Frankfurter Verhältnisse

Martin Mosebach erzählt in seinem Werk von einem eigenen Mesokosmos

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn seines Romans "Westend" (1992), erzählt Martin Mosebach von Alfred Labonté, einem jungen Frankfurter, der an einem Frühlingstag des Jahres 1950, zur Zeit der Kastanienblüte, auf den Main paddeln geht. Es ist eigentlich nicht das Wetter für eine Kanufahrt auf dem Main, der Himmel ist grau und verhangen, "es hat schon ein paar Tropfen gegeben", und der Fluss ist eine Kloake. "Wohin soll's denn gehen?", fragt der alte Mann, der gerade die Tür des Bootsschuppens lackiert. "Wo das Wasser sauber wird", antwortet Alfred.

Die nächste Einstellung zeigt den einsamen Kanufahrer flussabwärts Richtung Osthafen und Gerbermühle treiben, vorbei an den Ruinen und Baulücken, die der Bombenkrieg in das Herz Frankfurts gerissen hat, vorbei am Säulenportikus der Rothschildschen Bibliothek, vorbei an Schrottplätzen, Silos und Kohlehalden. Das Flusswasser ist dunkel, schmutzig und fast unbewegt, nur hier und da sind Strömung und Gegenströmung zu beobachten. Der Main gleicht einem trägen Bach, bei Steinheim wendet er sich gen Süden, eine "Weidenböschung" wird sichtbar, die "Wolkendecke" reißt auf, die Sonne spiegelt sich wie auf einer "Fläche flüssigen Quecksilbers". Verschiedene Gegenstände kreuzen Alfreds Boot, darunter zwei Flaschen, die er mit seinem Paddel untertaucht, und dann ein großer dunkler Klumpen, der ihn erschrecken lässt:

"Da schwamm ein Paket, das mit dickem Bindfaden umwunden war, aus vollkommen durchweichte[m], überall zerfallendem Zeitungspapier [...]. Und dieses Paket gab nun seinen Inhalt preis: eine kleine Hand, zur Faust geballt, einen kleinen Fuß, und gerade als Alfred mit dem Kanu ganz nahe herangekommen war, wischte eine Bewegung des Wassers einen großen, weichen Fetzen Papier behutsam, so schien es, beiseite, und der Kopf eines neugeborenen Kindes wurde sichtbar, bläulich rot mit gerunzelter Stirn, gekraustem Näschen und kaum geöffneten Augen. Das Wasser, das jeden Blutstropfen von seinem Treibgut abgewaschen hatte, hielt das Paket in sanftem Schaukeln. Die Fetzen des Zeitungspapiers schienen wie durch eine Lebensregung bewegt zu sein: ein kleiner Moses, dessen Körbchen gesunken war."

Mit dem kleinen Mose, dessen Weidenkorb untergegangen ist, wird jedermann vertrautes kulturelles Wissen abgerufen - man soll diese Begegnung Alfreds mit einer Kinderleiche im Main offenbar zeichenhaft lesen. Lenkt man jetzt seine Aufmerksamkeit auf den Text zurück, der hier nicht nur von einer Kanufahrt erzählt, sondern religiöse Semantik zusätzlich anklingen lässt und dazu den ranghöchsten kulturellen Referenztext des Abendlandes bemüht, so fällt auf, dass diese quasi biblische Lesart auch schon durch andere Signale vorbereitet war: Die "Weidenböschung" bei Steinheim etwa ruft das Schilf am Ufer des Nils ab und damit die Rettung Mose durch die Tochter des Pharao und das Ende der Knechtschaft der Kinder Israels in Ägypten (vgl. 2 Mose 2-3). Im Unterschied dazu misslingt in Mosebachs Variante die Rettungsmaßnahme, der Sohn des Levi kann nicht mehr lebend aus den Fluten des Nil geborgen werden und das apokalyptische Bild gipfelt schließlich darin, dass Alfred die Kinderleiche mit seinem Paddel im Wasser dreht, bis eine "tiefe Wunde auf dem Rücken sichtbar" wird:

"Ob eine menschliche Hand dieses Kind so grausam verletzt hatte oder ob das bereits die Wasserratten gewesen waren, deren nasse Fellrücken hier und da dem Ufer zustrebten, wenn das Kanu näherkam, wagte er nicht mehr zu erforschen. [...] Er beschloß, bald ein Ende zu machen."

Hier bleibt also offen, ob Mose den ihm ursprünglich zugedachten, im Alten Testament vom Pharao verfügten Säuglingstod gestorben ist, ob er ausgesetzt oder ermordet wurde. Bedeutsam ist, denkt man das Gleichnis weiter, dass mit diesem Säugling auch die Sage vom Auszug der Kinder Israels aus Ägypten gestorben ist und die Gottesoffenbarung des Alten Testamentes unterbleiben muss. Mose wird kein "Schilfmeerwunder" (2 Mose 13-15) vollbringen, er wird kein Verkünder des Gottesbundes sein (2 Mose 3,4-14; 19,16-20,21), er wird keine Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai empfangen und seinem Volk nicht die Gebote Gottes überbringen (2 Mose 34), er wird nicht der Verkünder des Glaubens und der Prophet Jesu sein. Wenn aber die heilsgeschichtliche Mission Mose unterbleibt, dann unterbleiben auch viele biblische Zeichen und Wunder: Mose wird sein Volk nicht retten, wird kein Wasser aus dem Felsen schlagen und nicht einmal einen Fernblick mehr auf das Gelobte Land werfen.

