Via Regia zum Unbewussten

Stefan Goldmann über die Traumforschung im 19. Jahrhundert

Von Manfred EngelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Engel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntermaßen fällt die Wertschätzung, die Freuds Lehre in der Psychologie der Gegenwart genießt, eher bescheiden aus. Weitgehend unbeeindruckt davon blieben vor allem zwei Forschergruppen, die in einiger Distanz zur Fachwissenschaft im engeren Sinne arbeiten und vielleicht eben deswegen zu den treuesten Anhängern des Wiener Erfinders der Psychoanalyse gehören: zum einen die Literaturpsychologen, die ihre Analyse literarischer Texte im allgemeinen und literarischer Träume im besonderen immer noch mehrheitlich an Freud orientieren, zum anderen die Wissenschaftshistoriker der Psychologie/Psychoanalyse, die - eine bei Wissenschaftshistoriker nicht eben seltene Eigenschaft - Wissenschaftsgeschichte meist als Siegergeschichte schreiben und bevorzugt dem ihre Aufmerksamkeit widmen, was sich, wie gewaltsam auch immer, als Vorgeschichte Freud'scher Theorien begreifen lässt.

Letzteres ist, nebenbei gesagt, der Grund dafür, dass sich interdisziplinär arbeitende und an historischer Erkenntnis interessierte Literaturwissenschaftler immer wieder dazu gezwungen sehen, sich ihre eigenen Fachgeschichten zu erarbeiten. Denn sie interessiert an den Repräsentanten der unterschiedlichen Disziplinen ja eben nicht das,Zukunftsweisende', sondern das, was sie in den gesamtkulturellen Horizont ihrer Epoche einbindet, sie an deren Fragestellungen und Problemlösungsstrategien anschließt - also der "Kulturwert" (Monika Ritzer) von Theoremen und Theoriegebäuden der Wissensgeschichte. Die so entstehenden Wissenschaftshistorien werden dann von den Vertretern der jeweiligen Fachgeschichte wiederum nicht selten ignoriert - was sich etwa an der weitgehenden Nicht-Rezeption der germanistischen Anthropologieforschung durch die Medizingeschichte belegen lässt. Knapp gesagt: Interdisziplinäres Arbeiten ist in der Praxis oft eine traurige, frustrationsreiche Wissenschaft, da die disziplinären Optiken und Traditionen auch bei viel gutem Willen nur schwer kompatibel zu machen sind.

1. Zielsetzungen

Eine solche Missachtung durch die Fachgeschichte wird die Arbeit von Stefan Goldmann sicher nicht befürchten müssen. Zwar handelt es sich, wie man dem Umschlagtitel entnehmen kann, um die Habilitationsschrift eines an der Universität Potsdam lehrenden Germanisten. Spezifisch Germanistisches wird man in dieser Studie jedoch nicht finden. Auch die (überaus seltenen) Stellen, an denen literarische Werke behandelt werden - etwa ein Traum aus Gottfried Kellers "Grünem Heinrich" oder die Traumkomposita in Robert Hamerlings epischem Gedicht "Ahasver in Rom" - zeugen nicht gerade von einer disziplinspezifischen Optik. Fachwissenschaftler mögen - je nach Gemütslage: mit fachgeschichtlicher Neugier oder mit schlichter Verzweiflung - fragen, wieso diese Arbeit als germanistische Habilqualifikation angenommen werden konnte, jedenfalls aber haben Psychologiehistoriker keinen Grund, Fremdheitsgefühle zu entwickeln: Stefan Goldmann hat ganz eindeutig eine Abhandlung zur Psychologiegeschichte vorgelegt.

Zudem hat er seine Studie weitgehend als Einflussforschung angelegt, was sich, wie bereits dargelegt, gut in den mainstream der Psychologiegeschichte einfügt. Der Untertitel "Freud und die Traumforschung im 19. Jahrhundert" kündigt zwar eine Doppelperspektive an, doch ist Goldmanns Blick auf die Traumforschung des 19. Jahrhundert durchgängig von Freuds "Traumdeutung" her perspektiviert.

Das Vorwort benennt zwei weitere Fragestellungen: Zum einen sollen auch eine "Wissenschaftlergeschichte" und eine "Topographie" der Traumforschung des 19. Jahrhunderts gegeben werden; zum anderen kündigt der Verfasser eine "diskursive" Betrachtung an. Schon die nähere Erläuterung dieser - nur den Diskursbegriff, nicht aber die Verfahren aufgreifenden - Anknüpfung an die Diskursanalyse zeigt jedoch, dass auch hier die Freud-Perspektive vorherrscht: "Freuds frühe Äußerungen zum Traum [...] stehen in einem Diskurszusammenhang, den eine breite wissenschaftliche Traumdiskussion generiert. [...] [Sie] antworten auf wissenschaftlich vorgegebene Probleme [...] und beziehen Stellung in einem von verschiedenen Gruppen bearbeiteten epistemischen Feld".

Ganz entsprechend dienen auch die Wissenschaftlerbiographien und -topographien Goldmann bevorzugt dazu, Einflüsse aufeinander und, vor allem, auf Freud plausibel zu machen.

