus evolutionsbiologischer Sicht ging die quantitative und qualitative Steigerung der "Lern- und Gedächtnisleistung [ab einem bestimmten Zeitpunkt] nicht mehr über eine Vergrößerung der präfrontalen Cortex [...], statt dessen entwickelte sich als neuer Mechanismus zur Leistungssteigerung des Gehirns der REM-Schlaf". REM bezeichnet die traumintensivste Phase des zyklisch gegliederten Schlafgeschehens. In einem anderen Kapitel wird referiert, dass sich hierbei die Augenbewegung des Träumenden in Korrelation zur Heftigkeit der aktual aufkommenden Affekte erfolgt.

An die Frage nach der Kommunikabilität von Trauminhalten hätten sich an dieser Stelle weitere Fragestellungen anschließen lassen. Zum Beispiel jene nach dem Verhältnis zwischen bildlicher Simultanität und sprachlicher Narrativität. Ohne das Fehlen eines ästhetischen Diskurses an de Buch kritisieren zu wollen, wäre es interessant zu erfahren, welche psychologischen Auswirkungen diese Transferleistung auf den Analysanden hat, der in gleicher Weise an Ausdrucksoptionen gewinnt, wie er diese auch verliert. Schließlich weist die bildliche 'Kommunikation' Eigenschaften auf, die sich der verbalen Substitution entziehen. Mertens nimmt hierauf leider keinen Bezug. Mertens versteht die Freudsche Heuristik als eine der Hauptgrundlagen der Psychologie des Traumes, auch oder gerade weil dessen "Traumdeutungsmethode" an texthermeneutische Verfahrensweisen angelehnt ist.

Das Novum in Freuds Untersuchungen besteht in der Annahme, dass "jeder Traum den Versuch einer Wunscherfüllung" darstellt, eine Annahme, welcher der Wiener Psychoanalytiker den Status als unantastbare Kategorie zuschreibt. Der scheinbare Widerspruch, der sich aus den unangenehmen Gefühlen, die so manchen Traum begleiten, in Verbindung mit dem Auftauchen sehnlicher Wünsche ergibt, führt Freud zu einer Differenzierung seines Untersuchungsgegenstandes: Er unterschied zwischen dem manifesten und dem latenten Trauminhalt. Der latente Teil erweist sich als Beheimatung der unerfüllten Wünsche, und gleichzeitig als Gegenspieler unseres vollen Bewusstseins. Mit anderen Worten: Für den Fall, dass der Wunsch, der sich im Traum artikuliert, mit negativen Emotionen, wie zum Beispiel Scham behaftet ist, schaltet unser Vorbewusstsein eine Art Zensur ein, die den jeweiligen Wunsch derart maskiert, dass er uns lediglich in abgeänderter Gestalt, sprich im manifesten Trauminhalt wiederbegegnet. Mertens referiert auch Freuds vier "prinzipielle Möglichkeiten der Entstehung eines Wunsches, die zur Traumgenerierung führen können: 1. Ein bei Tage anerkannter Wunsch, der keine Befriedigung finden konnte, 2. ein bei Tage verworfener, verdrängter und somit unerledigter Wunsch, 3. aktuelle im Schlaf sich regende Bedürfnisse, und 4. unbewusste, verdrängte Triebregungen."

Freud führt die Entstehung derartiger Wünsche letztlich auf die Unsterblichkeit von Kinderwünschen zurück, die auch im Leben des Erwachsenen als Quelle heftiger "Triebregungen" fungieren und demzufolge als Hauptakteure auf der Bühne psychopathologischer Neurosen in Szene treten. Mertens, der hier die Freud'schen Thesen zum Teil übernimmt, reagiert auf jene, im Unterschied zu anderen Psychologen, nicht wie "der Teufel auf das Weihwasser". Wohl aber ist es sein Anliegen, die von Freud behauptete Unsterblichkeit der infantilen Wünsche in Frage zu stellen. Er meint dass die Vermutung viel näher liege, dass die Erinnerung an unsterbliche Kinderwünsche traurig mache, sofern der Abstand zum heutigen Erwachsenenleben wahrgenommen werde, und deshalb die Erinnerung an kindliche Wünsche abgewehrt werden müsse.

Die alltägliche und flüchtige Erinnerung an die nächtlichen Träume lässt diese als ein relativ rationales Phänomen erscheinen. Wird diesem Eindruck Vertrauen geschenkt, so unterliegt man laut Mertens einer Täuschung, die den Traumdeuter stets um das selbe Problem kreisen lässt: Der vordergründig erinnerte, manifeste Trauminhalt wird zum Hauptsignifikanten der gesamten Traumbedeutung, und somit das entscheidende Moment der Zensur vernachlässigt. Die Aufmerksamkeit richtet sich folglich auf die unmittelbaren Bewusstseinsinhalte, ohne jedoch deren Pendants aus dem Unbewussten zu berücksichtigen. Infolge dieser Metalektüre des Traumes wird die Komponente des Intellekts überbetont. Mertens klärt über dieses Phänomen als Erscheinung einer gesellschaftlich fest internalisierten Mentalitätsform auf, deren Wurzeln bis zum bürgerlichen Idealismus zurück zu verfolgen sind. Das Erinnertwerden an die unsterblichen Kinderwünsche entspricht nach Mertens auch nicht dem immer noch weit verbreiteten cartesianischen Ideal eines ausschließlich vernunftbegabten Erwachsenen, der sich von kindlichen Sehnsüchten, triebhaftem Begehren und infantiler Ausgeliefertheit an körperliche Bedürfnisse und Emotionen befreit hat habe. In dieser Auffassung sieht der Autor den "Ursprung aller Doppelmoral und Heuchelei bis zum heutigen Tag."