Weshalb gibt Mosebach seinem Schreckensszenario auf dem Main diesen religiösen Hallraum, warum eröffnet er den alttestamentarischen Traditionsbezug, indem er eine Kinderleiche mit Mose identifiziert, und warum zerstört er das tradierte Hoffnungsbild gleich wieder, noch dazu auf so bizarre Weise? Und was bedeutet der Nachsatz "Er beschloß, bald ein Ende zu machen"? Behalten wir ihn im Gedächtnis.

Man kann nicht umhin dieses Eingangsbild zeichenhaft zu lesen, und da die hier dargestellte Welt mit dem Jahr 1950 einsetzt, dürfte die Transferleistung nicht allzu schwer fallen: Die Zeit des Nationalsozialismus entspräche der Leidenszeit der Israeliten in Ägypten; dem Befehl des Pharao, alle männlichen Neugeborenen in den Nil zu werfen, wäre intensionsgleich mit der Endlösung der Judenfrage; die Deportationen wären an die Stelle des Auszuges des Volkes Israels aus dem Land ihrer Peiniger getreten. Das Deutsche Reich wäre, ähnlich wie seinerzeit Ägypten, von schweren Plagen heimgesucht worden und der alttestamentarische Gewitter- und Hagelsturm (2 Mose 9,13-35) bezöge sich in etwa auf den Bombenkrieg, der Deutschlands Städte, darunter auch Frankfurt, in Schutt und Asche legte.

Das Frankfurter Westend ist der wichtigste Schauplatz des hier zu begutachtenden Romanwerks. Frankfurt repräsentiert darin die demokratischen, bürgerlichen, republikanischen Werte vor 1933. Innerhalb Frankfurts repräsentierte das Westend bis in die vierziger Jahre hinein ein eher großbürgerlich anmutendes Viertel, in dem sich gutsituierte Frankfurter in großzügigen Villen ansiedelten. Mit Kriegsende wird hier der enorme "Vermögensverfall" besonders deutlich, der "wie eine Erdbebenkatastrophe" über die Westender hereingebrochen ist. Dieser Erdenbebenvergleich hinkt natürlich, denn er negiert die historische Kausalität von Terror und Gegenterror, der zum Untergang der Städte geführt hat.

Frankfurt war, dies nur zur Erinnerung, auch Wohn- und Geburtsort der Familie Otto Frank, dem Vater Anne Franks. Die Stadt am Main hatte überhaupt eine große Jüdische Gemeinde, wobei die religiös orthodox eingestellten Juden bevorzugt im Ostend lebten, die liberalen Juden aber im vornehmen Westend, und zwar mit einem Bevölkerungsanteil von bis zu 30 Prozent. Anne Franks Großvater Michael Frank beispielsweise, ein liberaler Jude, lebte zur Miete in der Niedenau, einer feinen, spätklassizistisch geprägten Straße, später in der Leerbachstraße, wo Häuser im neubarocken Stil das Bild prägten, schließlich im Gärtnerweg - nördlich der Alten Frankfurter Oper gelegen, zog also vom Westend in die Stadtmitte.

All dies ist zwar nicht Gegenstand der dargestellten Welt von Mosebachs Romanwerk, aber es ist Teil seiner Hypothek und mag ein Grund dafür sein, weshalb seine Figuren eher gedämpfte Erwartungen ans Leben haben, selbst dort, wo die Darstellung ins Burleske geht. Und auch das Bild der Kinderleiche vom Main bekommt hier seinen Sinn: Die Figur des Mose, der sein Volk aus der Bedrückung herausführt, ist in dieser Welt funktionslos geworden - sein Volk ist bereits herausgeführt, sprich vertrieben und verschleppt worden, und so gibt es keine Aufgabe mehr für ihn.

Mosebachs Werk, von dem hier und im folgenden die Rede ist, sein Frühwerk, steht insofern unter dem Eindruck der Kriegszeit, als die Nachkriegszeit, die der Autor schon bewusst erfahren hat, noch lange von den Kriegsschäden und den sozialen Schäden, die das 'Dritte Reich' über die Welt und Deutschland gebracht hat, geprägt war. Der Schauplatz ist in beiden Romanen, die ich hier zu einem Bild zusammenfasse, "Das Bett" und "Westend", die Metropole Frankfurt am Main, genauer der Frankfurter Westen: Hier konzentriert sich das Leben der dargestellten Welt, wobei der Fokus des ersten Romans eher auf der Kriegszeit und den 50er Jahren liegt, der des zweiten eher auf der Nachkriegszeit und den 60er Jahren.

