Buchmesse mit familiärem Charakter

In Leipzig trafen sich Autoren und Leser auf der Blauen Couch

Von Moritz MalschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Moritz Malsch

Die Messe als Treffpunkt, als Fest und Verkaufsausstellung heißt deswegen so, weil man sie im Mittelalter nach der Heiligen Messe in Bretterbuden auf dem Domplatz aufsuchen konnte. Betrat man die diesjährige Leipziger Buchmesse vom Westeingang her, so stellten sich unmittelbar Assoziationen ein, die an diese doppelte Wortbedeutung anknüpften: Stieß man doch sogleich auf den Hochaltar, das blaue Sofa, von dem aus im Halbstundenrhythmus wechselnde Priester, behütet vom Kathedralendach der riesigen Glashalle, unter den himmelnden Augen der lauschenden Menge ununterbrochen ihre säkulare Dauermesse lasen. Das Programm war wahrhaft umfassend: Man ist an dieser Stelle versucht, wegen des gleichen Anlauts - aber auch nur deswegen - Julius Schoeps, Torsten Schulz und Helge Schneider in einem Atemzug zu nennen; es lasen, predigten und plauderten Fußballreporter Marcel Reif, Jubiläumsverleger Klaus Wagenbach, Thrillerautor Michael Frayn, Fernseh-Talker Reinhold Beckmann und Sportlerin Heike Henkel, um nur ganz wenige zu erwähnen. Auch auf einer Buchmesse sind es offensichtlich die aus dem Fernsehen bekannten Gesichter, sind es die Kameras, die die größten Menschenansammlungen hervorrufen. Das eigentliche Gesicht der Leipziger Buchmesse 2004 zeigte sich jedoch anderswo.

Wenden wir uns also von den Priestern ab, den Buden und Ständen zu, und schon denkt der norddeutsche Messegast assoziativ an eine dritte, nautische Bedeutung des Wortes Messe: Fachsprachlich ist die Messe auch der Speise- und Versammlungsraum der Schiffsoffiziere. Und da sitzen sie schon, die diensthabenden ostdeutschen Verleger und Intellektuellen, alle in einem Boot, todesmutig das Mare Nostrum ostdeutscher Geisteslandschaft durchquerend. Fortschrittliche Kräfte, die aus dem westlichen Au- ähm, westlichen Bundesländern zu Gast waren (Klaus Wagenbach, Uli Wickert), wurden freundlich aufgenommen und sicher durch Tiefen und an Untiefen vorbei gelotst; deren ängstliches Ausschauhalten nach den Klippen ostdeutscher Befindlichkeiten war allerdings weitgehend unbegründet - es gab keine. Ostdeutsche Themen wie die gerechte Würdigung der Übersetzungstätigkeit im DDR-Verlag Volk und Welt wurden ohne gekränkte Besserosserei und in selbstverständlicher Weise diskutiert.

Auch der Senior-Kapitän des Schiffes, der ehemalige Aufbau-Chef Elmar Faber, verweigert sich klischeehaftem deutsch-deutschen Rollenverständnis, indem er das Denken in Ost-West-Kategorien ablehnt und über die Universalität großer literarischer Themen spricht. Sein Verlag Faber & Faber tastet sich langsam aber stetig aus seiner Nische hervor, und auch ein anderer unbestreitbar ostdeutsch geprägter Verlag wie Christoph Links besetzt gesamtdeutsche Themen von historischer und politisch-zeitgeschichtlicher Relevanz, zum Beispiel mit einer Neuerscheinung über den vergessenen Völkermord in Deutsch-Südwestafrika 1904-1908 und mehreren Titeln über die Nazi-Zeit. Währenddessen betreiben die Herausgeber des "Eulenspiegel" eine besondere Form der augenzwinkernden Ostalgie: Soeben erschien zum 50-jährigen Jubiläum des Satire-Magazins der erste Band einer "Best of"-Reihe, die Komik der vergangenen fünf Jahrzehnte wieder ans Tageslicht zieht. Gleich nebenan wird den Vertretern der legendären Berliner Zeitschrift "Das Magazin" ihr Jubiläumsheft aus den Händen gerissen.

Überhaupt, Berlin: Nicht nur im ICE Berlin-Leipzig, der mit Lesenden und Schreibenden überfüllt war, wird die Berlin-Leipziger Symbiose dieser Buchmesse deutlich: Eine Fülle von Neuerscheinungen wie das jüngst mit dem Deutschen Bücherpreis prämierte "Selam Berlin" von Yadé Kara oder "Boxhagener Platz" von Torsten Schulz kommen entweder aus Berlin oder befassen sich in irgendeiner Form mit der Hauptstadt, und viele Berliner Autorinnen und Autoren lasen in Leipzig. Berlins ständige Vertretung, das traditionelle Berliner Zimmer, wartete mit zahlreichen Lesungen und Diskussionen mit Berlin-Bezug auf. So befasste sich etwa die von Alfred Eichhorn moderierte "Forum"-Sendung des Berliner Inforadios, die aus dem Berliner Zimmer gesendet wurde, mit publizistischen Traditionen und dem journalistischen Auftrag und hatte dabei besonders auch die publizistische Landschaft Berlins im Blick.

Wie von selbst, weil es das Naheliegende war, und ohne dass jemand extra ein Gastland oder ein Thema im Voraus proklamiert hätte, ergab sich sowohl durch die Podiumsdiskussionen als auch durch die Präsenz entsprechender Aussteller ein Messeschwerpunkt auf den Literaturen der EU-Beitrittsländer - was die slawischen und osteuropäischen Länder angeht, eine ostdeutsche Kernkompetenz. Doch auch die übrigen Beitrittsländer waren präsent: Von Malta bis Lettland war alles vertreten. Der Malteser Vertreter Joe Friggieri hatte dabei viel darüber zu berichten, wie es ist, in einer Sprache zu schreiben und zu sprechen, die nur von 400.000 Menschen verstanden wird - er erlaubte sich die zumindest halbwegs ernstgemeinte Frage, ob es denn überhaupt wünschenswert sei, wenn jeder jeden verstehe, und ob man nicht manchmal mehr verstehe, wenn man sprachlich gar nichts versteht.

Trotz ihrer wachsenden Größe hat es die Leipziger Buchmesse geschafft, ihren persönlichen und familiären Charakter zu bewahren. Hier steht der Verleger noch selbst am Stand und beantwortet geduldig die Fragen junger Journalisten oder fachsimpelnder Laien. Große westdeutsche Verlage sind mit vergleichsweise kleinen Ständen vertreten, halten sich zurück. Nach wie vor ist Leipzig vorwiegend eine Messe von und für Ostdeutsche, aber mit beachtlicher gesamtdeutscher Strahlkraft. Aussteller- und Besucherrekorde sind nicht etwa auf einen Boom der Buchbranche zurückzuführen, sondern auf ein offenes, tolerantes geistiges Klima voller Anregungen und interessanter Diskussionsthemen. Ostdeutschland zeigt nicht Flagge, aber Gesicht.