Ein Kaleidoskop der Träume

Die kulturelle Konsequenz von Freuds "Traumdeutung" in Literatur und Film

Von Irina HronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Hron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem berühmten Aufsatz "Der Dichter und das Phantasieren" aus dem Jahr 1907 gibt Sigmund Freud zu verstehen, dass es eine Spezies von Menschen gibt, die sich immer wieder hemmungslos ihren Tagträumen hingibt, ohne dafür gesellschaftlich belächelt oder gar geächtet zu werden, sondern denen im Gegenteil die allgemeine Achtung und Anerkennung der Zeitgenossen in der Regel sicher ist. Während das spielende Kind unentwegt in einer Traumwelt zu leben scheint, tarnt der Heranwachsende und später Erwachsene seine Spiele und imaginären Reisen und nutzt gewöhnliche Alltagsgelegenheiten, um ganz im Geheimen zu phantasieren und zu träumen. Denn das Träumen ist es, das alle diese Menschen miteinander verbindet.

Doch richtet sich das Hauptaugenmerk des von Hanne Castein und Rüdiger Görner herausgegebenen Buchs "Dream Images in German, Austrian and Swiss Literature and Culture" auf diese "professionellen Tagträumer", die dazu imstande sind, ihre Träume so zu sozialisieren, dass sie damit die Theaterränge füllen: die Dichter und Literaten.

Der thematische Bogen spannt sich von Georg Christoph Lichtenberg bis zu Thomas Bernhard und immer wieder wird gefragt, geprüft und abgewogen, in welcher Form sich der Traum in den literarischen und theoretischen Werken der Schriftsteller manifestiert hat. Einen ganz besonderen Stellenwert nimmt dabei die "Traumdeutung" Freuds ein, der mit seinem "Gründungsdokument" der Psychoanalyse die Diskurse und Denkungsweisen des 20.Jahrhunderts wie kaum ein anderer revolutioniert und geprägt hat. Wie in einem Kaleidoskop bricht sich das Phänomen "Traum" in dreizehn ganz unterschiedliche Facetten an den 13 Essays dieses Buches, teils in deutscher teils englischer Sprache, und eröffnet auf diese Weise ein differenziertes und vielgestaltiges Bild der "Dream Images".

Den Auftakt gibt Manfred Engels zum Teil sehr persönlich-provokanter essayistischer Alternativvorschlag hinsichtlich der allgegenwärtigen "Krise der Literaturwissenschaft". Anhand einer traumhaft-verfremdeten Sequenz unter dem Motto der verdächtig an Hesses "Steppenwolf" erinnernden Formel des "Magischen Theater[s] - nur für Literaturwissenschaftler" werden aktuelle Streitfragen wie das Methodendilemma oder die Frage nach einem allgemein gültigen Kanon thematisiert. Anschließend exerziert Engel den von ihm klar favorisierten kulturwissenschaftlichen Ansatz beispielhaft am Modell der Kultur- und Literaturgeschichte des Traums durch und führt sowohl die verbrechenspsychologischen Untersuchungen Wilhelm Stekels als auch Carl Pietzckers psychoanalytische Studien zu Jean Pauls "Rede des toten Christus" als Negativbeispiele für die Methodik der Kulturwissenschaft an.

Den Kontrapunkt dazu bildet der kulturwissenschaftliche Traumdiskurs mit seiner Definition des Traums als transdisziplinäres, "anthropologische[s] Grundphänomen". Engels schließt seine Abhandlung mit dem Verweis auf den spezifischen Beitrag der Literatur zur kulturellen Traumarbeit in Form der Literarisierung und damit der textuellen Funktionalisierung des Traums.

Anhand des Freud'schen Tropus des "versteckten Hohlwegs" und des in erster Linie räumlich konnotierten Begriffs "landscape" veranschaulicht Michael Molnar in seinem Artikel sehr konsequent die problematische Position von Gleichnis und Metaphorik in der sprachlichen und stilistischen Komposition der "Traumdeutung". Der Autor gibt klar zu verstehen, dass Freud selbst nie an der Qualität des Traummaterials gezweifelt hat, als vielmehr an der sprachlichen Umsetzung desselben, und auch dass aus diesem Grund eine Annäherung an das Unbewusste in bildhaften Termini keinesfalls von einer sprachlichen Bewältigung oder befriedigenden Erfassung der psychischen Qualitäten zeugt.

