Mütterlichkeit als Frauenideal der Tiefe

Annegret Stopczyk-Pfundsteins Reanimationsversuch von Helene Stöckers Neuer Ethik

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"[D]aß fachfremd Philosophierende durch ihren geringen historischen und begrifflichen Wissensstand eher in der Lage sind, jene philosophischen Fragestellungen ihrer Zeit zu begreifen und zu bearbeiten, als wissenschaftlich Philosophierende", ist eine der zahlreichen steilen Thesen, die Annegret Stopczyk-Pfundstein in ihrer Monographie über Helene Stöckers "Neue Ethik" zur Diskussion stellt. Ihr liegt ein denkbar weiter Philosophiebegriff zugrunde, der dafür von umso dürftigerem Inhalt ist. "Nicht nur lediglich ein vom Lebensalltag abstrahierendes Reden in philosophischen Fachbegriffen" gilt der Autorin als philosophisch, sondern auch "verschiedene Arten des Redens, Spürens und Verhaltens", die ihr zufolge "in gleicher Weise als philosophierende Tätigkeiten anerkannt werden" können.

Ohne das Risiko zu scheuen, ihre philosophische Urteilsfähigkeit zu trüben, hat sie sich dennoch ein wenig in der Philosophiegeschichte umgetan und Stöckers Spuren folgend bei Dilthey, Kant, Simmel und Kierkegaard vorbeigeschaut, um schließlich ebenso wie diese Nietzsche als einen der wichtigsten Philosophen auszumachen. Zumindest sei er "der Moralphilosoph schlechthin" gewesen. Daher, und weil Helene Stöcker - wie die Autorin sicher zu Recht feststellt - eine "Nietzscheanerin" war, in deren Werken Nietzsche "als Denker im Hintergrund so präsent, wie bei keiner anderen Denkerin ihrer Zeit" gewesen sei, gilt ihm ein nicht unbeträchtlicher Teil der vorliegenden Arbeit. So nimmt Stopczyk-Pfundstein ihn in einem umfangreichen Kapitel - ebenso wie zuvor in einem andern Werk schon Otto Weininger ("Ich würde Weininger keinen Frauenhasser nennen") - gegen den Vorwurf der Misogynität in Schutz und zieht als Beleg ausgerechnet immer wieder Stellen aus Elisabeth Förster-Nietzsches Buch "Friedrich Nietzsche und die Frauen seiner Zeit" (1935) heran. Auch Nietzsches Schwester selbst sei ein Opfer misogyner Männern geworden, deren "frauenverachtendes Ressentiment" eine der Ursachen für "die gänzliche Verwerfung ihrer Bemühungen" sei, "das Werk ihres Bruders zu retten".

Nietzsche seinerseits gelte wohl darum als Frauenhasser, so mutmaßt die Autorin, weil ihn "misogyn urteilende Männer" für ihre Ressentiments gegenüber Frauen "instrumentalisieren". Tatsächlich jedoch habe er nicht nur eine "herausragende Fähigkeit zur Freundschaft mit Frauen" sondern auch eine "Kenntnis von Frauen" besessen, die "ungewöhnlich bei einem Philosophen" sei. Darum, so die Autorin weiter, "liebte und ersehnte [er] den freien Geist, auch in Frauen". Warum wurde er dann aber fuchsteufelswild und beschimpfte Helene Druskowitz Dritten gegenüber auf das übelste, nachdem sie sich nicht als die erhoffte Schülerin, sondern als selbständiger und freier Geist entpuppte, die es wagte, ihn öffentlich zu kritisieren. Diese Reaktion passt sehr viel besser zu Nietzsches unmissverständlicher Erklärung, dass "die geistige Kraft einer Frau am besten dadurch bewiesen [wird], dass sie aus Liebe zu einem Mann und dessen Geiste ihren eigenen zum Opfer bringt und dass trotzdem ihr auf dem neuen, ihrer Natur ursprünglich fremden Gebiete, wohin die Sinnesart des Mannes sie drängt, sofort ein neuer Geist nachwächst", als die Sehnsucht nach dem freien und selbständigen Frauengeist, mit dem die Autorin Nietzsche gerne schmücken möchte. Möglich, dass ihr das Zitat entgangen ist. Jedenfalls hat sie Nietzsches Schriften offenbar nicht immer sehr aufmerksam gelesen. So zumindest ließe sich erklären, dass sie ihren Lesenden mitteilt, er habe in der "Fröhlichen Wissenschaft" verkündet, "[n]ur als ästhetisches Phänomen" sei "das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt." Doch findet sich an der von Annegret Stopczyk-Pfundstein angegebenen Stelle nichts dergleichen. Tatsächlich stammt das Zitat aus der "Geburt der Tragödie" von 1872. Zehn Jahre später äußerte sich Nietzsche in der "Fröhlichen Wissenschaft" lange nicht mehr so enthusiastisch, sondern vermerkte ernüchtert: "Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich".

