Perspektiven des geistigen Umbruchs

Walter Haugs Studienband "Die Wahrheit der Fiktion"

Von Claudia Brinker-von der HeydeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Brinker-von der Heyde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "Die Wahrheit der Fiktion" liegt der dritte, im wahren Wortsinn gewichtige Sammelband von vierzig Studien Walter Haugs vor, die in den letzten sieben Jahren entstanden und damit so aktuell sind, dass die Erstpublikation eines der aufgenommenen Aufsätze noch gar nicht erschienen ist. Der Band ist ein eindrücklicher Beweis für die ungebrochene Schaffenskraft des Leibniz-Preisträgers auch zehn Jahre nach seiner Emeritierung. Und er will seine Schriften einerseits als Plädoyer für eine "Differenziertheit des Denkens" verstanden wissen, andererseits als Beleg für die Notwendigkeit des geschichtlichen Bewusstseins, um eine Kultur nicht verarmen und primitiv werden zu lassen, starke und deutliche Worte, die in Zeiten eines ministerial verordneten universitären Reformaktivismus, der auf Verschulung und Verengung der Lehrinhalte sowie auf Nivellierung und die unmittelbar Anwendbarkeit von Wissen setzt, provokant wirken muss und soll.

Wie bei den beiden vorherigen Bänden sind die einzelnen Aufsätze nicht chronologisch aufgelistet, sondern in Themenblöcke gegliedert, und sie sind nicht einfach wieder abgedruckte, sondern bearbeitete und untereinander mit Querverweisen verknüpfte Fassungen mit dem dezidierten Ziel "die Vorläufigkeit jedes Zugriffs [...] wie die heterogene Vielseitigkeit der Gegenstände, die häufig nicht auf einen Nenner zu bringen ist", bewusst offen zu legen. Das Kennzeichnende der Literatur ist für Walter Haug das Widerständige, das Paradoxe, das Autonome, das sich nicht auf kulturelle Zweckgebundenheit reduzieren lässt. Interpretieren ist für ihn ein nie abgeschlossener Prozess, der keine Lösungen anbietet, sondern Problemstellungen aufzeigt. Damit begegnet Haug einer Gefahr, der so manche Wissenschaftler erliegen: der Gefahr, die eigene Position absolut zu nehmen oder methodischen Dogmatismus zu betreiben und damit nicht mehr offen zu sein für neue Zugänge, produktive Kritik oder gar den Mut, die eigene Meinung zu revidieren. So bleibt bei Haug nicht nur das literarische Werk widerständig, sondern auch seine Beschäftigung mit diesem. Allerdings beharrt Haug auf Grundvoraussetzungen, die einer solch generellen Offenheit für Methoden und Themen entgegenstehen. Mit seiner von ihm selbst "Protest-Aufsatz" genannten Erörterung "Warum darf Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein" plädiert er entschieden für einen ausschließlich literaturhistorischen Zugang, weil nur dort der Text als autonome, selbstreflexive Größe wahrgenommen werde, und wendet sich damit entschieden vor allem gegen eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Mediävistik. Seine sechs Aufsätze zur Wissenschaftsgeschichte mahnen denn auch zur Besinnung auf die - für ihn - ureigenen Aufgaben der Literaturwissenschaft, beschwören die Probleme neuer methodischer Zugänge und zeigen bei aller Brillanz des Denkens und des Formulierens doch eine sehr konservative Haltung, der kaum unerwartet von namhaften Kollegen heftig widersprochen wurde - eine Kontroverse, die viel zur Standortbestimmung des Fachs beigetragen hat. Haug hat diese Diskussion in die vorliegende Fassung seines "Protest-Aufsatzes" eingearbeitet, aber leider nur in einem Postscriptum darauf aufmerksam gemacht und seine eigene Position bekräftigt. Mit letzterer verbindet sich zwangsläufig ein traditioneller Literaturbegriff, der nicht - wie dies die Mediävistik in der Regel tut - auch Wissensliteratur und Didaxe einbezieht, sondern nur für die literaturwissenschaftlichen Analyse geeignet erklärt, was gemeinhin als "schöne Literatur" verstanden wird. Alles andere gehört für Haug in die Kulturgeschichte.

Es sind denn auch mehrheitlich "Klassiker", denen Haugs Aufmerksamkeit gilt: dem "Dreigestirn" Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, der Heldenepik, Kurzerzählungen und - mit elf Aufsätzen sehr prominent vertreten - den Schriften spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Mystiker.

Fünf Aufsätze, subsumiert unter "Übergreifende Themen" greifen dabei am Beginn die Perspektiven auf, die für Haug grundlegend sind und je neu in seinen Studien reflektiert, variiert und erweitert werden: Immer geht es um Formen der Erfahrung, welche eine im Mittelalter durch die Heilsgeschichte garantierte Wahrheit in Frage stellen und "damit den Schlüssel zum Verständnis jenes fundamentalen kulturgeschichtlichen Umbruchs zur Differenz [liefern], der die weitere Entwicklung in die Neuzeit hinein bestimmen wird."

Zentral und für den Titel verantwortlich sind die literaturtheoretischen Aufsätze (Kap. II. Literaturtheorie). Programmatisch stellt er seinen Aufsatz "Die Entdeckung der Fiktionalität" ins Zentrum und beharrt ungeachtet oder vielleicht auch gerade wegen der ablehnenden Kritik darauf, diese im 12. Jahrhundert anzusetzen, wobei er aber deutlich macht, dass er mit dem Begriff auf Wahrheiten ausgerichtete Entwürfe verbindet, die nicht vorgegeben sind, sondern sich erst im Erzählen entwickeln. Das Experiment der Liebe im höfisch-arthurischen Roman gehört dazu (Kap. III. Erotik und Fiktion), aber auch und gerade das Widerständige, das Amoralische und Böse spätmittelalterlicher Kurzerzählungen als negative Grundelemente menschlichen Lebens, die im Lachen zwar nicht aufgelöst, aber gebannt werden. (Kap. VI. Der Widersinn, das Gelächter und die Moral). Im religiösen Bereich sind es die Mystiker, welche für eine personal-subjektive Gotteserfahrung (Kap. VII: Exegese und religiöse Erfahrung. Die personale Wende in der geistlichen Tradition) stehen, die, so Haug, entscheidend ist für den im Spätmittelalter zu beobachtenden "Umbruch im abendländischen religiösen Denken".

Es ist erwartungsgemäß keine leichte Kost, die dem Leser auf über 700 Seiten angeboten wird. Sehr genaues Lesen ist gefragt, um den Ausführungen mit Gewinn folgen zu können. Wer dies auf sich nimmt, dem eröffnen sich aber Einblicke in die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wie sie nur von jemandem gegeben werden können, der über ein stupendes Wissen, höchste philologische Genauigkeit und Sensibilität verfügt und bei aller Vielfalt nie die Leitfrage nach dem Phänomen des Innovativen im Rahmen einer durch Traditionalität geprägten Kultur aus dem Blick verliert, so dass sich eine Fülle von Querverbindungen ergeben, die immer wieder gleichermaßen überraschen wie überzeugen.

Titelbild

Walter Haug: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
708 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3484108533

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