In seinem schlüssigen, wenn auch aufgrund der formbedingten Platzbeschränkung etwas grobstrukturierten Beitrag zur Freudrezeption bei C.G. Jung, gewährt Paul Bishop einen stark als Vergleich angelegten Einblick sowohl in die Analogien und Anknüpfungspunkte, die sich für Jung aus der "Traumdeutung" konsequenterweise ergaben (vor allem das "Denken in Analogien") als auch in die Divergenzen, insbesondere in der Frage der Symbolik.

Jung, der sich erst durch den Freud'schen Begriff der "Verdrängungsmechanismen" in seinen eigenen Ansätzen bestärkt sah, wandte sich sehr bald von Freuds "analytisch-reduktiven" Methoden ab, um seinen eigenen "synthetisch-konstruktiven" Ansatz weiterzuverfolgen und entschieden gegenüber dem namhaften Kontrahenten zu verfechten.

Mittels einer knappen Vorbemerkung über die Signifikanz des Traums während der Aufklärung als ein grundsätzlich negatives Phänomen, das Kant implizit dem "Bereich der Unmündigkeit" zugeordnet hat, macht Rüdiger Görner den Leser mit der Epoche vertraut, die vielleicht am ehesten im Widerspruch zur Irrationalität und Un-Vernunft des Traums stand. Im Zentrum der Überlegungen steht Georg Christoph Lichtenberg, der ganz untypisch für den Geist seiner Zeit, dem Traum als die "zwischen [...] Innen und Außen vermittelnde" "Bild-Welt des Dazwischen" eine, wenn auch nicht auf Deutung angelegte, aber dennoch exponiertere Rolle eingeräumt hat, als es die meisten seiner Zeitgenossen getan haben.

Mit zahlreichen Verweisen auf den Text von Manfred Engel setzt Anthony Phelan mit einer knappen Skizzierung einiger Gedanken Freuds zur Systematisierung von Traumtheorien ein, die direkt in eine Beschäftigung mit der Funktion des Traums und dessen "verborgenen Türen" in Novalis' Gedankengebäude mündet. Neben dem "close reading" einer Passage aus "Heinrich von Ofterdingen" nimmt der Autor anhand der blickpunktartigen Betrachtung einiger Schlagworte teilweise etwas unklar Bezug auf das Verhältnis zwischen Novalis' Texten und der Freudschen Terminologie.

Die ästhetischen Erwartungen, die der Titel des Essays "Grillparzer's Dream" von Mark G. Ward auf den ersten Blick impliziert, werden nur begrenzt erfüllt, und dies nicht zuletzt aus dem Grund, dass der Terminus "Traum" im Denken des österreichischen Dichters äußerst negativ konnotiert zu sein scheint. Ward begründet dies mit Grillparzers dezidierter Abneigung gegenüber der "Anmaßung" und des "Eigendünkels" der Romantik, gegen die dieser als Schild die Kant'sche "Philosophie der Bescheidenheit" standhaft hochgehalten hat. Doch meint Ward eine gewisse Ambiguität in der Argumentation Grillparzers dokumentieren zu können, wenn er auf eine Tagebucheintragung verweist, in der der Dichter das biblisch konnotierte Bild der Leiter als Symbol für die Aufgabe der Kunst verwendet, und in diesem Sinn der "Kunst als Traum" die Kraft göttlicher Offenbarung zuschreibt.

In seinem knappen, aber umso eindrücklicheren Essay gelingt es Peter Horst Neumann, nicht nur die "Suggestion der apokalyptischen Traumbilder" von Jean Pauls erschüttender "Rede des toten Christus" unversehrt von aller theoretischen Zerstückelung neben einer präzisen Analyse bestehen zu lassen. Auch die eminente Bedeutung der Einkleidung dieses Motivs in die Form des literarisierten Traums wird anhand der Freudschen Terminologie plausibilisiert.

Der Text schließt mit einem Verweis auf die unvermutete Modernität Jean Pauls, die immer wieder aufs neue Erstaunen hervorruft, und auf dessen Vorausdeutung und Vorwegnahme wesentlicher Elemente der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Es scheint als hätte Alexander Stillmark bei seiner sehr textnahen Analyse von Georg Trakls Gedichten die Traumsprache des österreichischen Dichters allzu sehr internalisiert, denn auch sein Ton ist schwer und beladen mit dunkler Metaphorik. Stillmark nähert sich der Trakl'schen Lyrik über den morbid-intellektuellen Sprachduktus Edgar A. Poes und dessen beider Prämissen der "Melancholie des Tons" und der "Musikalität der Sprache". Wiederholt betont er die Nachdrücklichkeit mit der Trakl den Traum als "fortschreitende Metapher" gebraucht, ruft immer neue Assoziationsfelder auf, um am Ende des Texts wieder zur Parallelführung von Trakl und Poe zurückzukehren.