In Mosebachs Erstling "Das Bett" lassen sich zwei Protagonisten bestimmen, der Erzähler und der Heimkehrer Stephan Korn. Korn ist, wie der Name schon verrät, der Sohn emigrierter Frankfurter Juden, die sich frühzeitig genug in die USA absetzen konnten, weil Stephans Mutter Florence, aus New York stammend, dort den "Rückhalt ihrer Existenz" hatte. Immerhin hat Stephan in Frankfurt noch einige Zeit die Schule besucht und war - man nimmt es mit Erstaunen zur Kenntnis - anfangs wohl auch in der Hitlerjugend. Von der alten in die neue Welt versetzt, leistete er seinen Kriegsdienst als amerikanischer Soldat in Frankreich, und zwar ganz in der Nähe des Vichy-Regimes, ab. Zur Erzählgegenwart ist Stephan Korn, inzwischen ein nicht mehr ganz junger Mann, zum ersten Mal seit den 30er Jahren in seine Geburtsstadt Frankfurt gereist und hat sich auf die Suche nach seiner Amme gemacht. Um den eigentlichen Grund seines Aufenthaltes, um den väterlichen Auftrag, eine Fabrik für Autoreifen zu reorganisieren, kümmert er sich nicht eine Sekunde. Stattdessen liegt er tagsüber im Bett seiner Amme Agnes, als wäre er von einer "Schlafkrankheit" ergriffen worden.

