Tristan und Isolde des Dieter Kühn aus Düren

Gottfried von Straßburg altmeisterlicher Liebesroman in einem modernen Remake

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer neu bearbeiteten Ausgabe präsentiert Dieter Kühn ein Remake seiner erstmals 1991 erschienenen Übersetzung des hochmittelalterlichen Liebesromans "Tristan und Isolde" des Gottfried von Straßburg.

Am Konzept der ersten Ausgabe hat sich dabei auf den ersten Blick nicht viel verändert: Kühn bietet eine neuhochdeutsche Übertragung des Textes; die mittelhochdeutsche Vorlage ist nicht mit angegeben, dafür bereitet Kühn den mittelalterlichen Roman mit einem mehrere Ebenen umfassende Einleitungsteil ("VorBuch") vor und fügt einen umfangreichen Anhang hinzu, in dem Anmerkungen zu den Übersetzungsprinzipien, ein biographischer Exkurs über Gottfried von Straßburg, einige aus dem Haupttext ausgeklammerte Textpartien und eine Auswahlbibliografie zum "Tristan" enthalten sind.

Die Übersetzung als solche ist gleichfalls nur leicht überarbeitet; auf hohem literarischen Niveau bietet sie eine interessante und für den modernen Leser angenehm lesbare, gelungene Übertragung des mittelalterlichen Versromans, die dem eleganten, spielerischen Sprachduktus Gottfrieds von Straßburg durchaus gerecht wird. In kurzen Einschüben stellt Kühn einzelnen Handlungsabschnitten jeweils zusammenfassende Nacherzählungen voran, die dem modernen Leser eine Übersicht über den Text verschaffen und Benutzerfreundlichkeit garantieren sollen. Diese Absicht, den mittelalterlich-fremden Text einem breiten Publikum zugänglich zu machen und ihm dessen literarischen Reiz nahe zu bringen, ist Grundlage der Ausgabe in ihrer Gesamtheit - ein Ziel, das Kühn - wie der Erfolg der ersten Ausgabe und der ähnlich gestalteten Parzivalübertragung sowie der ebenfalls zum Mittelalter-Quartett gehörigen Bände über Oswald von Wolkenstein und Neidhart belegen - sicherlich erreicht hat.

Von wissenschaftlicher Seite aus sind einige Aspekte des zu Grunde liegenden Konzeptes jedoch zumindest zur Diskussion zu stellen. Diese betreffen keinesfalls die wirklich gelungene Übertragung des mittelalterlichen Textes, sie bewegen sich vielmehr auf der Ebene der Präsentation des Gottfried'schen Romanes und beziehen sich insbesondere auf den von Kühn geschaffenen Kontext des "VorBuchs". Dieses umfasst mit etwa 225 Textseiten etwa ein Drittel des Gesamttextes; es beinhaltet neben einem Arbeitstagebuch eine fiktive Zeitreise des Autors ins mittelalterliche Straßburg, wo er sich - verkleidet als Seidenhändler - auf die Suche nach dem Verfasser des "Tristan" begibt, sowie die rührende Geschichte einer heilkräuterkundigen jungen Frau namens Wanda, die im Auftrag der Herzogsfamilie von Kraków die Geschichte von Tristan und Isolde beschaffen soll, damit diese ins Polnische übersetzt werden kann.

Unproblematisch und informativ sind im Zusammenhang des VorBuches zunächst die fünfzehn Abschnitte des Arbeitstagebuches. Kühn gibt hier Aufschluss über die eigene Motivation und Konzeption seiner Arbeit und stellt Hintergrundinformationen zu für das Verständnis des Romans wichtigen Themen (höfische Lebensformen, Minne, Jagd, Literaturbetrieb im Mittelalter, politische Situation zur Zeit Gottfrieds etc.) zusammen. Im Arbeitstagebuch erklärt Kühn auch, welche Funktion weitere Bestandteile des VorBuches erfüllen sollen: Die Zeitreisen-/Seidenhändler-Episode soll der "virtuellen Erkundung des Stadtambientes, in dem der Dichter gearbeitet haben könnte" dienen, und die Geschichte über die Kräuterfrau Wanda soll als "weiträumige Annäherung an sein Werk" zu verstehen sein. Über den Zweck zweier weiterer Textstränge, einer vierteiligen "Simulation" der Entstehung der französischen Vorlage des Versromans und fünf Kurzabschnitte, die jeweils die Begegnung mit einem einem Computerspiel entnommenen virtuellen "Geisterreiter" schildern, äußert sich Kühn nicht explizit.