Auch ihre Zitierweise anderer Philosophen ist nicht immer ganz unbedenklich. So schreibt sie Adorno etwa den Satz "Ich bin nicht für die Praxis meiner Theorien zuständig" zu, der in seiner stilistischen Plumpheit so gar nicht zu dem führenden Kopf der Kritischen Theorie passen will, der bekanntlich ebenso eloquent sprach wie er schrieb. Als Quelle des Zitates gibt sie an, sie kenne es vom Hörensagen: "Dieser Satz wurde um 1970 in den Gesprächen Frankfurter StudentInnen zitiert, in denen sich die Autorin als Schülern befand."

Sollte sich Stopczyk-Pfundstein Helene Stöckers Werken mit der gleichen Sorgfalt widmen, wie denjenigen Nietzsches, Adornos oder auch Schopenhauers, dessen Philosophie sie nachsagt, sie habe "ein vom Buddhismus her inspiriertes 'Nichts' nach dem Tode" angenommen, so dürfte das den Wert ihrer Monographie auch in ihrem zentralen Anliegen erheblich mindern. Jedenfalls ist ihre Feststellung, dass Stöcker "die erste promovierte Philosophin Deutschlands" sei, insofern ungenau, als Stöcker zwar Deutsche war, allerdings in der Schweiz promovierte. Zutreffend ist jedoch zweifellos, dass es sich bei ihr um "eine der maßgeblichen TheoretikerInnen der Sexualreformbewegung" handelt, wobei Stopczyk-Pfundstein ebenfalls zu Recht darauf hinweist, dass die Sexualreformbewegung und die Frauenbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts "nicht als dasselbe abgehandelt" werden dürfen. Darum aber gleich anzuzweifeln, dass Stöcker eine "Frauenrechtlerin" gewesen ist, ist selbst etwas zweifelhaft. Immerhin trat Stöcker als führende Vertreterin der Sexualreformbewegung für das uneingeschränkte Recht der Frau auf (uneheliche) Mutterschaft ein, dass neben dem Frauenstimmrecht eine der zentralen Forderungen der damaligen Frauenbewegung war. Und so rechnet Stopczyk-Pfundstein Stöcker auch gerade mal zehn Seiten, nachdem sie ohne einen Beleg anzuführen behauptet, dass diese "sich mit ihrem 'Bund für Mutterschutz und Sexualreform' nicht zur Frauenbewegung gezählt" habe, zum "'Lager' der Frauenbewegung" um Hedwig Dohm, Käte Schirrmacher, Adele Schreiber und Anita Augsburg.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Monographie steht jedoch nicht Stöckers Verhältnis zur Frauenbewegung sondern ihre "Neue Ethik", die nur als ein über 400 Schriften verstreutes Puzzle vorliege, und von Stopczyk-Pfundstein als "eine Art 'Liebesphilosophie'" interpretiert wird, womit sie sicher nicht ganz verkehrt liegt, auch wenn sie ausdrücklich keinen Anspruch auf die Deutungshoheit der Werke Stöckers erhebt, sonder vielmehr davon ausgeht, "daß jemand anders vielleicht von anderen Punkten aus die Puzzleteile ebenfalls plausibel zusammenlegen könnte".

Stöckers Liebesethik vorgeschaltet ist eine normative Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, der gemäß vier Merkmale eine Persönlichkeit auszeichnen: Selbstbestimmung, eine eigene Lebensaufgabe, eine "selber 'gebaute'" Weltanschauung und schließlich das Streben, die eigenen ethischen Ideen zu verwirklichen. Hat sich ein Mensch diese formalen Merkmale erarbeitet, so sagt dies allerdings noch nichts über die ethische Qualität der Ziele, die er anstrebt. Das "große Ziel", auf das sich die Kraft einer Persönlichkeit richten soll, ist für Stöcker nun - zumindest in der Interpretation von Stopczyk-Pfundstein -, "die 'LIEBE' zwischen den Menschen zu vertiefen", wobei Stöcker unter der in Majuskeln geschrieben "LIEBE" ein "vernunftgewirktes" Gefühl versteht, das - ähnlich wie die Persönlichkeit - aus vier Momenten besteht: der Lebensliebe, der Menschenliebe, der Geschlechtsliebe (an der sich in "Freier Ehe", nicht in "Freier Liebe" zu erfreuen sei) und schließlich der Mutterliebe, die gewissermaßen sowohl das Zentrum von Stöckers Liebesethik als auch ihres politischen Engagements darstellt.