Zu konstatieren ist also eine tüchtige Regression eines nicht mehr ganz jungen Mannes, die mit einer "Liebe zur Dunkelheit" einher geht und zu einer dandyhaften, verspielten, den Ernst des Lebens nirgendwo respektierenden Existenzform führt. Die Frankfurter Verhältnisse bringen es mit sich, dass Stephan Korn regelmäßig in der Familie des Ich-Erzählers verkehrt, der uns - inzwischen erwachsen geworden - seine Fünfzigerjahre-Kindheit aus der Retrospektive erzählt. Man kann dieses Romanwerk als einen der wenigen Versuche der achtziger Jahre werten, die in Deutschland mit Thomas Manns Tod abgebrochene Tradition des Erzählens fortzusetzen, die sich mit dem Anspruch manifestierte, in der 'Fabel' des Romans eine Totalität der Welt darzustellen. Dieser Anspruch ist in der Literatur der Nachkriegszeit weitgehend aufgegeben worden, so dass Mosebachs Generation der in den fünfziger Jahren Geborenen zwar noch passable Autoren und bedeutende einzelne Erzählwerke hervorgebracht hat, aber keinen genuinen Erzähler von Rang, der auf ein Prosawerk von der Qualität Thomas Manns zurückblicken könnte. Das gilt auch für Mosebach selbst: Dem hier und heute zu begutachtenden Werk ist nur wenig Resonanz zuteil geworden: Die gebundenen Erstausgaben waren viele Jahre vom Markt verschwunden, bevor Taschenbuchverlage sie neu und auch in neuer Textgestalt vorlegten. Zum Teil sind sie bis heute vom Markt verschwunden, und eine nachhaltige Rezeption ist von ihnen nicht ausgelöst worden. Aber auch Mosebachs Bücher haben ihre Schicksale; im Nachwort zur Taschenbuchausgabe seines Erstlings "Das Bett" heißt es: "Das Bett ist mein erster Roman, aber kein Jugendwerk. Als ich 1980 mit der Arbeit an diesem Buch begann, hatte ich, bereits etwas verspätet, meine juristische Ausbildung abgeschlossen. Was ein Roman sei, meinte ich zu wissen, weniger aus den Definitionen der Literaturtheoretiker, als aus meiner Lektüre der Romane des 19. und 20. Jahrhunderts." Den ästhetischen Überlegungen, die sich daran anschließen, ist Mosebachs Präferenz für jenen Typus von Roman zu entnehmen, der das autobiographische Substrat allen Erzählens als bloßes Spielmaterial begreift und sich von dessen Faktizität emanzipiert, so dass die autobiographischen Momente im fiktionalen Text nicht mehr als solche fungieren und funktionieren. Der Autor spricht vielmehr von einem "Anekdotenkern" beziehungsweise von Steinen eines "großen, weitgehend verlorengegangenen Mosaiks", die durch die Arbeit am Text in ein neues Bild eingefügt werden. Schreiben ist dieser Autorentheorie zufolge die ausphantasierte Rekonstruktion eindringlicher Bilder, die zum Subjekt sprechen, sich aber nicht selbst erklären, so dass der Autor für ihre Deutung selber sorgen muss - und sei es auf Kosten der biographischen Wahrheit der eigenen Geschichte. Der Sprechsituation zufolge blickt ein Ich-Erzähler zurück auf das Kind, das er einmal war. Er rekonstruiert die Geschichte seiner Familie und erinnert sich an seine Träume, deren Ausdeutungen einen nicht unbeträchtlichen Teil des Romans bilden. Diese Träume basieren auf einem authentischen Substrat oder bilden eine Art autobiographischen Tagesrest, der in Fiktion übersetzt wird. Ein Beispiel dafür zitiert Mosebach im Nachwort zu "Das Bett": "Der heimkehrende Emigrant, der seine Amme suchte, um sich wieder zu ihr ins Bett zu legen, war eine Gestalt meiner Kinderjahre. Was das Ziel dieses Mannes in Deutschland war, hat man mir freilich erst viel später gesagt." Stephan Korn, der von seiner Amme nicht loskommt, hat schon seiner Mutter Sorgen bereitet und einen deutschstämmigen Psychoanalytiker namens Tiroler beschäftigt: Stephan, so das Persönlichkeitsbild, entspricht einerseits dem Typus des Melancholikers, der sein Zimmer nicht einmal zu den Mahlzeiten verlässt, und andererseits dem Typus des Dandys, der sich überall einzurichten weiß und mit müdem Charme die Herzen seiner Mitmenschen erobert. Die Suche nach der Kinderfrau von einst, die im Bett der Amme durchgebrachten Tage, bilden einen anekdotischen Kern, der vom Ich-Erzähler rekonstruiert wird, wobei von Relevanz zu sein scheint, dass zwischen Erlebnis und Rekonstruktion viel Zeit vergangen ist: "Als ich in späteren Jahren jedoch begann, die Menschen in meiner Umgebung mit anderen Augen anzusehen, stellte ich mit Verwunderung fest, dass die Phantasien und Wünsche, die ich in bezug auf andere zu entfalten begann, eine Wurzel hatten, die ich längst kannte". Dieses Zitat, das nicht in Mosebachs Nachwort steht, aber dort stehen könnte, ist Erzählerrede und beschreibt den Vorgang, wie die kindliche Phantasie, die sich in der Ausdeutung der Wirklichkeit von der Wirklichkeit entfernt, später durch den erwachsenen Erzähler korrigiert wird. Mosebachs Roman, aus der Retrospektive erzählt, verbindet also heutiges Wissen des Erzählers mit der Phantasie eines Siebenjährigen, dem die Welt damals ins Monströse verzerrt erschien. Mosebachs Erstrezipienten haben diese völlig plausible Konstruktion als "Konstruktionsfehler" interpretiert und sich gefragt, "woher diese umfassenden Kenntnisse stammen könnten", die der Ich-Erzähler, der zur Handlungszeit noch ein Kind war, so "souverän allwissend" präsentiert. Was lernen wir daraus? Man sollte seine Leser nicht mit intelligenten Konstruktionen traktieren - sie geben doch nur Rätsel auf. Der kindliche Blick und die Rekonstruktion der Geschichte durch den erwachsenen Erzähler werden hier quasi übereinandergeblendet: Damals, als er noch klein war, erschien dem Siebenjährigen die Welt monströs, so dass er alles ins Übergroße verzerrte. Aber auch der erwachsene Ich-Erzähler lässt seiner Imagination die Zügel schießen und profitiert vom kollektiven Bildervorrat der Nationen. Als Beispiel dafür mag das fiktive und seltsam unbestimmt Bild dienen, das vom Kriegseinsatz Stephan Korns entworfen wird. Die Fantasie und zwar die Fantasie einer Frau tritt an die Stelle der Realität: "Seine Melancholie war zart und stammte ganz sicherlich nicht daher, dass er wochenlang anhaltenden Geschützdonner hatte ertragen müssen, in einem Schützengraben womöglich und beim Schein einer Karbidfunzel. War er nicht überhaupt als Flieger damals in Frankreich? Wenn das zutraf [...], dann jedenfalls sicher nicht als Kampfflieger, umwoben von der ritterlichen und zugleich tragischen Aura der Luftkämpfe, sondern etwas Leichteres, Unfaßbares, etwas halb Ziviles, ein Nachrichtenflieger etwa oder ein Post- und Kurierflieger mit geheimem Auftrag, der seinen sportlichen Doppeldecker auf wie von Boucher gemalten französischen Waldlichtungen landete, um seine Sendung einem andern Mitglied der geheimen Organisation zu übergeben - einem beleibten Landpfarrer, der mit seinem Fahrrad plötzlich wieder verschwunden war, oder einem seine Sense schleifenden Bauern, der in einem der dekorativen Heuhaufen seine Maschinenpistole versteckt hielt." Man darf hier auch an die Züge des Grafen Antoine de Saint-Exupéry denken, des Verfassers des weltbekannten Kinderbuchs "Der kleine Prinz", das - 1950 ins Deutsche übersetzt - bis heute zum Kanon fast jeder Leserbiografie gehört. Und dies ist keine willkürlich bemühte Assoziation, sondern geht zurück auf das romantische Bild, das sich die Tante des Ich-Erzählers von Stephan Korn macht, und diese Tante, eine Lehrerin, möchte in einer Unterrichtsstunde diesen packenden Lesestoff des Postfliegers Saint-Exupéry als Hoffnungslicht "der Humanität und der menschlichen Solidarität" durchnehmen. Diese Tante des Ich-Erzählers, die jüngere Schwester seiner Mutter, bleibt namenlos, spielt jedoch eine herausragende Rolle insofern, als sie sich in Stephan verliebt - und zwar unglücklich verliebt, denn sie ist weder attraktiv noch - wie Korn - liebeserfahren. Wenn sie sich Stephans Vergangenheit als Kurierflieger in Frankreich vorstellt, wenn sie ihrer Imagination seiner amourösen Abenteuer nachhängt und sich in Vermutungen über das "Raffinement der französischen Frauen" ergeht, während sie ihm, den Doppeldecker in einer Scheune verborgen, die Wartezeit auf den "Mechaniker der Résistance" versüßen, dann entspricht das seiner Wirklichkeit zwar nicht in einem strengen Sinne, ist aber insofern wahr, als er - mehr Dandy als Soldat - in seiner Kriegszeit eine Liebeserfahrung zumindest sammeln konnte, die vom Roman dann auch deshalb dargestellt wird, weil sie Korns einzige nennenswerte Lebensleistung zur Folge hat: Er rettet Aimée von Leven, eine Frau aus baltischer Familie, die in Paris Unterschlupf gefunden hat, aber in der Angst lebt, nach Deutschland "deportiert" zu werden. Stephan bringt sie aus dem gefährlichen, weil von deutschen Truppen besetzten Norden ins friedlichere Narbonne im Süden des Landes. Dort trennen sich ihre Wege: Aimée lernt in Südfrankreich den ebenfalls geflohenen Frankfurter Juden Oppenheimer kennen und heiratet ihn; ihr Sohn ist ein Mitschüler des Ich-Erzählers. Mosebachs Roman erzählt mehrere solcher oder ähnlicher Flüchtlingsgeschichten, und nicht alle gehen gut aus. Offenbar tragisch endet der Lebensweg des Frankfurter Juden Dr. Frey, der Deutschland noch verlassen konnte und Anfang der vierziger Jahre mit falscher Identität und praktisch mittellos in Südfrankreich lebt. Dr. Frey hat einmal zur besseren Frankfurter Gesellschaft gehört, hat dann das elterliche Haus in der Schubertstraße im vornehmen Westend zu einem Spottpreis verkaufen müssen und ist über Prag nach Narbonne geflohen. Während sich Stephan Korn mit seinem amerikanischen Diplomatenpass einigermaßen sicher bewegen kann, muss Dr. Frey ständig fürchten, aufgegriffen und deportiert zu werden. Frey, der lästige, weil mittellose und gefährdete Schicksalsgefährte, ist das eindrucksvolle Gegenbild zu Korn: Ihm widerfährt, was Korn hätte widerfahren können, wäre er nicht vom Glück begünstigt worden. Einen Dr. Frey gibt es auch in Mosebachs Roman "Westend", und wie jener wohnte auch dieser einst in der Schubertstraße; es heißt, er sei schon vor dem Krieg aus seiner Villa "verschwunden". Mosebach, der gern als 'Sänger des Westends' titutuliert wird, entwickelt in seinem Romanwerk ein umfassendes, die Achse Osteuropa, Westeuropa, Amerika nachziehendes Zeitpanorama von den zwanziger Jahren an; er lässt die großen Verwerfungen - Erster Weltkrieg, Russische Revolution, Nationalsozialismus, Judenverfolgung, Zweiter Weltkrieg, Bombenkrieg, die Schattenwirtschaft der Nachkriegszeit, die Währungsreform, die Koreakrise, Spekulantentum, Wiederaufbau - am Horizont der Darstellung aufscheinen oder rückt sie sogar ins Zentrum der Darstellung.

