Über den Traum und andere damit zusammenhängende Gegenstände

Georges Didi-Hubermans "Phasmes"

Von Helmut KaffenbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Kaffenberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die letzte Seite des Buches verzeichnet die Druckorte der Erstveröffentlichung der in diesen Band aufgenommenen Veröffentlichungen. Es sind zwanzig an der Zahl, jeweils fünf von ihnen sind den vier Kapiteln "Ähnlichsein", "Erscheinen", "Sehen", "Verschwinden" zugeordnet. Das ,tertium comparationis' dieser Essays, die im Zeitraum zwischen 1984 und 1997 entstanden sind, ergibt sich aus Didi-Hubermans Stil und Blick. Sein Stil, der zuweilen die Grenze zur Begriffsdichtung ebenso wenig scheut wie die zur Erzählung, macht aufmerksam, öffnet den Blick. Mit Vorliebe wendet er sich dem Nebensächlichen zu und tut dies auf eine Weise, dass es zur Hauptsache avanciert. Dieser mit den Möglichkeiten der Dialektik und der Umwertung der Werte spielende Blick erweist ihn als Grenzgänger, wenn er sich nicht nur dem Licht und dem Dunkel, dem Fleck und dem Ausgemerzten, sondern selbst dem Nicht-Sichtbaren zuwendet.

Als Schüler Walter Benjamins (dieser wird auch mehrfach zitiert) gibt sich der Autor zu erkennen, wenn seine Aufsätze immer wieder vom Angeblickt-Werden handeln. Auch hier findet man das Stilmittel bzw. einen Teil der Poetik Didi-Hubermans: die Umkehrung, das Paradox. Was ihn interessiert ist eine neugierige, offene, fragende, sich nicht den konventionellen Sichtweisen beugende Weise des Sehens. Weniger als Antworten interessieren ihn Grundfragen, die die Dispositionen unserer Wahrnehmung selbst auf den Prüfstand eines kritischen Blicks stellen.

Die Liste seiner Gewährsmänner ist illuster, neben dem genannten Benjamin nennt er auch Leiris, Caillois, Michaux, Proust, Freud, Mallarmé, Bataille und andere mehr. So schulen Didi-Hubermans Texte die Aufmerksamkeit, man sieht genauer hin, wenn man sie aufmerksam gelesen hat. Sein Ideal ist es, wie auch in einem seiner anderen Bücher "Vor einem Bild", zu dem es mehrfach Berührungspunkte gibt, nicht einen zuweisenden, messenden und allzu sehr analytischen (Kunsthistoriker-) Blick zu pflegen, sondern im Gegenteil einen solchen, der offen auf den Gegenstand zugeht, den Zufall annehmen kann und nicht vorderhand rubrizieren und subsumieren, sondern sich auf die jeweilige Erscheinung einlassen will. Ob diese Trennung in der Schärfe, wie es Didi-Huberman gern hätte oder glauben machen will, gibt, ist zumindest fraglich. Vielleicht kommt es am Ende nur auf einen kleinen Unterschied in der Haltung an, mit der man sich einem Gegenstand nähert, mit der man ihm gegenübertritt. Doch auch dieser kleine Unterschied kann große Wirkung haben, man muss dazu die Differenzierung nicht überstrapazieren. Denn in der Regel wird zu dem mehr meditativ angelegten Blick auch das Wissen hinzutreten müssen, und ohnehin bringt der Betrachter ja immer schon sich selbst und sein Vorwissen mit, das ungefragt seinen Blick beeinflusst und lenkt. Ein Umstand, der schwerlich zu umgehen sein dürfte. Der unverbildete, scheinbar naive Blick muss (und wird wohl auch) nicht per se derjenige sein, der am besten sieht.