Mittels einer sehr literarischen, teils fast poetisch eingefärbten Sprache, nähert sich Manfred Dierks auf sehr stimmige Weise einem der bedeutendsten Werke des Sprachmagiers Thomas Mann, dem "Zauberberg", um es auf seine "Traumqualitäten" zu untersuchen. Selbst die einzelnen Absatzbezeichnungen ähneln mehr Kapitelüberschriften eines Romans als strukturierenden Verweisen eines literaturtheoretischen Texts. Ausgehend von Hans Castorps "Schulmädchenphantasien" führt uns Dierks mit viel Gespür für stilvolle Übergänge vor, wie sehr "Thomas Mann weiß [...], wie man psychoanalytisch korrekt träumt."

In ausdrucksstarker, bilderreicher Sprache demonstriert Paola Bozzi, wie in den Traumtexten von Thomas Bernhard die "Last des Leibes" zum universellen Thema wird.

Die seit Freud traditionelle Funktion des Traums als Wunscherfüllung wird ad absurdum geführt, da diesem die Unmöglichkeit seiner Erfüllung bereits implizit eingeschrieben ist. Anhand der drei Romane "Frost", "Verstörung" und "Auslöschung" zeigt Bozzi auf virtuose Weise auf, wie der Traum als "diffuses 'Zwischenreich'" und "Sphäre unreiner Vermischung von Sinnlichem und Verstand" auch Fiktion in der Fiktion, aber vor allem Projektion ist.

In seiner Abhandlung über den "Rêve d'artiste" versucht Deac Rossel der Frage nachzuspüren, wie es zu der gängigen Assoziation zwischen Traum und den "bewegten Bildern" des Films kommen konnte, die sich auch sprachlich in der Metapher der "Traumfabrik Hollywood" niedergeschlagen hat. Die Argumentation ist großteils auf den, nur auf den ersten Blick skurril anmutenden, Argumenten der sogenannten Kinoreformbewegung aufgebaut, die die essentielle Gefahr des Kinos im Realitätsverlust, dem Verfallen in traumähnliche Zustände und den präsentierten Konstrukten einer nichtexistenten Welt verorteten.

Als eine Arte Finale und Abschluss des Rundgangs durch die unterschiedlichsten "Traumwelten" schlägt Iring Fetscher in einer sehr dichten und facettenreichen Abhandlung eine Brücke zwischen Traum und Politik von Karl Marx bis zu Hitler. Auf der Basis von Freuds und vor allem Ernst Blochs Ausführungen ergibt sich die Opposition zukunftsantizipierende Tag- versus reaktionäre Nachtträume. Die Zukunftsorientierung der Wach-Träume ist vor allem ein Charakteristikum des Marxismus, das sich jedoch mit traumhaft-utopischen Elementen verbindet und auf diese Weise als Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen Theorie und Realisierung des Marxismus fungiert. Zwischen den Ausführungen zum Marxismus und der Konkretisierung von Blochs Traumtheorie mit interessanter Anbindung an Dichtung und Literatur, ist ein Absatz zu Leo Trotzki eingeschoben, der auf dessen "[g]ewisse[n] Anklänge an Freuds Psychologie" leider nicht detaillierter eingeht. Die Arbeit schließt mit der Illustration der Bedeutung des "Nachttraums" für die nationalsozialistische Ideologie, die im folgenden, höchst provokanten Satz kulminiert: "Wenn man von Sigmund Freuds Traumtheorie ausgeht, dann müßte - solange die Begeisterung und Fanatisierung durch die Nazis anhielt - die deutsche Bevölkerung eigentlich aufgehört haben zu träumen. Sie brauchte keine Träume mehr, weil die 'Befreiung ihrer Triebe? von zivilisatorischen Hemmnissen in der Realität versprochen wurde."

Titelbild

Hanne Castein (Hg.): Dream images in German, Austria and Swiss literature and culture.
Iudicium Verlag, München 2002.
183 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3891290519

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