In dieser frühen Prosa gibt es wenig Bewegung und wenig Überraschendes; was überraschen könnte, wird umständlich vorbereitet, so dass der Leser für das Kommende immer schon gewappnet ist. Außerdem wird jedes Ereignis nachbereitet und einsortiert ins Wertesystem der dargestellten Welt. Zu dieser Statik passt, dass sehr viel von Gebäuden und ihrer Geschichte die Rede ist, von Städtebaulichem, von den Kriegsfolgen und vom Wiederaufbau, und selbst dasjenige, das zum Innenleben der Figuren gehört, tendiert nicht selten dazu, psychische Vorgänge in eine Architektur zu übersetzen. So wie der Mensch, der behauste ebenso wie der unbehauste, ständig seine Fassade wechselt und seine Lügengebäude weiter ausbaut, so verändert er mit seiner Lebensgeschichte auch seine Wohnung, sein Viertel, seine Stadt, bis entweder alles neu wirkt oder in sich zusammenfällt. Diese Raumsemantik wird noch dadurch unterstützt, dass der Protagonist von "Westend", Eduard Has, Makler ist.

Bombenkrieg und Vertreibung, nach einer These von W. G. Sebald in der deutschen Nachkriegsliteratur angeblich nicht dargestellt, hatten bekanntlich für die Bauwirtschaft und den Wohnungsmarkt erhebliche Folgen. War das Westend vor dem Krieg eine gutbürgerliche Wohngegend gewesen, die sich nur die Reichen und Neureichen leisten konnten, so ist es inzwischen ein Schmelztigel aller Milieus:

"Nachdem die jüdischen Familien, die vor dem Krieg dort vielfach gewohnt hatten, aus der Stadt vertrieben worden waren, wurden die von ihnen zurückgelassenen Häuser nur noch vereinzelt in wohlhabend bürgerlichem Lebensstil geführt, und das nicht nur, weil die Bevölkerung nach dem Krieg allgemein verarmt war, sondern auch, weil nun viele Parteien in Häusern lebten, die einstmals für eine einzige Familie gebaut worden waren, darunter auch Einquartierte, die ein Dach über dem Kopf bekommen sollten und die früher nie in Häuser des Westends hätten ziehen können."

