Was wollte Ulrike Meinhof von Reich-Ranicki?

Zwei Gespräche und merkwürdig Neues über eine ältere Geschichte

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Kürzlich veröffentlichte die "Netzeitung" ein Gespräch Bettina Röhls, der Tochter Ulrike Meinhofs, mit Marcel Reich-Ranicki. Die Journalistin folgte damit gleichsam ihrer Mutter. Diese hatte, ebenfalls als Journalistin, vier Jahrzehnte zuvor den schon damals prominenten Literaturkritiker um ein Interview über das Warschauer Getto gebeten.

In seiner Autobiografie "Mein Leben" zeigt sich Reich-Ranicki von der ersten Begegnung mit Ulrike Meinhof nachhaltig beeindruckt. Was da zu lesen ist und was da aus dem Jahr 1964 erinnert wird, bekommt jetzt durch das Gespräch mit der Tochter einen anderen, beklemmenden Sinn.

Dreißig Minuten sollte das Interview damals dauern. "Ihre Fragen waren exakt und intelligent, sie kreisten um ein zentrales Problem: Wie konnte das geschehen? Kein einziges Mal haben wir die Aufnahme unterbrochen. Als das Gespräch beendet war, sah ich zu meiner Verblüffung, daß wir beinahe fünfzig Minuten geredet hatten. Wozu brauchen Sie soviel? Sie antwortete etwas verlegen: Sie habe zum Teil aus privatem Interesse gefragt. Ich möge ihr den Wissensdurst nicht verübeln. Ich wollte etwas über sie erfahren. Aber sie hatte es jetzt sehr eilig. Ich schaute sie an und sah, daß sie Tränen in den Augen hatte."

Ulrike Meinhof habe sich, bevor sie in den terroristischen Untergrund abtauchte, seinem Gedächtnis tief eingeprägt. "Könnte dies damit zu tun haben, daß sie die erste Person in der Bundesrepublik war, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Getto informiert zu werden?" Zwischen ihrem späteren Weg in den Terrorismus und ihrem "brennenden Interesse für die deutsche Vergangenheit", das sie in dem Gespräch gezeigt habe, bestehe vielleicht ein Zusammenhang.

Was Bettina Röhl, informiert durch den Vater Klaus Röhl, ihrem Gesprächspartner über die Hintergründe des damaligen Interviews eröffnete, ist desillusionierend. Die illegale West-KPD mit Sitz in der DDR hatte es veranlasst, und zwar auf Ersuchen der Kommunistischen Partei in Polen. Die Journalistin führte das Gespräch demnach als Mitglied der Partei und damit indirekt als Agentin der Stasi. "Ulrike Meinhof wollte irgendetwas aus Ihrer Zeit im Warschauer Getto herausbekommen. Dies war der Grund, weshalb sie Sie damals um das Interview gebeten hat." Was Sie denn habe wissen wollen, fragte Reich-Ranicki und erhielt die Antwort: "Dass Sie im Warschauer Getto irgendwie kollaboriert hätten."

An dieser Geschichte ist einiges glaubwürdig, manches unwahrscheinlich. Schon kurz vor dem Interview war es zwischen der KPD und den beiden führenden Köpfen der von ihr finanzierten Zeitschrift "Konkret" zum Bruch gekommen. Die Partei hatte die Zahlungen eingestellt, als ein "Konkret"-Artikel Sympathien mit den Regimegegnern in Prag bekundete. Klaus Röhl, der Herausgeber der Zeitschrift war nicht bereit, der Forderung der Partei nachzugeben und sich von dem Autor des Artikels zu trennen. Dass seine Frau und Mitarbeiterin Ulrike Meinhof nach diesem Zerwürfnis mit der Partei noch einen Auftrag für sie ausführte, ist kaum zu glauben.

Glaubwürdig ist jedoch Anderes: Schon 1949 suchten einflussreiche Funktionäre in der Kommunistischen Partei Polens nach Gründen, den erfolgreichen und schon deshalb unbeliebten Reich-Ranicki aus der Partei auszuschließen und ihn von seiner damaligen Tätigkeit als Konsul und für den Geheimdienst zu suspendieren. In einer Personalakte des polnischen Sicherheitsministeriums ist in diesem Zusammenhang auch von seiner "unklaren Rolle im Getto" die Rede.