Goldmanns Arbeit ist also als Einflussforschung angelegt, die die Traumtheorien des 19. Jahrhundert primär als Vor- und Gegengeschichte zu Freuds "Traumdeutung" liest. Das wird man akzeptieren müssen, aber doch bedauern dürfen - denn der Verfasser handelt sich so gleich drei kaum lösbare Probleme ein.

2. Einflussforschung und Traumdiskurs - eine problematische Allianz

Methodologisch gilt der Positivismus schon lange als überholt. In der Einflussforschung (wie im Biographismus) überlebt er jedoch mit einer Hartnäckigkeit, die allen Grund zur Verwunderung gibt. Denn die zwei Grundprobleme einer positivistisch verfahrenden Einflussforschung sind so bekannt, dass man sich fast schon scheut, sie noch umständlich darzulegen.

(1) Schon die Metapher des ,Einflusses' macht deutlich, dass dieser als ein Transferprozess gedacht wird, in der von einem Spender A ausgehende Gedanken und Argumentationsweisen in den Empfänger B ,einfließen'. Das aber ist genauso grundfalsch wie eine Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung, die den Wahrnehmenden als passiven Empfänger von Eindrücken denkt. Wahrnehmen, wir wissen es natürlich längst, ist ein Tun, eine Handlung, ein durch und durch ,aktiver' Akt, dem zahlreiche (unbewusst bleibende) Selektions-, Interpretations- und Strukturierungsprozesse zugrunde liegen. Eben dies gilt auch für die ,Aufnahme' von Wissenselementen.

(2) Implizit oder explizit erhebt Einflussforschung immer einen explanativen Anspruch: Weil A ein Buch von B gelesen hat und dort auf den Gedanken X stieß, deshalb findet sich dieses X nun in seinem eigenen Theoriegebäude Z. Selbst wenn man dabei nur auf hinreichende und nicht auf notwendige Begründungen abzielt, bleibt dies ein höchst fragwürdiges Spiel. Wirklich erklärt ist damit ja eigentlich gar nichts - denn warum A ausgerechnet auf X reagiert hat und diesen Baustein dann in sein System transferiert (und allein dadurch schon völlig verwandelt) hat, bleibt ein ,je ne sais quoi'. Schlimmer noch: Selbst dass X für A nur und eindeutig durch B denkmöglich wurde, wird sich kaum je schlüssig erweisen lassen.

Goldmann potenziert diese Probleme noch dadurch, dass er, wie mehrfach betont, den Forschungsbericht zum Ausgangspunkt nimmt, den Freud selbst seiner "Traumdeutung" vorangestellt hat. Goldmann weiß natürlich sehr wohl, dass Freud diesen Forschungsüberblick erst nachträglich hinzugefügt und seine Abfassung als lästige, der eigenen Arbeit eher hinderliche Pflicht empfunden hat. Und er beschreibt präzise, dass dieses von Freud "Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme" betitelte Kapitel alles andere als ein zünftiger Forschungsbericht ist: "Allerdings geht Freud in seiner meisterhaften Darstellung der Traumprobleme nicht historisch vor, sondern thematisch, d. h. topisch: Er ordnet die in sich widersprüchliche Fachliteratur unter allgemeine, von der Forschung vorgeprägte und tradierte Gesichtspunkte, die das Wissensfeld vom Traum strukturieren. Er sammelt Daten über die Traumreize und die Traumquellen, über die Beziehungen des Traums zum Wachleben und zu den Geisteskrankheiten, über Traumgedächtnis und Traumarbeit. Durch diese zerstückelnde Rubrizierung der ihm vorliegenden Traumliteratur gewinnt Freud ein ausgeprägtes Problembewußtsein und Bauelemente für seine eigene Traumtheorie".

Goldmanns Beschreibung wird man zustimmen können, seiner Funktionsbestimmung aber nur sehr bedingt. Jeder, der selbst einmal eine wissenschaftliche Arbeit verfasst hat, wird sofort erkennen, dass Freud hier seine eigene Lösung für ein leidiges Genre-Problem gefunden hat: Der Forschungsbericht gehört nun einmal zum Pflichtprogramm wissenschaftlicher Arbeiten; er muss nachweisen, dass der Verfasser alles relevante Schrifttum zur Kenntnis genommen, es aber auch durch bahnbrechende Innovationen weit hinter sich gelassen hat. Das ist peinvoll und peinlich genug. Freuds Lösung ist zweifellos elegant - die "beste und umfassendste Einführung" in die Traumtheorie des 19. Jahrhunderts kann so freilich kaum entstehen.

Das Einleitungskapitel der "Traumdeutung" ist jedoch nicht nur die Antwort auf ein Genredilemma, sondern - und in erster Linie - Freuds Versuch, die wissensgeschichtlich prekäre Position seiner Traumtheorie zugleich zu markieren wie zu verschleiern. Bevor ich dies im nächsten Kapitel zu erläutern suche, sei jedoch noch kurz auf ein drittes Problem der Einflussforschung eingegangen, das sich durch deren Anwendung auf den Traumdiskurs ergibt.