Wie sehr das Frankfurter Westend davon betroffen war, zeigt sich am Beispiel der "Olenschlägerschen Haus- und Grundstücksverwaltung", die mit "ehrgeizigem Blick auf die Zukunft des Wiederaufbaus der zerstörten Städte gegründet" worden war. Sie wird nominell von zwei Cousins geführt, Fred Olenschläger und Eduard Has, wobei das eigentliche operative Geschäft in den Händen von Fred Olenschläger liegt, der, ein alter Hagestolz, einer Vision von einem gläsernen, einem futuristischen Westend nachhängt:

"Vor allem die Schubertstraße erschien dann vor seinen Augen: nicht Straße mehr hinfort, sondern langgestreckter Hof zwischen gläsernen, betongestützten Schiffen, die mit zahlreichen Brücken über die einstige Straße hinweg einander verbunden waren, eine Stadt in der Stadt, mit eigenem Anschluß an das öffentliche Verkehrssystem, mit gegeneinander sich bewegenden Rolltreppen, Rohrpostanlagen, Tausenden von Menschen, die dort die Schreibmaschinen zu gleichmäßigem Rattern brachten, ein Termitenbau, in dem es niemals Nacht werden mußte."

Dieser städtebauliche 'Brutalismus', der uns vielleicht an Le Corbusier erinnern soll, wird von Olenschläger mit geradezu "fanatischer Konsequenz" betrieben. Der größenwahnsinnige Immobilienspekulant hat bereits das Ziel erreicht, "die Architektur des ganzen Viertels für wertlos und abrißreif" erklären zu lassen, und nun ist es sein Bemühen, das Westend peu à peu aufzukaufen, um es dann durch seine kalte und funktionalistische Architektur zu ersetzen. Er muss die Gunst der Stunde nutzen: Die Trümmer des Krieges sind "weitgehend beseitigt", eine "Kulissenwelt" hat sich an ihre Stelle geschoben, in die Villen und Bauruinen sind Flüchtlinge aus den Ostgebieten einquartiert - und mit ihnen wird man wohl fertig noch werden.

Eduard Has, sein Kompagnon in diesem Geschäft, ist in diese Vision gar nicht eingeweiht. Überhaupt ist seine Tätigkeit in der Maklerfirma höchst unbestimmt, und es ist nicht erkennbar, inwieweit er - im Sinne einer geregelten Tätigkeit - am operativen Geschäft der Firma beteiligt ist. Er ähnelt in der merkwürdigen Bestimmungslosigkeit seines Alltags dem oben dargestellten 'bettlägrigen' Stephan Korn, dessen Lebensinhalt auch darin zu bestehen schien, sich selbst genug zu sein. Zwar hat er ein Büro in der Firma, doch die Sekretärin dort scheint nur Olenschläger zuzuarbeiten, welcher die Geschäftspolitik bestimmt. Von der Maklerei versteht Has nichts, und sie interessiert ihn auch nicht: Sein Name ist Has, und mit hasenhafter Unschuld und Ungeduld nimmt er lediglich die Infrastruktur der Firma in Anspruch. So lässt er sich von einem teuren Wiener Architekten ein Penthouse für seine Kunstsammlung bauen. Von Kunst übrigens versteht Eduard Has auch nichts, doch hat er einem Schweizer Kunsthändler die Frau ausgespannt, und dieser ist - quasi aus Gründen der Kompensation (oder soll man sagen: Rache?) - sein Berater beim Aufbau der privaten Bildersammlung geworden. Der Sammler und sein Berater sind eine exklusive und exquisite Beziehung eingegangen, die über viele Jahre besteht und die selbst dann noch fortbesteht, als Has an seiner Frau, der Exfrau des Kunsthändlers, kein Interesse mehr zeigt und sich eine Geliebte zulegt. Das Kapital für die Sammlung und das Penthouse entzieht Has übrigens der gemeinsamen Maklerfirma, wodurch er sich in die Hände seines Cousins Olenschläger begibt, der schließlich sein Schuldensaldo bei der Firma strategisch ausnutzt, um ihm die mühsam erworbene Sammlung wieder abzujagen.

Mosebach entfaltet hier ein komplexes System symbiotisch-parasitärer Beziehungen, die über einen langen Zeitraum bestehen, am allgemeinen Wohlstand der Nachkriegszeit partizipieren - und schließlich in sich zusammenstürzen. Wie gewonnen, so zerronnen, wie gebaut, so zerstört und wiederaufgebaut und erneut dem Verfall preisgegeben. Und immer beginnt es von vorn: Trödler machen mit den Trümmern der Wohlstandsgesellschaft fabelhafte Geschäfte, schlagen Gold aus "Gelerch" und Gerümpel und lassen im Sfumato dubioser Katakomben und weitläufiger Bunkersysteme verlorene Welten wieder in neuem Glanz auferstehen.

