Vom "Nomenclator" zum "Namenbüchlein"

Peter O. Müllers Studie über frühneuzeitliche Wörterbücher

Von Andreas GardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Gardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Studie ist als Habilitationsschrift an der Universität Erlangen-Nürnberg entstanden, ihr Gegenstand ist die Untersuchung deutscher lexikographischer Werke des 16. Jahrhunderts unter typologischen, pragmatischen und kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten. Typologische Aussagen über die Wörterbücher des Corpus basieren für den Verfasser auf der Untersuchung ihrer Makro- und Mikrostrukturen (Lemmatisierungsverfahren, Artikelaufbau etc.), des jeweiligen Vor- und Nachspanns und ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Unter die pragmatischen Aspekte werden die Autoren und ihre Intentionen gezählt, daneben die Adressaten der Wörterbücher. Die kulturgeschichtliche Verortung der Texte bedeutet für den Verfasser vor allem die Berücksichtigung ihres bildungsgeschichtlichen Kontextes, speziell die Bezüge zum zeitgenössischen Gedankengut des Humanismus.

Mit dieser Konzeption ordnet sich die Untersuchung in eine pragmatisch orientierte Sprachgeschichtsforschung ein. Sie ist nicht vorwiegend auf die Beschreibung historischer Strukturen des Deutschen gerichtet, sondern stellt ihre Befunde in den kulturellen Raum, betrachtet Sprachgeschichte also vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, politischer, ideengeschichtlicher, religionsgeschichtlicher, kunstgeschichtlicher, alltagsgeschichtlicher und anderer kultureller Zusammenhänge. Innerhalb dieser grundsätzlichen Ausrichtung sind wiederum sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen denkbar. Müller legt in seiner Untersuchung den Akzent deutlich auf die differenzierte und genaue Beschreibung der Strukturen der untersuchten Wörterbücher, und er tut das - um dies vorwegnehmend festzustellen - ungemein kenntnisreich und im stets sicheren Zugriff auf das lexikographische Material.

Schon die Gliederung der Arbeit zeigt die Umsicht des Verfassers bei der Erschließung seines Corpus von etwa 120 lexikographischen Texten. Im Zentrum stehen sechs Kapitel: alphabetisch angelegte Wörterbücher, nach Sachzusammenhängen gegliederte Wörterbücher, morphologisch strukturierte Wörterbücher, Reimwörterbücher, Fachwörterbücher und Eigennamenwörterbücher. Diese umfangreichen übergeordneten Kapitel werden durch Kapitel von wenigen Seiten u. a. zur Fremdwortlexikographie, zu Vor- und Nachspann der Wörterbücher, zu ihren Titeln und zur "Wörterbuchpragmatik" ergänzt. Zu den lexikographischen Großgruppen, die in den längeren Kapiteln behandelt werden, treten in einzelnen Fällen Untergruppen, nach Sprachen differenziert (mit dem Deutschen bzw. dem Lateinischen oder dem Französischen als Lemmasprache) oder nach Funktionen. Das Kapitel zur Sachgruppenlexikographie etwa behandelt zahlreiche Wörterbücher unter dem Stichwort "Schullexikographie". Auch begegnet das Prinzip der Gliederung nach semasiologischen und onomasiologischen Gesichtspunkten an unterschiedlichen Stellen, unter anderem bei der Differenzierung der Fachwörterbücher. Dass man ein derartiges Corpus immer auch anders strukturieren kann, ist offensichtlich. Müllers Gliederung stellt jedenfalls eine in der Sache plausible und hinsichtlich der Präsentation gut nachvollziehbare Möglichkeit dar.

Den eigentlichen Kern der Arbeit bildet die detaillierte Untersuchung einzelner Wörterbücher. Dazu greift Müller auf die Begrifflichkeit der Metalexikographie zurück, wie sie sich auch im mehrbändigen Handbuch "Wörterbücher" der Reihe der "Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK)" findet. Die Strukturbeschreibungen werden sehr gekonnt durchgeführt, man spürt die Routine des Verfassers im Umgang mit dem Corpusmaterial. Im Hinblick auf diese Strukturbeschreibungen und auf die philologische Gediegenheit des gesamten Arbeitens ist Müllers Untersuchung erstklassig. Letzteres beginnt mit der Zusammenstellung des Corpus, das nach räumlichen, strukturellen, typologischen und thematischen Gesichtspunkten gestreut ist. Müllers Begründungen für die Nichtberücksichtigung von Wörterbüchern (z. B. bei nur handschriftlicher Vorlage, bei Unterordnung des lexikographischen Teils eines Drucks unter einen Textteil, der das eigentliche Anliegen des Verfassers repräsentiert, etc.) sind einleuchtend. Einzig angesichts des Ausschlusses von Werken aus dem nichtdeutschen Sprachraum könnte man auf die zahlreichen, auch auf die Klammer des Lateinischen zurückzuführenden Parallelen zwischen den unterschiedlichen lexikographischen Traditionen und Praktiken im Europa der frühen Neuzeit hinweisen. Andererseits geht Müller auf solche Parallelen in den Einzelanalysen gelegentlich ein und greift sie gegen Ende der Arbeit nochmals geschlossen, wenn auch kurz, auf.