Das menschheitsalte Nachdenken über den Traum gehört zu den anthropologischen Fundamentaldiskursen - wie etwa das Nachdenken über Liebe, Sexualität und Tod. Solche Fundamentaldiskurse sind durch zwei Merkmale charakterisiert:

Ein überdurchschnittlich hohes Maß an Topik: Auf anthropologische Grundfragen gibt es nur wenige Antworten, die ,gut zu denken' sind. Daher kommt diesen oft eine erstaunliche ,longue durée' zu, die auch fundamentale wissensgeschichtliche Paradigmenwechsel übersteht. Man denke etwa daran, dass sich noch heute in unseren Buchhandlungen Traumbücher kaufen lassen, deren Deutungsregeln bis zum ältesten Vorbild dieser Textsorte zurückreichen: den aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert stammenden "Oneirokritika" des Artemdior.

Zugleich gibt es jedoch bei anthropologischen Fundamentaldiskursen einen quantitativ wie qualitativ gesteigerten Anpassungsbedarf an die jeweils zeitgenössischen Episteme: Sie müssen ständig so reformuliert werden, dass ihre Antworten Plausibilität nach dem Stand der aktuellen Wissensgeschichte erhalten.

Ganz offensichtlich stehen diese Charakteristika in direktem - aber zugleich unauflösbar notwendigem - Widerspruch zueinander. Dieser kann auf zweierlei Weise entschärft werden: zum einem durch eine topische Kontinuität ,unterhalb' des jeweiligen Expertendiskurses, in der ein seltsam zeitloses Alltagswissen zum Traum fortwirkt; zum anderen (und wissensgeschichtlich natürlich wichtiger) durch eine ständige Selektion, Variation und Regruppierung von Theoriebausteinen. Dabei besteht die wichtigste Innovationsleistung weniger in der Hinzufügung neuer Theoriebausteine - die natürlich auch immer wieder vorkommt -, sondern in deren systematischer Neuorganisation, frei nach der alten Binsenweisheit: Ein System ist mehr als die Summe seiner Teile.

Soweit meine knappe Charakteristik einiger struktureller Eigenheiten des Traumdiskurses. Deutlich sollte geworden sein, dass eine auf Theoriebausteine konzentrierte Einflussforschung an so strukturierten Diskursen mit Notwendigkeit scheitern muss. Die Geschichte der Traumtheorie lässt sich nur als Geschichte der Traumerklärungssysteme schreiben (deren Abfolge sich im ,Fachwissen' auf Augenhöhe der jeweiligen Episteme und ›über‹ einer Grundströmung von großer Veränderungsträgheit vollzieht).

Dass es im Traumdiskurs vor allem auf die systematische Organisation ankommt, hat Goldmann am Beispiel Freuds sehr präzise erfasst: "eine Reihe bedeutender, von Freud aufgegriffener Gesichtspunkte [waren] zwar in der Literatur vorhanden [...], nicht aber die systematische Beschreibung der ineinandergreifenden Mechanismen des ,psychischen Apparates', kurzum die ,neue Psychologie' mit ihrer spezifischen Topik, Dynamik und Ökonomie".

Leider hat Goldmann dieser Einsicht in der Anlage seiner Arbeit aber nur sehr bedingt Rechnung getragen.

3. Freud und die Traumtheorie des 19. Jahrhunderts - Versuch eines wissensgeschichtlichen Aufrisses

Wer die reichen Detailergebnisse von Goldmanns Studie wirklich nutzen will, bedarf so einer denkgeschichtlichen Matrix, zu der der Autor zwar zahlreiche Bausteine liefert, die er aber nirgends konsequent ausformuliert. Um Freuds Position im Traumdiskurs zu bestimmen, muss man sie als Reaktion auf zwei Systeme der Traumdeutung begreifen: auf den Traumdiskurs der Romantischen Anthropologie und den der szientistischen Psychologie, der ersteren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzulösen sucht, ohne ihn zur Gänze verdrängen zu können.

Dies kann hier natürlich im einzelnen nicht ausgeführt, sondern nur grob skizziert werden. Die Traumtheorie der Romantischen Anthropologie entsteht im weltanschaulichen Rahmen der idealistischen Naturphilosophie vor allem Schelling'scher Prägung. Anders als die Wissenschaftsgeschichte es oft darstellt, ist die naturphilosophisch begründete Naturwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert übrigens keine Außenseiterbewegung, sondern eine etablierte und universitär institutionalisierte Wissensform.