Am Ende durchschreiten die Figuren die "Talsohle" ihrer Beziehungen, erkennen den "Geist der Verwahrlosung", der ihr privates wie geschäftliches Treiben geprägt hat und nehmen "in vollkommener Gleichgültigkeit" die Irrtümer ihres Lebens zur Kenntnis. Aus dem Eingangsbild ist zu erschließen, dass es für sie keine Erlösung gibt. Mose, dessen Weidenkörbchen gesunken, dessen kleiner Körper geschunden ist, kann seine Mission, sein Volk nach Palästina zu führen, nicht mehr erfüllen: Hier ist der Weg von der Genesis bis zur Offenbarung radikal verkürzt, hier geht eine Welt zugrunde, ohne dass Gottes Gebote hätten wirksam werden können. Ein apokalyptisches Traumbild zeigt dies unmissverständlich:

"Überall war der Boden gerissen wie eine Wursthaut, und aus den Spalten schoß heißer Dampf und glühwürmchenhafter Funkenregen hervor, jeder Schritt federte unheimlich und ließ die Gespanntheit der Erdoberfläche spüren. In diesen nächtlichen, feurigen Weiten hatte gerade die Erde gebebt, und mit dem Schrecken war ein verheerender Verfall von Sitte und Moral einhergegangen."

Alfred Labonté, der Kanufahrer auf dem Main, war bislang Teil und Motor dieses nicht nur moralischen Verfalls. Er ist nun entschlossen, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen - er möchte "Seligenstadt erreichen" und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Er beschließt, "bald ein Ende zu machen", vielleicht in der ganz existentiellen Bedeutung des Wortes mit sich, seinem Leben - der eigene Tod wäre gleichbedeutend mit "Seligenstadt erreichen". Alfred lässt zwei Tanten, die ihn großgezogen haben, und eine schwangere Frau zurück: Ihr hätte er den "toten Säugling" vom Main gern gezeigt, denn sie hätte "vielleicht verstanden, was ihr damit gesagt werden sollte, denn in mancher Hinsicht, das wußte er, waren sie sich ähnlich. Fast kam es ihm vor, als habe er auf seiner Fahrt auf dem endlosen Fluß seinen soeben geborenen Sohn getroffen, der gleichfalls losgezogen war und sein Nest hinter sich gelassen hatte."

Ein werdender Vater also, der eine Kinderleiche im Main mit dem biblischen Mose vergleicht, der in ihm seinen Sohn erkennt, der erst in einigen Monaten zur Welt kommen wird, der entschlossen ist, alle Brücken hinter sich abzubrechen, dem soziale Bindungen nichts bedeuten. Wer berücksichtigt, was in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah, der empfindet vielleicht die Konsequenz von Mosebachs Bild: Die Zerstörungen, nicht nur der Städte, setzen sich in den Familien, im gesamten sozialen Raum fort, auch als logische Folge einer Politik, die keine Gebote kennt.

Mosebachs "Westend" kennt nur einen Spannungsbogen, der vom Anfang zum Ende reicht, und der wird aufgespannt durch die Frage, was aus Alfred, dem einsamen Kanufahrer aus dem Eingangsbild, eigentlich geworden ist. In der Literatur gilt das eherne Gesetz, dass der dargestellten Welt keine Figur verlorengehen darf. In der Goethezeit wird dieses Gesetz geradezu zu einer Frage der Theodizee erklärt: Spätestens am Ende eines jeden Textes bekommt eine jede Figur ihr Schicksal, selbst die, die dem Autor etwas aus dem Blickfeld geraten war. Ähnlich bei Mosebach: Alfreds Kanu wird gekentert aufgefunden, man erklärt ihn für tot. Sein Sohn, nach dem Vater Alfred genannt, kommt im August zur Welt, die Mutter stirbt bei der Geburt. Alfred der Zweite wird, wie schon sein Vater, von zwei alten Tanten aufgezogen, die - beide unverheiratet - in einem Haus im Frankfurter Westend wohnen und die Aufzucht ihres Großneffen als Experiment begreifen. Im Grunde sind sie froh, dass Alfreds Vater nicht mehr Teil ihres Lebens ist, denn er war ein gefährlicher Entwurzelter, der im Krieg Schreckliches erlebt und womöglich auch angerichtet hat, ein Kleinkrimineller, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Schiebereien Schande über das Haus Labonté gebracht hatte. Selbst seine Ehe war ein Missverständnis, und zum Familienvater fehlte ihm die dafür notwendige Solidität.

Sechs Wochen, nachdem Alfred augenscheinlich in den Main gefallen ist, wird er in der Nähe von Hannover "in einem gestohlenen Auto" aufgegriffen, danach verliert sich seine Spur für immer. Sein Lebenslauf bleibt unvollendet, die Frage nach der Theodizee, nach der Güte und Gerechtigkeit Gottes, beantwortet sich negativ. Sein Sohn Alfred schließlich, Repräsentant der väterlosen Generation, tritt sein Erbe an und wird dem Vater immer ähnlicher: Das "elende Ende" des Vaters vor Augen baut er sich seinen "Lebensturm".

Mosebachs Frankfurt ist ein ungewöhnliches Frankfurt: Sein Koordinatensystem wird weder durch den Auschwitz-Prozess noch durch die Frankfurter Schule, weder durch die Studentenrevolte noch durch Bankentürme geprägt. Mit Platons Begriff der "apeirokallia" als der "Unfähigkeit zur Schönheit" charakterisierbar, als Absenz der "hohen Form", als "überfülltes Implantat" in "bäuerlichem Land", emanzipiert sich die Metropole bei Mosebach als eigener Mesokosmos, in dem planmäßig Stadtvernichtung betrieben wird, mit fast phantastischen, jedenfalls aber irrwitzigen 'städtebaulichen' Vorhaben.