Alle Wörterbücher des Corpus werden im Anhang der Arbeit mit ihren vollen Titeln, ihren Standorten und weiteren wichtigen Angaben aufgeführt. Ein zusätzliches Titelregister ermöglicht den gezielten Zugriff auf individuelle Wörterbücher; ergänzt wird es durch Register der Personen, der Drucker und Verleger, der Druckorte und durch ein Sachregister. All das ist so sorgfältig gemacht, dass Müllers Buch schon deshalb zu einem Standardwerk für die Erforschung der Lexikographie des weiteren 16. Jahrhunderts werden wird. Wer an dem Thema arbeitet, wird an dieser Arbeit nicht vorbeikommen.

Die große Detailkenntnis des Verfassers und seine genauen Beschreibungen der Wörterbuchstrukturen stellen also die eigentliche Stärke der Untersuchung dar. Zugleich jedoch, das sei kritisch angemerkt, berührt die Studie einige zentrale Fragen des Themas kaum. Diese Fragen liegen im Bereich der sprachtheoretischen und kulturhistorischen Implikationen des Untersuchungsgegenstandes. Wie die Lexikographie einer jeden Epoche impliziert auch die Lexikographie der frühen Neuzeit eine bestimmte Konzeption von Sprache und ihrer richtigen bzw. angemessenen Verwendung. Diese Konzeption kommt sowohl in der strukturellen Anlage der Wörterbücher selbst zum Ausdruck als auch, immer wieder von den Verfassern selbst explizit gemacht, in den Vorworten der Wörterbücher. Hier finden sich Äußerungen zu den Varietäten des Deutschen, zu konfessionellen Bezügen, zu Sprachvorbildern, zur Stellung des Deutschen gegenüber dem Lateinischen und zu anderen Themen der zeitgenössischen Beschäftigung mit dem Deutschen. Zwar zitiert Müller ausführlich aus diesen Vorworten und weist auch eingangs auf die beabsichtigte kulturgeschichtliche Kontextualisierung der zeitgenössischen Lexikographie hin, doch greift er gerade jene Aspekte, die den sprachtheoretischen Hintergrund der Werke bilden, kaum auf. Am ehesten geschieht das noch in den Zusammenfassungen zu den jeweiligen Kapiteln, doch auch dort nur sehr am Rande. Zu dieser Beobachtung fügt sich, dass dem Thema "Wörterbuchpragmatik: Autoren - Adressaten - Benutzungsintentionen" zwar ein eigenes Kapitel gewidmet ist, das dann aber lediglich drei Seiten umfasst.

Nicht nur aus den Vorworten, sondern auch aus der strukturellen Anlage der Wörterbücher lassen sich sprachtheoretische Positionen erschließen. Jedes Wörterbuch setzt einen Wortbegriff voraus, jede semantische Angabe ein Konzept der Bedeutung, jede Synonymik eine Vorstellung von Synonymie. Diese Aspekte und die mit ihr verknüpften zeitgenössischen Diskussionen über die res-verba-Thematik, den sprachtheoretischen und sprachpraktischen Niederschlag des ordo-Konzepts oder die für die Schullexikogaphie relevanten sprachdidaktischen Fragen werden in der Untersuchung entweder gar nicht berührt oder nur gestreift.

Man mag einwenden, dass eine Studie von 668 Seiten Umfang nicht auch noch die sprachtheoretischen und kulturhistorischen Hintergründe des engeren Gegenstandes der Untersuchung behandeln muss. Doch zum einen formuliert der Verfasser selbst diesen Anspruch in den einleitenden Passagen seiner Arbeit. Zum anderen erhalten die auf die Wörterbuchstrukturen bezogenen Beobachtungen erst durch diese Kontextualisierung ihre eigentliche kultur- und damit sprachgeschichtliche Bedeutung.

Dass diese wichtige Dimension des Themas in der Untersuchung kaum berücksichtigt wird, ist also zu bedauern. Die Leistung des Verfassers im Hinblick auf die Klassifizierung und Beschreibung der zeitgenössischen Wörterbücher - damit soll der Tenor des ersten Teils dieser Besprechung nochmals aufgegriffen werden - bleibt davon unberührt. "Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts" wird, wie bereits angedeutet, ein zuverlässiges und unverzichtbares Referenzwerk für die Forschung der kommenden Jahre sein.

Titelbild

Peter O. Müller: Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2001.
668 Seiten, 138,00 EUR.
ISBN-10: 3484360496

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