Die romantische Traumtheorie zielt darauf ab, die aufklärerische Depotenzierung des Traumes rückgängig zu machen und diesem, mit neuen Begründungen, wieder den Wert und die Bedeutung zu verleihen, die ihm über Jahrhunderte zugesprochen worden waren. Zwei ihrer wichtigsten Elemente sind (1) die (bereits in der Aufklärung vollzogene) Identifikation von Traumbildung und Imaginationstätigkeit und (2) eine zunehmend ausgearbeitete Theorie des Unbewussten, zu deren physiologischer Fundierung häufig aktuelle Entdeckungen über die Zweiteilung des menschlichen Nervensystems genutzt werden: Dieses besteht aus dem Cerebralsystem, das alle Bewusstseinsakte und alle willkürlichen Aktionen steuert, und dem Gangliensystem (auch plastisches, sympathisches oder vegetatives System genannt), das alle körperlichen Produktions- und Reproduktionsprozesse dirigiert. Im Wachen sind diese beiden Seelenbestandteile - man bezeichnet sie auch als die leibliche und die geistigen Psyche des Menschen -, weitgehend gegeneinander abgeschottet; im Schlaf aber, in dem das Gangliensystem dominiert, gibt es einen Kontakt zwischen den beiden Seelenteilen: den Traum als Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen. Dieser eröffnet so den Zugang zu einem dem Menschen sonst nicht bewussten Bereich - also eben zum "Unbewussten", das freilich nicht einfach mit dem Unbewussten Freuds gleichgesetzt werden darf. Seine physiologische Basis ist das Gangliensystem und damit die Gesamtheit aller leiblichen Prozesse. Im Theorierahmen der Naturphilosophie wird dieser leibliche Seelenteil als der ältere begriffen, als etwas, was der Entstehung von Individualität und Selbstbewusstsein vorausgeht. Träume führen uns also zurück in das allgemeine Naturleben, in einen (Freud wird sagen: "ozeanischen") Zustand ursprünglicher Einheit, der der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegt. Das romantische Unbewusste ist so nicht einfach nur das Reich der Triebe, sondern - zugleich allgemeiner und metaphysischer gedacht - der Wirkungsbereich der ursprünglichen Kreation, aus der alles Sein hervorgegangen ist. Mit der Denkfigur des dialektischen Dreischritts als konzeptuellem Passepartout von Romantik und Idealismus formuliert: Der Traum führt uns zurück in das erste Stadium der Triade. Wird er jedoch mit hoher geistiger Energie kombiniert - wie etwa im magnetisierten Zustand, der als höhere Form des Traums gilt -, so kann er uns divinatorische Fähigkeiten verleihen und uns sogar, im Extremfall, das dritte Stadium der Triade vorausahnen lassen. Auch romantische Traumdichtungen sind quasi potenzierte Träume, da sich in ihnen bewusste und unbewusste Aktivitäten verbinden.

Die wissensgeschichtliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich dadurch charakterisiert, dass naturphilosophisches Gedankengut zurückgedrängt wird und die Wissenschaften zunehmend auf eine szientistische Basis gestellt werden sollen. In diesem Prozess zerfällt allmählich auch die Quasi-Disziplin der Anthropologie, die so lange u. a. Physiologie, Psychologie, Philosophie und Ethnologie verklammert hatte. Diese Szientifizierung der Wissenschaften geschieht keineswegs auf einen Schlag, sondern mit erheblichen Zeitverschiebungen in den unterschiedlichen Disziplinen und sogar bei unterschiedlichen Forschungsgegenständen. Der Traum erweist sich, wegen seiner besonders intensiven naturphilosophischen Belastung, als besonders schwer einzugemeindendes Objekt. Häufig wird er von einer szientistisch begründeten Psychologie daher ganz einfach ignoriert. Als erfolgreich erweisen sich vor allem zwei Aneignungsstrategien:

eine sinnesphysiologische Untersuchung des Traumes, die sich auf die Mechanismen konzentriert, mit denen die Traumbilder (bzw. Traumgeräusche) hervorgebracht werden; wichtige Vertreter dieser Forschungsrichtung sind Johannes Müller, Gustav Theodor Fechner und Johannes E. Purkinje;

die - ungleich erfolgreichere - Theorie des Leibreiz- oder Nervenreiztraumes, die sich auf französische Vorbilder stützen kann (besonders Alfred de Maury). Leibreizträume sind Träume, die durch schwache Außen- oder Körperwahrnehmungen ausgelöst werden; diese rufen im Gehirn Bilder auf, die zu diesen Reizen in einem analogen oder doch assoziativen Verhältnis stehen. Ein vielzitiertes Beispiel für einen solchen Leibreiztraum stammt vom bereits genannten de Maury: Der hatte geträumt, nach Prozess und Verurteilung durch das Revolutionstribunal, schulgerecht guillotiniert worden zu sein. Als er schweißgebadet aufwacht, stellt er erleichtert fest, dass ihm nur ein Bettaufsatz auf den Hals gefallen ist.

Der Nervenreiztraum wird geradezu zum Normtypus der szientistischen Traumtheoretiker - an ihm wollen sie das Wesen des Traumes erklären. Das hat zwei offensichtliche Ursachen: Zum einen werden Träume so der empirisch-experimentellen Untersuchung zugänglich gemacht - man kann einen Träumer etwa gezielt unterschiedlichen Sinnesreizen aussetzen und sich dann seine Träume erzählen lassen. Zum anderen wird die Traumerfahrung so aufs engste an die des wachen Menschen angeschlossen; im Traum wirken keine eigenen, besonderen Vermögen - wie eben das ,Unbewusste' der romantischen Traumtheoretiker -, sondern genau die gleichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen wie im Wachen, nur eben in reduzierter, defizienter Form. Die Konzentration auf den Leibreiztraum führt also zu einer radikalen Depotenzierung des Traums, der nun erst wahrhaft zum ,Schaum' wird: zum bedeutungslosen Spiel der Nerven und des Gehirns.

