Nachlass-Boom?

Der Band "Campo Santo" versammelt Bekanntes und Entlegenes des im Jahr 2001 tödlich verunglückten Autors W. G. Sebald

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mit der technischen Auswertung des Nachlasses habe ich längst nichts mehr zu tun; davon lebt jetzt eine Reihe von Agenten, Verlagen, Übersetzern, Einrichtern etc. Kafka würde lachen - oder vielleicht auch bloß traurig lächeln. Ich frage mich oft, wie er sich zu diesem ganzen Boom stellen würde. Sicher nicht positiv."

Diese kritische Anmerkung zum einsetzenden Kult um Franz Kafka äußerte Max Brod im Jahr 1949. Freilich hatte er selbst gehörig zur Etablierung dieses Kafka-Marktes beigetragen, da sich Brod nicht nur über das testamentarisch verfügte Verbrennungsgebot der Manuskripte hinwegsetzte, sondern schon acht Tage nach der Beerdigung seines Freundes mit den Angehörigen einen Vertrag über die Edition des Nachlasses ausgearbeitet hatte. Eile war geboten, denn noch bevor Kafka am 11. Juni 1924 unter die Erde gebracht worden war, hatte Ernst Rowohlt um die nachgelassenen Schriften gebuhlt. Nur wenig später bekundeten in kurzer Folge Kurt Wolff, Samuel Fischer und der in Wien ansässige Verlag von Paul Zsolnay ihr Interesse am Werk des scheinbar im Tode erst lebendig gewordenen Dichters.

In unseren Tagen rückt nun der Nachlass eines Autors in den Mittelpunkt des Interesses, den die Literaturwissenschaftler nicht selten mit Kafka in einem Atemzug nennen und dem vor allem im anglo-amerikanischen Raum mittlerweile eine Verehrung zukommt, die kurz davor ist, hagiographische Züge anzunehmen: Die Rede ist von W. G. Sebald. Es gehört wohl zu der bemerkenswerten Wirkungsgeschichte dieses Schriftstellers, der ja ähnlich wie Kafka nur wenig mehr als zehn Jahre als Autor am literarischen Leben partizipiert hat, bevor er - hier war es Krankheit, dort war es ein Verkehrsunfall - überraschend starb, dass binnen Jahresfrist zwei Bände aus seinem Nachlass erschienen sind. Das gemeinsam mit dem Künstler Jan Peter Tripp konzipierte Buch "Unerzählt" war noch zu Lebzeiten geplant worden, jetzt liegt der Band "Campo Santo" vor, der laut Klappentext "mit Werken aus dem Nachlass noch einmal an diese unverwechselbare Stimme erinnert". Hier dürften die Mitglieder der Sebald-Gemeinde, zu der sich der Autor dieser Zeilen durchaus zählt, gefreut haben, denn schließlich hatten die Prosawerke "Schwindel. Gefühle" (1990), "Die Ausgewanderten" (1992), "Die Ringe des Saturn" (1995) und der Roman "Austerlitz" (2001) Leseerlebnisse geboten, die sich nach dem Tod des Autors nicht mehr einstellen würden. Mit dem Nachlass freilich ist die Hoffnung verbunden, dass Sebalds Stimme noch auf Jahre hinaus vernehmbar bleiben wird.

Das zuverlässige Sammeln dessen, was sich noch auftreiben lässt, hat etwas Melancholisches und passt deshalb bestens zu Sebald, der stets unter Melancholieverdacht stand. Nach Kafkas Tod machte es sich Max Brod zur Aufgabe, die verstreuten Materialien zusammenzutragen und für eine Publikation vorzubereiten: Manuskripte, Briefe und Tagebücher. Dabei hatte er hatte das Glück, dass sich Kafkas herausragende Qualität vor allem in den nachgelassenen Romanen unter Beweis stellte. Sebalds Hinterlassenschaft hingegen, die als - bis auf weiteres nicht benutzbares - Depositum ans Deutsche Literaturarchiv nach Marbach kommen soll, enthält solche unpublizierten Schätze offenbar nicht. Zu dieser Einsicht muss man jedenfalls gelangen, wenn man den von dem Hamburger Literaturwissenschaftler und Sebald-Experten Sven Meyer zusammengestellten Band "Campo Santo" betrachtet: Denn bisher Unpubliziertes, gar völlig Unbekanntes wird nicht geboten. Der Herausgeber allerdings hat dies in seinem kurzen Nachwort auch keineswegs versprochen, bemerkt er doch: "Sebalds Nachlass, noch nicht gesichtet und ediert, umfasst keine weiteren literarischen Arbeiten aus jüngster Zeit." Das Nachwort dementiert also, was der Hanser-Verlag, der Sebalds Werk seit 1998 betreut, vor dem Hintergrund des Sebald-Booms so vollmundig angekündigt hat.