Die Vielschichtigkeit dieses Konglomerats unterschiedlichster Textbestandteile soll wohl den gleichzeitig wissenschaftlichen und künstlerischen Anspruch Kühns hervorheben - bei seinen Lesern dürfte er jedoch hauptsächlich zwei Reaktionen hervorrufen: Der unvoreingenommene "Normalleser" ohne wissenschaftlichen Hintergrund steht verwirrt vor einer Vielzahl unterschiedlichster fiktiver und nichtfiktiver Informationen und Erzählelemente, die kaum miteinander zu vereinen, geschweige denn zu einer sinnvollen Hinführung zu Gottfrieds Roman zusammenzufassen sind. Für den wissenschaftlich vorinformierten Leser tritt zu dieser Verwirrung noch zusätzlich der Ärger über die undifferenzierte Gemengelage zwischen Fakt und Fiktion, die gerade keine unvoreingenommene Heranführung an den mittelalterlichen Roman und seine Hintergründe ermöglicht, sondern vielmehr einen stark fiktiv geprägten Hintergrund konstruiert, der sich als historisch fundierter Kontext ausgibt und als Kühn'sches Konstrukt bei seinen Rezipienten zu einer deutlichen Perspektivenverzerrung hinsichtlich des mittelalterlichen "Tristan" führen muss.

Unbestreitbar ist es eine Tatsache, dass mittelalterliche Literatur heute vielfach nicht allein der Übersetzung, sondern auch einer zusätzlichen Erläuterung bedarf, um eine breitere Wirkung entfalten zu können. Dennoch: Wenn sich Dieter Kühn der Mühe unterzieht, die beinahe 20.000 Verse des "Tristan" ins Neuhochdeutsche zu übertragen, so beweist er gerade damit, dass dieser Text weiterhin auch für sich allein stehend Wirkung entfalten kann und Themen behandelt, die auch für moderne Rezipienten von Interesse sind. Historische und philologische Zusatzhinweise, wie sie Kühn im Arbeitstagebuch in angemessener, nützlicher Form bereitstellt, mögen hier dazu beitragen, dass sich dem modernen Leser ein tieferes Verständnis von Gottfrieds Dichtung erschließt. Keinesfalls notwendig ist dagegen eine zusätzliche Unterstützung des Leserinteresses durch weitere, den Originaltext flankierende Erzählstrecken, die unzutreffende Mittelalterklischees in teilweise plattester Weise ausschlachten: Junge kräuterkundige "weise Frauen", die - bei Herkunft aus einer wohlhabenden Waffenhändlerfamilie und guter Klosterschulbildung - mit dem Hundekarren Europa durchqueren, sollten insgesamt wohl doch lieber der Fantasyliteratur einer Marion Zimmer Bradley vorbehalten bleiben - Gottfrieds "Tristan" ist als Roman auch für den Leser der Gegenwart inhaltsreich und spannend genug, ohne dass ihm durch solche Versatzstücke aufgeholfen werden müsste.

Im Fazit stellt sich die "Tristan und Isolde"-Ausgabe Kühns somit als seltsam ambivalentes Zwitterwesen dar: Höchsten - sowohl wissenschaftlichen als auch literarischen - Ansprüchen genügt die verdienstvolle Übersetzung, die tatsächlich einen wertvollen Beitrag dazu leistet, diesen mittelalterlichen Versroman einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Unnötig ablenkend, verwirrend und Halbwahrheiten verbreitend, ist indessen das VorBuch als Hinleitung zu dieser gelungenen Übersetzung keineswegs geeignet. Hier wäre weniger mehr gewesen: Hätte sich Kühn auf die nicht-fiktionalen Anteile des Arbeitstagebuches als Einführung beschränkt, so würde er dem Leser bzw. der Leserin eine gute Grundlage nützlicher Hintergrundinformation vermittelt und ein Verständnis des Romanes innerhalb seines kulturhistorischen Rahmens ermöglicht haben. Die Integration der ebenso umfangreichen wie klischeehaften Erzählpassagen lässt dagegen diese notwendigen Informationen in den Hintergrund treten und durchmischt sie mit der romantisierenden Mittelaltervorstellung Kühns, so dass ein schiefer Gesamteindruck zurückbleibt. Der Rat an interessierte Rezipienten, denen an einer Beschäftigung mit Gottfried von Straßburg und dessen "Tristan" gelegen ist, kann daher nur lauten: Lesen Sie Gottfrieds "Tristan". Lesen Sie ihn in der gelungenen Übersetzung Kühns. Das VorBuch können Sie ignorieren.

Titelbild

Dieter Kühn: Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
860 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3100415086

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