Grob gesprochen - wenigstens einige Differenzierungen werden im übernächsten Kapitel noch nachgetragen - ist das die Konstellation, die Freud vorfindet. Die szientistische Traumtheorie (vor allem natürlich die ihr zugrundeliegende Psychologie) lehnt er als allzu mechanisch ab. Er wirft ihr vor, den Traum als rein "körperlichen Vorgang zu betrachten" und ihm so "die Würde eines psychischen Vorganges" abzusprechen: "alles, was eine Unabhängigkeit des Seelenlebens von nachweisbaren organischen Veränderungen oder eine Spontaneität in dessen Aeusserungen erweisen könnte, schreckt den Psychiater heute so, als ob dessen Anerkennung die Zeiten der Naturphilosophie und des metaphysischen Seelenwesens wiederbringen müsste. Das Misstrauen des Psychiaters hat die Psyche gleichsam unter Curatel gesetzt und fordert nun, daß keine ihrer Regungen ein ihr eigenes Vermögen verrathe."

Mit diesem Zitat ist auch schon Freuds Verhältnis zur romantischen Traumtheorie illustriert: Er muss in ihr einen natürlichen Verbündeten gegen die Szientisten und damit zugleich ein konzeptuelles Reservoir für Gegenentwürfe sehen. Doch will er nicht einfach an ihr anknüpfen - das wäre ja auch wissenschaftlicher Selbstmord gewesen (weshalb es mehr als plausibel ist zu vermuten, dass Freud peinlich genau darauf geachtet hat, alle Spuren, die zur romantisch-naturphilosophischen Tradition zurückweisen, zu verwischen). Damit will ich nicht unterstellen, dass Freuds Distanz zur romantischen Naturphilosophie eine rein taktische war. Sie ,aufzuklären' war ihm sicherlich Bedürfnis - und so kann seine "Traumdeutung" wissensgeschichtlich wohl auch am besten verstanden werden: als 'aufklärende', aber zugleich anti-szientistische Reformulierung der romantischen Traumtheorie.

4. Goldmanns Arbeit im Überblick

Wenn man die im Vorkapitel skizzierte wissensgeschichtliche Skizze kennt, wird man nicht nur die Anlage von Freuds Forschungsbericht besser verstehen, sondern auch Goldmanns Monographie. Daher auch meine - für eine Rezension zugegebenermaßen sehr ungewöhnliche und nur in diesem Ausnahmefall (wie ich hoffe) zu rechtfertigende - Vorgehensweise: Goldmanns Blick bleibt, wie noch zu zeigen sein wird, allzu atomistisch; seine Ergebnisse fügen sich aber in den von mir skizzierten Rahmen problemlos ein - dem Leser, der zuerst die Rezension und dann das Buch liest, mag es sogar scheinen, als ob ich nur ausbuchstabiert hätte, was dort impliziert ist. Ausgezogen aber werden diese großen Linien im Buche nirgendwo - und das ist sicher seine größte Schwäche.

Seine unbestreitbare Stärke liegt darin, dass hier alle wichtigen Traumschriften des 19. Jahrhunderts (genauer: seiner zweiten Hälfte) wiederentdeckt und vorgestellt werden - ergänzt um die Ergebnisse biographischer Recherchen und um zahlreiche erstveröffentlichte Archivfunde. Am besten versteht und würdigt man es als ein Pionierwerk, das eine weitgehend vergessene Forschungslandschaft erstmals grob kartographiert und so die Grundlage für weitere Entdeckungen liefert.

Goldmanns Buch ist in fünf Hauptteile untergliedert, deren Titel hier zunächst einmal nur zitiert seien: "I. Zur unbewußt symbolisierenden Phantasietätigkeit im Traum: Scherner - Volkelt - Freud"; "II. ,Schauplatz der Träume': Traumforschung und Psychophysik in Leipzig"; "III. Zur Auffassung des Traums als Wunscherfüllung in Literatur und Wissenschaft"; "IV. Von der ,göttlichen Mitgabe' zur ,köstlichen Aufgabe'. Freud und die Traumwissenschaft des 19. Jahrhunderts"; "V. Galerie der Traumforscher. Zehn Portraits".

Das letzte Kapitel ist durch seinen Titel bereits genügend charakterisiert. Goldmann präsentiert hier die - äußerst nützlich - bio-bibliographischen "Portraits" von zehn wichtigen Traumforschern des (meist späten) 19. Jahrhunderts: Friedrich Wilhelm Hildebrandt, August Krauss, Emil Richard Pfaff, Johannes Evangelista Purkinje, Paul Radestock, Karl Rosenkranz, Karl Albert Scherner, Heinrich Spitta, Ludwig Strümpell und Johannes Volkelt. Die vier Hauptkapitel der Arbeit seien im Folgenden etwas ausführlicher vorgestellt.