Er stellt somit zwei zueinander in Dichotomie stehende Bereiche, den gesamtgesellschaftlichen Kosmos und aus dem Reich der Träume einander gegenüber: Intellektualismus und ganzheitlich ausgerichtetes Denken versus manifester und latenter Trauminhalt. Genau genommen hebt Mertens hierbei die Opposition der genannten Gegenüberstellung auf, um einem psychoontologischen Wechsel Vorschub zu leisten, der die herkömmlichen, statischen Auffassungen der menschlichen Psyche zugunsten eines äußerst dynamischen Prinzips ablöst. Entsprechend wenig Beachtung schenkt der Autor und Psychoanalytiker jenen traumpsychologischen Diskursen, die über den Tellerrand ihrer Kategorisierungen nicht hinausblicken. Obschon Mertens die Arbeit Jungs nicht gänzlich diskreditiert, bringt er dennoch Kritik an.

Eine Frage, die Freud in den "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" stellt, greift Mertens in seinem Buch erneut auf: "Warum schläft das Seelenleben nicht ein?", beziehungsweise: was ist der Motor des Traumes, wenn die Erfüllung von Kinderwünschen nicht als notwendige Funktion in Anspruch genommen werden kann? Mertens referiert die heutige Korrektur und Präzisierung gegenüber Freud: Gegenwärtig gehe es nicht mehr alleinig um die Aufspürung verdrängter Kinderwünsche. Vielmehr stehe nun das Interesse für aktuelle konfliktträchtige Probleme im Vordergrund, die den Betreffenden beschäftigen, "hinter denen sich verdrängte Wünsche und Traumatisierungen seines Selbst, sowie Kompensationen dieser Einschränkungen und Verletzungen verbergen."

Mertens untersucht, auf welche Art und Weise diese verborgenen Regungen aufgedeckt werden können. In Nähe zu Freud fordert er eine Form der Traumarbeit mit dem Analysanden, die dessen Gedanken zum eigenen Traum im Wachzustand integriert. Somit fungiert die Methode der freien Assoziation als semantische Schnittstelle zwischen manifestem und latentem Trauminhalt, und erfüllt somit die wichtige Funktion der clavis interpretandi zum Unbewussten.

Dem Traum kommt die wichtige Aufgabe zu, bei der Problembewältigung mitzuwirken. Die Analyse des Traumes ist also ein Mittel zur Früherkennung psychopathologischer Störungen.

Bei dieser Analyse hilft vor allem die Beachtung von Traumsequenzen, die Thomas French und Erika Fromm erforscht haben. Der "Seriencharakter" von Träumen ist nach French auf einen "unbewussten Durcharbeitungsprozess" von Problemen zurückzuführen. Diese Erkenntnis schenkt den Korrelationen zwischen Traum- und Wachbewusstsein einen autonomeren Status auf dem Feld der psychologischen Überlegungen. Mertens verweist besonders auf die Arbeiten von Stanley Palombo, der nachweisen konnte, "dass eine Traumsequenz eine Abfolge von Träumen und Bearbeitungen dieser Träume im Wachleben darstellt". Der Aspekt der Durcharbeitung einer Traumserie, und somit eines Problemlösungsprozesses, sei gleichsam ein "joint venture von Aktivität im Wachleben, die in den Traum eingefügt wird und dem Traum selbst." Genau genommen existiert hier die dichotomische Einteilung in manifest und latent, so wie Freud sie vorschreibt, nicht mehr.

Der amerikanische Psychoanalytiker Stanley Pulver kommt in einer seiner Arbeiten zum Schluss: "There is no such thing as the manifest dream" und bringt damit die semantische, wie auch die formale Variabilität des manifesten Rauminhalts zum Ausdruck. Auch Mertens schreibt dem Wach- und dem Schlafbewusstsein keine sich widersprechenden Eigenschaften zu, eine strikte Trennung zwischen manifestem und latentem Trauminhalt lehnt er aus diesem Grund ab. Er führt die fehlende Unterscheidbarkeit von latent und manifest auf vergangene geistesgeschichtliche Entwicklungen zurück und betrachtet sie weder für die therapeutische Situation, noch als Grundlage für die Erforschung von Träumen als sinnvoll. In seiner Einleitung nimmt Mertens Bezug auf das antike Menschenbild, welches noch keine dichotomischen Aufspaltungen kennt. Es zeigt sich eine geistige Nähe zu Platon, welcher ebenfalls keine Reduktion der menschlichen psychè auf Sinnlichkeit, noch auf die ratio vornimmt. Die platonische Form der Therape?a stellt das Traumgeschehen ebenfalls in den Dienst der Genesung der menschlichen Seele.

Platon weist bereits im fünften Jahrhundert vor Christus intuitive Einsichten über den Traum auf, die uns, laut Mertens, heute noch Respekt abnötigen. Auch bei Platon ist der Traum ein einzigartiges Mittel zur Selbsterkenntnis und Therapie. Nicht anders verhält es sich mit der Einführung von Mertens, die auch für Laien ein zuverlässiges Mittel zum besseren Verständnis des Traumes darstellt.

Titelbild

Wolfgang Mertens: Traum und Traumdeutung.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
143 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3406433170

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