"Unklar" war die Rolle aller, die wie Reich-Ranicki im "Judenrat" des Warschauer Gettos arbeiteten. Er hat darüber selbst in seiner Autobiografie geschrieben und seine eigene Tätigkeit als Chefdolmetscher als "heikel" bezeichnet. Die Arbeit des von den Deutschen eingerichteten Judenrates stand unter dem Zwang zu ständigen Kompromissen zwischen deutschen und jüdischen Interessen. Der Rat wurde von den Juden wie von den Deutschen gebraucht und zugleich beargwöhnt. Der Judenrat arbeitete gegen die Deutschen und zugleich unter ihrem Diktat. Die prekäre Situation derer, die ihm angehörten, konnte tragische Dimensionen annehmen. So auch im Fall Marcel Reich. Der sachliche Ton der Autobiografie meidet allerdings jedes tragische Pathos. Am 22. Juli 1942 diktierte Reich einer Mitarbeiterin seine polnische Übersetzung des Todesurteils, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte. Es war ihm selbst wenige Stunden vorher von einem Deutschen diktiert worden, von Hermann Höfle, der die Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka vom 22. Juli bis September 1942 organisierte und überwachte.

Einen Tag später nahm sich Adam Czerniaków, der an der Spitze des Judenrates und damit des Gettos stand, das Leben. Reich-Ranickis Autobiografie widmet ihm ein eigenes Kapitel. Czerniaków entzog sich mit seinem Freitod der Aufgabe, die ihm die Nationalsozialisten zugedacht hatten: Er "sollte der Henker der Warschauer Juden sein." Das Bild, das man sich im Getto von diesem Mann machte, beschreibt die Autobiografie so: "Er war im Getto nur von wenigen geachtet, von vielen wurde seine Tätigkeit mißbilligt; er wurde sogar verabscheut und gehaßt. Denn man machte ihn für die barbarischen Maßnahmen der Deutschen mitverantwortlich, zumal kaum jemand wußte, daß er sich nahezu täglich bemühte, das Elend der Bevölkerung zu mildern - was in den meisten, doch nicht in allen Fällen vergeblich war."

In Czerniakóws Umgebung gab es einige, die als Gestapo-Agenten galten. Die Deutschen zwangen Czerniaków, mit diesen zusammenzuarbeiten. Zu den zahlreichen Kollaborateuren im Judenrat gehörte er selbst jedoch nicht. "Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein." So Reich-Ranicki über Czerniakóws Position. Dieser verabschiedete sich von seiner Frau mit den Sätzen: "Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben."

Wer im Judenrat gearbeitet hatte und überlebte, konnte später leicht dem Verdacht ausgesetzt sein, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Sogar ein Mann wie Reich-Ranicki, dessen Mutter, Vater und Bruder von den Deutschen ermordet worden waren, blieb davon nicht verschont. Die Gegner Reich-Ranickis in der Kommunistischen Partei stellten Nachforschungen an, um ihre Verdachtsmomente zu erhärten. Im November 1951 forderte die Parteikontrollkommission von dem Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau ein Gutachten "über Ranickis Benehmen und Arbeit im Ghetto" an. Eine Woche später erhielt sie einen Bericht, in dem zu lesen war: "Marceli Reich arbeitete im Warschauer Judenrat als Hauptdolmetscher für Deutsch. Belastendes über ihn und seine Tätigkeit in dieser Behörde ist uns nicht bekannt." Der Bericht bestätigte darüber hinaus die Aussagen Reich-Ranickis, er habe dazu beigetragen, der polnischen Untergrundbewegung und der Exilregierung in London Dokumente über die Situation im Getto in die Hände zu spielen. In einem Teil des Untergrundarchivs, so das Gutachten, seien Kopien von Dokumenten mit Reichs Signatur (mr) gefunden worden.

Noch in den sechziger Jahren, das legen die neuen Informationen von Vater und Tochter Röhl jetzt nahe, nachdem Reich-Ranicki Polen längst verlassen hatte und für immer in die Bundesrepublik ausgereist war, scheint die Kommunistische Partei Polens weiterhin darum bemüht gewesen zu sein, Reich-Ranicki mit ihren alten Verdächtigungen und Denunziationen zu verfolgen. Schon wenige Monate nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik hatte das polnische Innenministerium mit Hilfe der Stasi nach seinem Aufenthaltsort gefahndet. Welche Ziele diese Nachstellungen hatten, bleibt dunkel. Dass die Partei, wie Bettina Röhl glaubt, gehofft haben könnte, über Ulrike Meinhof von Reich-Ranicki herauszubekommen, er habe im Getto mit den Deutschen kollaboriert, ist allerdings ziemlich absurd. Aber was wollte sie dann? Was wollte Ulrike Meinhof selbst von ihm? Und warum hat sie das Interview, das sie nach Reich-Ranickis Erinnerung mit so großem "persönlichen Interesse" und "Wissensdurst", so "aufrichtig und ernsthaft" und mit so viel emotionaler Beteiligung geführt hatte, nicht veröffentlicht?