5. Kapitel I und II: Verspätete Romantiker vs. Szientisten

In seinem ersten Kapitel behandelt Goldmann - ohne dies so zu benennen - die Traumtheoretiker der 60er und 70er Jahre, die der romantisch-naturphilosophischen Tradition nahe stehen. So vorsichtig muss man formulieren - und damit zugleich das vereinfache Modell differenzieren, das ich in meinem wissensgeschichtlichen Abriss zum Traumdiskurs entworfen habe. Natürlich ist es nicht so, dass das szientistische Paradigma das romantisch-naturphilosophische einfach ablöst. Wohl aber gilt dieses zunehmend als altmodisch und diskreditiert, so dass auch Gegner der szientistischen Richtung nicht einfach dort anknüpfen können. Deshalb entstehen Mischformen, in denen szientistische Theoreme in abgeschwächter Form übernommen und von ebenfalls abgeschwächten romantischen Theoremen überlagert werden. Man kann solche Bastardisierungen leicht an den 'Leitfossilien' festmachen, an denen sich Wissensformationen immer am besten erkennen lassen: Kaum eine Traumschrift der letzten 40 Jahre des 19. Jahrhunderts kommt ohne das szientistische ,Leitfossil' des ,Leibreiztraums' aus. Besteht eine Affinität zur romantischen Tradition, so erkennt man dies, mit hoher Wahrscheinlichkeit, am gleichzeitigen Auftreten von ,Leitfossilien' des romantischen Traumdiskurses: vor allem am Konzept des ,Unbewussten' und am Denken in Bi-Polaritäten, mitunter auch am Glauben an Traum-Divinatorik und an den Magnetismus.

Aus dieser Gruppe der verspäteten, sozusagen szientistisch in der Wolle eingefärbten Romantiker behandelt Goldmann vor allem Karl Albert Scherner ("Das Leben des Traumes"; 1861) und Johannes Volkelt ("Die Traum-Phantasie", 1875), sowie dessen Gesprächs- und Korrespondenzpartner Robert Vischer; letzterer hat auch den (von Goldmann durch Abdrucke aus der bisher unveröffentlichten Korrespondenz dokumentierten) Kontakt zwischen Volkelt und seinem Vater, dem Einfühlungsästhetikers Friedrich Theodor Vischer, vermittelt. Die Gemeinsamkeit dieser drei Traumtheoretiker sieht Goldmann im Konzept der "unbewußt symbolisierenden Phantasietätigkeit". Das ist sicher richtig. Nur müsste dabei, will man wissensgeschichtliche Affiliationen erkennen, der Akzent auf die "unbewußte Phantasietätigkeit" gelegt werden - ein genuin romantisches Theorem. Das "Symbolisieren" wird dagegen nicht mehr in der starken Variante einer Natursymbolik verwendet (wie sie Schubert in seiner "Symbolik des Traumes" von 1814 entworfen hatte), sondern in der schwachen einer Symbolik des Leibes und seiner Befindlichkeit im Schlaf, also angepasst an die Leibreiztheorie des Traumes. Solche Differenzierungen kann Goldmann nicht vornehmen, da er keine einzige Schrift des romantischen Traumdiskurses ausführlich analysiert - mindestens dessen kompakte Spätfassung in der Traumtheorie von Carl Gustav Carus hätte unbedingt dargestellt werden müssen - und sich so der Möglichkeit beraubt, eine präzise historische Folie für die Traumtheorie der zweiten Jahrhunderthälfte zu entwerfen.

Wie überall in seiner Arbeit legt Goldmann auch in diesem Kapitel vielfach unediertes Material vor und eröffnet Zugänge zu vergessenen Schriften und personalen Konstellationen. Seine Theoriereferate bleiben jedoch ebenso atomistisch wie die abschließende Erörterung ihrer Rezeption durch Freud. Wer die genannten Schriften nicht durch eigene Lektüre kennt, wird sich kaum ein präzises Bild von ihrer Theoriearchitektur machen können.

Im zweiten Kapitel - dem wohl besten in Goldmanns Buch - werden vor allem Hauptvertreter der szientistischen Schule vorgestellt. Zu Recht sieht Goldmann als deren regionales Zentrum Leipzig an - ob die ,Romantiker' des Vorkapitels mit gleichem Recht in Wien verortetet werden können, scheint mir nicht so sicher. Aber auch in Leipzig ist die Situation nicht ganz eindeutig - dafür ist Gustav Theodor Fechner noch zu stark naturphilosophisch geprägt. Spätestens mit der Berufung von Wilhelm Wundt im Jahre 1879 kann Leipzig jedoch in der Tat als Zentrum der experimentell-szientistischen Psychologie gelten.

So sind zwei der drei wichtigsten Theoretiker dieses Kapitels nicht zufällig Schüler Wundts: Paul Wilhelm Radestock ("Schlaf und Traum", 1879) und Wilhelm Weygandt ("Entstehung der Träume", 1893), der dritte, Ludwig Strümpell (bes. "Die Natur und Entstehung der Träume", 1874), ist ein Herbart-Schüler. Die Eigenheiten der neuen Position zeigen sich vor allem im Kontrast zur Traumtheorie des - leider und aus rein regionalen Gründen auch in dieses Kapitel aufgenommenen - G. T. Fechner. Zu Recht rückt Goldmann dessen folgende erzromantische These ins Zentrum seiner Darstellung: "Ich vermute, daß [...] der Schauplatz der Träume ein anderer als der des wachen Vorstellungslebens ist". Genau diesen Gedanken wird Freud in einem Brief an Wilhelm Fließ zustimmend zitieren: "Das einzige vernünftige Wort ist dem alten Fechner in seiner erhabenen Einfalt in den Sinn gekommen. Der Traumvorgang spielt auf einem anderen psychischen Terrain".