Und auch Mosebach emanzipiert sich - von Frankfurt als seinem primären Stoff. In Erzählungen und "Pasticci", in Feuilletons und Essays, in Brot- und Gelegenheitsarbeiten übt er in den achtziger Jahren kürzere Darstellungsformen ein, und mit seinem vierten Roman "Die Türkin" (1999), einer modernen Morgenlandfahrt, beweist er zum ersten Mal als Erzähler auf der Langstrecke Augenmaß und Erzählökonomie. Dort zieht ein wenig sympathischer Intellektueller aus dem herzenskalt-zugigen Westeuropa in den Orient, die Heimat Scheherazades. Anlass ist Pupuseh, die schöne Wäscherin von nebenan, die von ihrem gestrengen Oheim in die türkische Fremde zurückbefohlen wurde. Auf ihren Spuren verfällt er den Bergen Lykiens, seinen Bewohnern und Bräuchen und lernt, sich vom Kismet küssen zu lassen. Pupuseh freilich, sein Liebesideal, geht ihm am Ende verloren.

In seinem (nach "Ruppertshain", 1985) vierten Frankfurt-Roman "Eine lange Nacht" (2000), seinem fünften insgesamt, erzählt Mosebach die Geschichte eines gerade gescheiterten Jura-Studenten, der sich - nicht zuletzt dank seiner tüchtigen Sekretärin Bella und ihres windigen Italo-Gatten Fidi Lopez - zum erfolgreichen Geschäftsmann mausert. Das - pardon - banal Stoffliche des Romans überzeugt in der Durchführung, denn Ludwig Drais, der scheinbar weichliche, lebensuntüchtige 'Unternehmer', setzt seine Vorhaben mit äußerster Konsequenz durch. Und wenn Mosebach anhand Fidi Lopez, Drais' Mit- und Gegenspieler, den kalten Dreh dieser Geschichte inszeniert wie der gute Novellist den Wendepunkt seiner Geschichte, dann wird bedeutende Erzählkunst sichtbar. Respekt verdient auch sein Vermögen, zu seinen Figuren ein Verhältnis zu gewinnen, das gleichermaßen von Nähe und Distanz geprägt ist.

Die Hauptfigur seines Meisterstücks schließlich, des kleinen Romans "Der Nebelfürst" (2001, Taschenbuchausg. 2003), ist historisch verbürgt. 1898 nahm der Journalist Theodor Lerner im Auftrag eines Hamburger Syndikats die Hälfte der im Nordmeer gelegenen Bäreninsel formal in Besitz. Seine Beweggründe liegen eher im Sfumato der Hochstapelei und des Betruges als im Bereich der Machtpolitik der damaligen Kolonialmächte. Mosebach wählt daher eine elegante Lösung, Lerners Abenteuer zu motivieren. Er schubst ihn in die Fänge einer Betrügerin und ihres missratenen Sohnes. Die reife Matrone glaubt nämlich, die Bodenschätze dieser entlegenen Polarmeerinsel leichtsinnigen Investoren andrehen zu könen. Und in ihrem Schlepptau wird Lerner zum betrogenen Betrüger.

Es ist Mosebachs Kunst, eine Hauptfigur agieren zu lassen, die nicht voll im Bilde ist: Ihr ist die Erzählperspektive angenähert, obgleich Theodor nicht auf der Höhe der Ereignisse agiert und zeitweise zu glauben scheint, die Bären-Insel sei ein reelles Geschäft. Doch liegt in der Erzählung die geheime Teleologie einer Ereignisfolge, die die Figuren - und damit auch Lerner - vom Zweifel der Existenz zur Erkenntnis der Liebe führt.

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Martin Mosebach: Die schöne Gewohnheit zu leben. Eine italienische Reise.
dtv Verlag, München 1999.
188 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3423126590

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Martin Mosebach: Die Türkin.
Aufbau Verlag, Berlin 1999.
240 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3351028628

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Martin Mosebach: Eine lange Nacht. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2000.
600 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3351028954

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Martin Mosebach: Das Grab der Pulcinellen. Erzählungen Pasticci Phantasien.
dtv Verlag, München 2001.
176 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3423128631

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Martin Mosebach: Der Nebelfürst. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
352 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3821845066

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Martin Mosebach: Das Bett. Roman.
dtv Verlag, München 2002.
510 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3423130695

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Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind.
Karolinger Verlag, Wien 2002.
158 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3854181027

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Martin Mosebach: Mein Frankfurt.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Rainer Weiss.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
165 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 345834571X

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Martin Mosebach: Der Nebelfürst. Roman.
dtv Verlag, München 2003.
304 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3423131195

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Martin Mosebach: Eine lange Nacht. Roman.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2003.
575 Seiten, 10,95 EUR.
ISBN-10: 3746619742

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Martin Mosebach: Ruppertshain. Roman.
dtv Verlag, München 2003.
476 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3423131594

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Martin Mosebach: Westend. Roman.
dtv Verlag, München 2004.
820 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 342313240X

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