Für die Sebald-Philologie ist "Campo Santo" aber trotzdem ein wichtiges Buch. In ihm finden sich am Beginn vier abgeschlossene Prosastücke, die im Rahmen eines großen Projektes entstanden sind, in dem sich Sebald der Insel Korsika widmen wollte. Der Erzähler, der für gewöhnlich Sebald genannt wird, will sich bis ans Lebensende, wie es in dem Text "Kleine Exkursion nach Ajaccio" heißt, mit nichts anderem als "dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit" beschäftigen. Er folgt beispielsweise den Spuren des berühmtesten Sohnes der Insel: Napoléon. In Museen betrachtet er unzählige Devotionalien, die von der Verehrung für den einstigen Kaiser und Despoten in Personalunion zeugen. Dem Mythos, der sich um den kleinen Korsen rankte, näherte sich Sebald auch über Franz Kafka an - der habe schließlich an einer Konferenz zum Thema "La légende de Napoleon" teilgenommen. Auch in dem titelgebenden Text räsoniert der Erzähler über korsische Mnemotope: Er verweist darauf, dass Friedhöfe auf der Insel keine Tradition besaßen und von den Bewohnern kaum akzeptiert wurden. Der Korsikastoff steht ganz im Zeichen der Sebaldschen Erinnerungsarbeit, so auch im Hinblick auf intertextuelle Verfahrensweisen: Ein wichtiger Prätext war offenbar Gustave Flauberts korsisches Reisetagebuch.

Den weitaus größten Part macht jedoch der Abdruck von Texten des Literaturwissenschaftlers Sebald aus, die in den 70er und 80er Jahren erschienen sind. Dazu gehören Essays über Peter Handke, Günter Grass, Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss und Jean Améry. Es sind aber auch etliche Aufsätze versammelt, die bislang nur in Zeitungen veröffentlicht wurden und also erst jetzt allgemein zugänglich sind. Erneut präsentiert wird auch die Studie "Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung" von 1982, die sich bei der nachträglichen Lektüre interessanterweise als kaum veränderter Bestandteil von Sebalds Züricher Poetikvorlesung entpuppt, die im Jahr 1997 unter dem Titel "Luftkrieg und Literatur" für Furore sorgen sollte. Sebalds seitdem so heftig diskutierte Thesen sollen hier nicht noch einmal resümiert werden. Aber dass Sven Meyer den umfangreichen Aufsatz, der schon damals das bekannte Fazit zog, die deutschen Literaten hätten zum Luftkrieg geschwiegen, in seine Kompilation aufgenommen hat, ergibt Sinn: Es drängt sich nämlich die Frage auf, warum fünfzehn Jahre vergehen mussten, bis das Thema Luftkrieg eine derartige Öffentlichkeit bekommen konnte. Liegt es nur daran, dass sich ein seinerzeit unbekannter Auslandsgermanist zu Wort gemeldet hat? Oder gibt es womöglich politische Hintergründe? Denn Sebald beschäftigte sich mit der "Naturgeschichte der Zerstörung" in den Zeiten der atomaren Nachrüstung, als die Menschen sich zwischen Stuttgart und Ulm zu einer Kette verbanden, um gegen die Stationierung der US-Raketen vom Typ Pershing 2 in Mutlangen zu demonstrieren. Zur selben Zeit zogen Mitglieder des Komitees "Ärzte gegen den Atomkrieg" durch die deutschen Lande, um in Diavorträgen deutlich zu machen, welche unvorstellbaren Zerstörungen durch atomare Waffen verursacht würden - das jedermann bekannte Dresden würde in den Schatten gestellt. Sebald schrieb zum Thema Luftkrieg und Literatur mithin zu einem Zeitpunkt, als der Kalte Krieg wieder einmal besonders eisig war. Mein Physiklehrer etwa machte aus seiner Abneigung gegen die "Amis" keinen Hehl, schließlich habe er den Luftangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 nur zufällig überlebt. In einer Klausur ließ er die Klasse berechnen, welche Strahlungswerte der radioaktive Fallout bei einer bestimmten Wetterlage über unsere Heimatstadt verbreiten würde, falls das Bundeswehrkrankenhaus Ulm von SS 20-Raketen getroffen würde. Sebalds Essay könnte ebenso eine Art Warnung vor dem gewesen sein, was die Endzeit des atomaren Erstschlags gebracht hätte. Es ist kein Zufall, dass 1983 drei Bücher erschienen, die dunkle Szenarien nach einem Atomkrieg ausmalten: "Julius oder Der schwarze Sommer" von Udo Rabsch, "Glückliche Reise" von Matthias Horx (mit dem vielsagenden Untertitel "Roman zwischen den Zeiten") und "Der Bunker" von Gerhard Zwerenz. Ins Kino strömten zur selben Zeit die Besucher, um die Hollywood-Version des Atomkriegs zu sehen: "The day after". Diesen Kontext sollte man beachten, wenn man Sebalds Text über die "Verheerung der Städte und die davon affizierten psychischen und sozialen Verhaltensmuster" nunmehr nachliest.

Über die Bestände von Sebalds tatsächlichem Nachlass aber erfährt man in "Campo Santo" nichts. Man muss abwarten, welche Materialien sich erhalten haben, deren sich künftige Editoren annehmen müssten. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass Sebald an einem Teil seines Vermächtnisses sein eigener Exekutor geworden ist. Denn ob von dem Korsika-Projekt wirklich nur die von Sven Meyer versammelten Prosastücke existiert haben, wird vielleicht nie geklärt werden können.

Titelbild

Winfried G. Sebald: Campo Santo.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
260 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446203567

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