Eben darum geht es in der Kontroverse der beiden Schulen: Eignet dem Traum ein eigenes Seelengebiet - das des wie auch immer bestimmten Unbewussten - oder handelt es sich bei ihm um einen, vom Wachleben nicht kategorisch geschiedenen, primär physiologisch fundierten Mechanismus? Ludwig Strümpell kennt noch eine, freilich abgeschwächte, Theorie des Unbewussten - schwächer auch als die, die sein Gespräch- und Korrespondenzpartner Graf Alexander Keyserling vertritt. Wundt und seine Schüler Radestock und Weygandt dagegen verwerfen dieses Konzept kategorisch. Noch 1910 wird Wundt sein ablehnendes Verhältnis zu Freud so begründen: "Übrigens gestehe ich, daß mir alle psychologischen Hypothesen, die mit dem Unbewußten operieren, von vorn herein verdächtig sind".

6. Kapitel III und IV: Bausteine für Freuds Theorie

In Kapitel III sucht Goldmann nach dem Ursprung des für Freuds Traumtheorie zentralen Wunscherfüllungskonzeptes. Das bleibt seltsam, da er selbst sehr klar formuliert, warum eine solche Suche vergeblich bleiben muss. Gleich am Anfang des Kapitels notiert er: "Die Auffassung vom Traum als Wunscherfüllung [...] hat eine lange Vorgeschichte. Man kann sagen, daß sie von Beginn an neben anderen Traumauffassungen in Traumbüchern und Sprichwörtern fixiert und tradiert wurde". Genauso ist es: Dass sich im Traum auch Wünsche erfüllen können, wird in sehr, sehr vielen Traumtheorien an mehr oder minder zentraler Stelle erwähnt - vermutlich einfach deshalb, weil es sich um eine Binsenwahrheit handelt, die sich schon der oberflächlichsten Selbstbeobachtung erschließt.

Genauso richtig ist auch das Fazit, das Goldmann am Ende seines Kapitels zieht: "allein [Freud] hatte unter den Traumforschern des 19. Jahrhunderts die Wunschtheorie in einer Ausschließlichkeit formuliert, die keine Ausnahme von der Regel gelten läßt". Nicht nur das: Freud hat auch - und vor allem - den Wunscherfüllungsmechanismus mit einer komplexen Interaktion von Unbewusstem, Vorbewusstem und Zensurinstanz verbunden und ihn damit in seine Theorie des psychischen Systems integriert. So hat er dem altehrwürdigen Theoriebaustein nicht nur eine neue Funktion, sondern auch einen neuen Gehalt verliehen. Eben deswegen aber trägt die Suche nach andersartigen Systemeinbindungen des Theorems ,Wunscherfüllung' wenig bis gar nichts zum Verständnis der Freud'schen "Traumdeutung" (oder auch nur ihrer Genese) bei.

Im Argumentationszusammenhang von Goldmanns Buch bleibt das Kapitel so weitgehend funktionslos. Trotzdem wird man es gerne und mit Gewinn lesen - als eine sehr bunte Blütenlese zur Wunscherfüllung im Traum, die von Lukian über Artmemidor, Erasmus, Karl Philipp Moritz, den Freiherrn Friedrich von Trenck, Franz Baader und Gottfried Keller bis zu Freud reicht.

Kapitel IV ist das längste des Buches. Goldmann hat es dazu bestimmt, das zu leisten, was doch eigentlich Aufgabe der ganzen Studie wäre (und was ja auch in jedem der Vorkapitel schon versucht wurde): den Zusammenhang zwischen Freuds Traumtheorie und der des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Das Kapitel mutet so wie ein Sammelsurium all dessen an, was in die (wenig glückliche) Gliederung der ersten drei Kapitel nicht einzupassen war.

Zunächst widmet sich Goldmann Freuds "ältester wissenschaftlicher Quelle": Karl Friedrich Burdachs "Physiologie als Erfahrungswissenschaft" (1830). Von Burdach selbst erfährt man allerdings so gut wie nichts; es gibt auch, anders als sonst, keine Primärzitate. Hauptsächlich lernen wir, dass Burdach der sinnenphysiologischen Traumforschung zuzurechnen sei und dass er Freud "schlagkräftige Argumente [welche??] gegen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschende somatische Reiztheorie" liefert. Letzteres ist richtig, wenn auch dringend präzisierungsbedürftig, ersteres, mindestens in dieser Verabsolutierung, falsch. Hier zeigen sich wieder einmal die unglücklichen Folgen des positivistischen Prokrustesbettes, in das Goldmann seine Untersuchung hineingezwungen hat. Egal, ob bei Freud erwähnt oder nicht: Burdachs wichtigste traumtheoretische Äußerung ist sicher das Kapitel "Der Schlaf und der Tod" in seiner "Anthropologie für das gebildete Publicum" von 1837. Dieses weist den Verfasser aber eindeutig als Vertreter der romantischen Traumtheorie aus. Dem wäre nachzugehen gewesen - da erst dadurch Freuds zustimmende Rezeption ihre Brisanz erhält.