Die zwanzig vereinten Aufsätze fügen sich kaum zu einem geschlossenen Ganzen, auch wenn durch die Gliederung ein Versuch unternommen wurde, eine Struktur darzulegen. Einen runden, in sich geschlossenen Band vorzulegen, kann hier nicht die Intention gewesen sein. Interessant ist er gerade durch seinen Facettenreichtum, mit dem bereits der barocke Untertitel wirbt. Schon der von Didi-Huberman geforderte, etwas unscharfe Blick auf die Dinge hat etwas Träumerisches, will neben und hinter die Dinge respektive deren Erscheinung sehen. Er hat sich dezidiert nicht die analytisch bestimmte Zergliederung aufs Panier geschrieben, die sich nur mit Details aufhält (jedes Ding, so heißt es zu Beginn des Buches, verdiente eine Monographie) ohne das große Ganze zu beachten, sondern er nimmt sich vor, den Gegenstand gleichsam, so könnte man mit Benjamin sagen, zu "beträumen". Ob er sich da wirklich so wesentlich und pauschal von "der" Kunstgeschichte unterscheidet, insbesondere Panofsky sieht er hier als Widerpart, ist fraglich und mag offen bleiben, auch ob er selbst hier immer seinen Anforderungen gerecht werden kann. Wichtig an dieser Unterscheidung ist, dass hier eine Wahrnehmungslenkung oder -umlenkung vorgeschlagen und auch teilweise vorgestellt wird.

Hat also die Methode bereits eine Affinität zum Gebiet des Traums, der allerdings nicht explizit das zentrale, vielleicht nicht einmal eines der zentralen Themen des Buches ist, so ist im Kapitel "Ein entzückendes Weiß" explizit vom Traum die Rede. Dem positivistischen Ideal, das ein Bild in seine Details zerlegen will, was, wie er kritisiert, eine logische Stabilität der Objekte voraussetzt, hält er das "Ideal des verborgenen Sinns" entgegen. Dieses sei ein exegetisches Modell, das hinter das Detail sehen und dort einen verborgenen Schatz ausfindig machen will. Dem entsprechend müsse das Detail aufgelöst werden, man solle sich auf die Turbulenzen des Empfindens und Denkens einlassen. Dies sei idealtypisch im Traum möglich. Hier kommt Didi-Huberman auf ein Problem von Ästhetik überhaupt zu sprechen: Im Wachzustand, so schreibt er mit Bezug auf Lacan, sei uns der Blick ständig entzogen, eingeklammert: "Wenn die Malerei eine Sache von Dingen für den Blick ist - und nicht nur von sichtbaren Dingen -, müssen wir zugeben, dass hier eine wesentliche Schwierigkeit besteht, eine unauflösbare sogar. Um ein Bild wirklich anzuschauen, müssten wir es im Schlaf anschauen können [...] und das ist offensichtlich unmöglich."

Das scharf blickende Schauen des Wachenden ist das, wogegen er sich wendet, dieses sei ermüdend, es brauche, um einen einzelnen Gegenstand zu betrachten mehr als dass man alle Dinge sehe. Er folgt hier der alten Logik, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ihm geht es um eine ontologische Öffnung, um Faszination, um das Ineins von Evidenzerfahrung und dennoch bestehen bleibendem Rätsel. Diese verschlungene dialektische Figur wenigstens tendenziell auflösen zu können, sieht er für den Blick des Traums als möglich an. In diesem sind andere als nur messbare Ordnungen möglich, ergeben sich von selbst, faszinierende auratische Momente kommen vor, der Träumende selbst wird angeblickt, die Dinge können ihm antworten, es ist ein Traum von einer verschwommenen Visualität. Der alte Traum der Verwischung der in der Alltagswelt so festzementierten Grenzen zwischen Subjekt und Objekt: Diese würde er gern aufweichen, ja auflösen.

Diese verschwommene Visualität wird sich so in Reinheit nicht herstellen lassen - sie müsste ja auch einem Rauschzustand in Permanenz gleichen - die Rauscherfahrung müsste herübergerettet und zumindest partiell überführt werden in die Wachwelt. Sonst wären diese Erfahrungen ja auch gar nicht mehr kommunizierbar, was nicht das Ziel sein kann. Um mit Roland Barthes zu sprechen, muss zum "punctum" auch das "studium" kommen, beide müssen in sinnvolle Konstellation treten. Dort, wo etwas "unvorstellbar" ist, also jenseits aller bildhaften Vorstellungen, müsse ein Ort gefunden werden, an dem "mehrere Bilder zugleich existieren, sich verdichten, sich verschieben, unzugänglich nur für den Blick dessen, der sich nicht auf den Traum oder den weiten Weg der Ekstase einlässt".