Was Bettina Röhl und Reich-Ranicki dazu mutmaßen, überzeugt wenig oder bleibt vage. Bettina Röhl meint, Ihre Mutter habe damals nach den Hinweisen der KPD "eine große Story über den in KP-Kreisen als reaktionär betrachteten Reich-Ranicki" machen wollen. Nachdem sie nicht erfahren hatte, was sie zu erfahren hoffte, habe sie das Interview nicht publiziert. Zwei Wochen nach ihrem Gespräch mit Reich-Ranicki fragte Bettina Röhl noch einmal nach. Die gekürzte Interview-Fassung der "Netzeitung" enthalten den Wortlaut dieses Nachgesprächs nicht: "Welchen Grund könnte die polnische KP gehabt haben, so etwas anzuzetteln?" Sie bekam die Antwort: "Das ist doch ganz normal. Wenn so einer wie ich weggeht in den Westen aus einem kommunistischen Staat, dann versucht man allerlei gegen ihn in die Wege zu setzen und bekannt zu machen."

Da bleiben viele Fragen offen, politische und persönliche. War das Interview der Versuch, einem abtrünnigen und im Westen zum Starkritiker aufgestiegenen Exkommunisten irgendwie zu schaden? Einen Ansatzpunkt zu finden, um ihn erpressbar zu machen und seine vielfältigen Kontakte mit oppositionellen Schriftstellern für die Interessen der kommunistischen Partei einzusetzen? Als so "reaktionär" allerdings, wie Röhl es darstellt, galt Reich-Ranicki während der sechziger Jahre in linken Kreisen nicht. Immerhin war er es, der häufig über Schriftsteller aus der DDR schrieb. Das war damals in der Bundesrepublik ganz ungewöhnlich und führte dazu, dass ihm die "F. A. Z." die weitere Mitarbeit untersagte. Hoffte man im Osten vielleicht sogar darauf, ihn für sich, mit oder ohne Druckmittel, zurückzugewinnen?

Reich-Ranicki, das zeigen seine Reaktionen auf Bettina Röhls Eröffnungen, will sich die gute Erinnerung an die erste Begegnung mit Ulrike Meinhof nicht nehmen lassen. Ob die neuen Informationen seine Meinung über Ulrike Meinhof geändert hätten, fragte Bettina Röhl. "Nein, das hat gar nichts geändert, überhaupt gar nichts. [...] Meine Beurteilung über das Gespräch mit Ulrike Meinhof ist so, wie es in meinem Buch steht." Die Tochter wiederum will durch Reich-Ranickis Erinnerungen ihr schlechtes Bild von einer schon damals eiskalt und kalkuliert operierenden Mutter nicht in Frage stellen. Dass den divergierenden Sichtweisen vielleicht konträre und wechselnde Seiten in der Person Ulrike Meinhofs entsprechen, mag keiner in Erwägung ziehen.

So dunkel vieles an diese Episode bleibt, so liefert sie doch eine erhellende Momentaufnahme von der bizarren Szenerie intellektueller Kommunikation inmitten des kalten Krieges. In dem völlig zersplitterten Kräftefeld der Kultur redete oder feierte man miteinander und kämpfte gegeneinander. Keiner konnte sicher sein, vom anderen nicht getäuscht und denunziert zu werden. Lebensgeschichten misstrauisch zu durchforschen oder zu verfälschen war an der Tagesordnung. Noch die heutigen Erinnerungen an diese Welt von gestern bleiben davon belastet.

Der Artikel erschien in einer gekürzten Fassung und unter dem Titel "Warum weinte Ulrike Meinhof " zuerst in der Frankfurter Rundschau vom 24.4.04

Die vollständige Fassung des Interviews von Bettina Röhl mit Reich-Raniki ist in literaturkritik.de hier zu finden.