Die übrigen Teilkapitel sind materialreicher ausgefallen. Vorgestellt werden vor allem Friedrich Wilhelm Hildebrandt ("Der Traum und seine Verwerthung fürs Leben", 1875) - von diesem soll Freud die Anlage seines Einleitungskapitels übernommen haben (wie auch von dem bereits dargestellten Ludwig Strümpell). Als Quellensammlungen genützt habe Freud vor allem die Arbeiten von Radestock und Volkelt (s. o.) sowie von Heinrich Spitta ("Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele", 1878 bzw. 1892) - ein sehr material- und einsichtsreiches Teilkapitel. Sehr punktuell bleiben dann wieder die Verweise auf Salomon Stricker und Wilhelm Griesinger; letzterer soll Freud, wieder einmal, "Hebammendienste" "bei der Herausbildung der Wunschtheorie des Traumes geleistet" haben.

Die restlichen Teilkapitel sind noch bunter gereiht. Behandelt wird zunächst "Freuds Rezeption der Traumforschung im Spiegel der Briefe an Wilhelm Fließ", was wenig neue Erkenntnisse vermittelt. Es folgen zwei wortgeschichtliche Exkurse: zum Begriff der ,Traumarbeit' (der sich erstmals in W. Roberts "Der Traum als Naturnothwendigkeit" von 1886 finde) und zu den zahlreichen Traumkomposita (Traumwunsch, Traumgedanke, Traummaterial etc.), von denen Goldmann nachweisen kann, dass man Freud zwar deren Erfindung größtenteils zu Unrecht zugeschrieben hat, er diese aber immerhin semantisch nachhaltig umgeprägt habe. Das Teilkapitel endet mit einem Fazit, das - reduziert man die blumige Einkleidung auf ihren nüchternen Aussagekern - durchaus zu erwarten war: "In Freuds ,Traumdeutung' ist das Vokabular der Traumwissenschaft des 19. Jahrhunderts aufgehoben, das heißt bewahrt, bewahrend verwandelt und verwandelnd überwunden".

Man sollte das letzte Hauptkapitel der Arbeit also nicht mit der Erwartung lesen, zentrale Einsichten in die Traumtheorie des 19. Jahrhunderts oder ihre Rezeption durch Freud geboten zu bekommnen. Was Goldmann hier aber in der Tat, gleichermaßen anschaulich wie instruktiv, vermitteln kann, ist ein Einblick in Freuds Werkstatt, in den Prozess seines Schreibens - also weniger in die Genese seiner Theorie als in die Genese des Buches "Die Traumdeutung".

7. Fazit

Goldmann ist ein begnadeter ,Jäger und Sammler', ein 'homme des archives' von hohen Graden. Er vermittelt nicht nur unbekannte oder vergessene Texte, sondern kann über sie auch immer wieder Einblicke in das Netzwerk persönlicher Beziehungen und die Forschungspraxis eröffnen, die den publizierten Schriften zugrunde liegen. Darin besteht die Stärke seines Buches, nicht aber in der Vermittlung von Theoriezusammenhängen.

Wie bei allen Sachbüchern hängt auch hier der Gebrauchswert vor allem vom Leserinteresse ab. Wer an Freuds Arbeitsweise interessiert ist, wird aus Goldmanns Studie viel lernen können; wer nach der Herkunft von Freuds Gedanken sucht, wird wichtige Anregungen erhalten (sich allerdings eigenständig über die Tradition der romantischen Traumtheorie informieren müssen). Wer schließlich der Traumtheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachspüren will, wird Goldmanns Buch unentbehrlich finden: Es ist der erste Versuch, diesen vergessenen Forschungskontinent neu zu kartographieren - alle zukünftigen Untersuchungen werden von hier ihren Ausgang nehmen müssen.

Wie nötig diese Wiederentdeckung war, zeigt ein Blick auf das der Traumtheorie des 19. Jahrhunderts gewidmete Kapitel in Peter-André Alts aktueller Monographie "Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit" (2002). Das Kapitel beginnt mit dem Satz "Die wissenschaftliche Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts entzieht sich einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Traum nahezu gänzlich". Auf den folgenden neun [!] Seiten des 464-seitigen Buches werden dann knapp P.W. Jessen, Alfred Maury und, etwas ausführlicher, Scherner und Volkelt referiert; dann geht Alt unmittelbar zu Freuds "Traumdeutung" über. Nach der Lektüre von Goldmanns Buch wird man so über die Traumtheorie des 19. Jahrhunderts nicht mehr schreiben können. Darin liegt ein unbestreitbares Verdienst.

Eine erweiterte Fassung finden Sie unter www.literaturkritik.de/public/online_abo/dlb/EngelGoldmann.pdf

Titelbild

Stefan Goldmann: Via regia zum Unbewußten. Freud und die Traumforschung im 19. Jahrhundert.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2003.
286 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3898062732

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