Was Didi-Huberman fordert ist demnach ein sowohl träumerischer als auch radikaler Blick. Einer, für den die Voraussetzungen im Betrachtenden geschaffen wurden, dass er nicht mehr blicken muss, sondern angeblickt wird, wie es in Benjamins Aura-Formulierung heißt. Dieser Augenblick des Angeblickt-Werdens scheint für die Poetik des Blicks von Didi-Huberman das ausschlaggebende Moment zu sein. Für ihn sind "die wahren Träumer [...] nie in ihren 'süßen Träumen' versunken, sondern sind authentische Forscher".

Das kann sympathisch und wunderbar klingen, die Frage bleibt, wie dies realisiert und kommuniziert werden soll. Denn um bloßes wildes Assoziieren kann es nicht gehen. Es soll ja zum Wesentlichen, zum Eigentlichen durchgedrungen werden. Diese ganze Anlage zeigt den Blick des Autors, der sich ja explizit gegen Positivismus und wohl auch Institutionalisierung sperrt als letztlich mystischen. Als solcher steht er in alten Weisheitstraditionen von Gnosis über Physiognomik und Alchimie. Die Adepten des Steins der Weisen wissen auch, dass der Stein ganz offen vor ihren Augen herumliegt, unbeachtet, da unbemerkt, vielleicht im Schmutz der Straße. Nur wer Augen hat zu sehen, der erkennt ihn plötzlich. Das gleicht doch sehr der Haltung des Sehens, die Didi-Huberman in seinen Büchern propagiert. Ob sich daraus in der Tat eine produktive Perspektive, etwa für die Kunstgeschichte, gewinnen lässt, auch wenn sich damit opponierende Funken schlagen lassen, wird sich erweisen müssen. Neu ist das nicht, ganz im Gegenteil. Es ist eine Reformulierung sehr alter mystischer Traditionen für den Bereich der Kunstgeschichte. Der Leser jedenfalls kann sich derweil an den Entdeckungen und Beschreibungen delektieren, er wird sie zum großen Teil mit Vergnügen, teils auch mit Spannung und Gewinn lesen können, auch wenn er dem Autor nicht immer und bis in jede Einzelheit folgen kann. Es ist meistenteils schön zu lesen, die Assoziationen teilt man nicht immer und mit manchem Angerissenem oder Aufgestörtem wird man dann auch allein gelassen. Er kann sich anregen lassen.

Der Leser nimmt die lizenzierte Entlastung vom scharfen Blick und die detektivische Sympathie für das Verborgene oder Vergessene mit. Hier besteht eine Differenz zu Benjamin, der ein großer Freund des Details war und in diesem einen Schlüssel erblicken konnte, weil man sich in es versenken und sich darin verlieren konnte, wo dieses für Didi-Huberman bereits mit dem zergliedernden anatomisch-positivistischen Blick assoziiert und also abzulehnen ist.

Wer mag, kann dem Autor auf die Seitenwege folgen, eine andere Art der Erkenntnis anstreben und der zentrifugalen Bewegung des Disparaten nachgehen und seine eigene Erfahrungen machen mit der Veränderung des Blicks. Die Subjekt-Objekt-Spaltung und die Trauer darüber oder das Leiden daran wird man so nicht aufheben, aber vielleicht viele hübsche Dinge betrachten und entdecken; ein etwas meditativerer Blick kann in unseren Tunnelblick-Zeiten gar nicht schaden.

Titelbild

Georges Didi-Huberman: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Fotographien, Spielzeug, mystischen Texten etc.
DuMont Buchverlag, Köln 2001.
280 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3770153154

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