Zwar versichert Stopczyk-Pfundstein, dass Stöckers Engagement für Mutterschutz "nicht mit einer Idealisierung von Mutterschaft oder 'Mutterkult' gleichgesetzt" werden dürfe, doch überzeugt das kaum, sah Stöcker in Mütterlichkeit doch nicht nur ein mystisch anmutendes "Frauenideal der Tiefe" und propagierte, das die Wahl auf einen Mann fallen müsse, "von dem sie [die Frau] Kinder möchte", wie Nietzsche es "so fein" ausgedrückt habe, sondern erwartete sich für ihre Geschlechtsgenossinnen, wie Stopczyk-Pfundstein formuliert, "durch die Neue Mutter ein freieres Leben als Frau in jeder denkbaren Hinsicht". Überhaupt - so nun wieder Stöcker selbst, sei die Welt "verloren", wenn "die Frau" nicht lerne, "in einem höheren aktiveren Sinne Frau und Mutter zu sein als bisher" und dieses "ihr höchstes Sein in der Welt" zur "vollen Wirkung" bringe. Eine Auffassung, die man wohl kaum anders denn als Mutterkult bezeichnen kann.

Stopczyk-Pfundstein beschließt ihr Buch mit einem Blick auf die, wie sie schreibt, "Genderstudies" und einem Vergleich von Helene Stöckers Neuer Ethik mit der "neueren feministischen Ethik", von der sie gerne im Singular spricht, als handele es sich um eine monolithische Theorie. Wie vielfältig und kontrovers der Diskurs gegenwärtiger feministischer Ethiken tatsächlich ist, kann man etwa bei Saskia Wendel nachlesen (vgl. literaturkritik.de 5/2003).

"Im Bereich der 'Genderstudies'" geht es, so Stopczyk-Pfundstein, um die "Bedingung der Konstruktion der Geschlechtsidentität", während "der 'Sex'" nur eine "geringere Rolle" spiele. Die "extremste 'Gender-Theorie'" vertrete Judith Butler. Zwar wolle sie ebenso wie Stöcker "den Dualismus zwischen Geist und Körper überwinden", doch bleibe sie mit ihrer Kritik an den herrschenden Normen der Geschlechtsidentität im "Dualismus der englischen Sprache zwischen 'sex' und 'Gender' zugunsten des 'Gender' befangen". Krasses Unverständnis verrät Stopczyk-Pfundstein, wenn sie zu berichten weiß, dass die "Genderstudies" Körpererfahrung "immer als schon vorgedacht" interpretieren, und einwendet, dass die Körperlichkeit "bewusste Erfahrung initiieren" könne. Der von Gender-Theoretikerinnen vertretene "radikal Konstruktivismus" widerspreche zudem der "alltäglichen Durchschnittserfahrung, daß wir auch körperlich zu Interpretationen anregt werden". Kurz: Die "Idee der Konstruierbarkeit der Geschlechtsidentität" negiere "die Existenz als körperlich geborene Lebewesen zugunsten des seit der griechischen Antike von den Philosophen glorifizierten 'autonomen Individuums'". Nachdem Stopczyk-Pfundstein ihren Pappkameraden dergestalt aufgebaut hat, schlägt sie mit Verve auf ihn ein: "Kein Mensch kann beliebig wählen zwischen allen Körpererfahrungen, als sei er oder sie ein sensitives multiples Computerprogramm".

Was nun die "neuere feministische Ethik" betrifft, so resultiert ihr wesentliches Manko Stopczyk-Pfundstein zufolge aus dem Umstand, dass deren Theoretikerinnen überwiegend Lesben seien. Denn deren "[a]ntiheterosexuelle Lebensweisen" bildeten die "Erfahrungshintergründe", die von ihnen "zu theoretischen Grundlagen formuliert" würden. Da den lesbischen Ethikerinnen nur "spezielle geschlechtliche Körpererfahrungen, die gegen das 'Normale' verstossen" [sic!] für politisch und ethisch wertvoll hielten, würden sie der Gebärfähigkeit keinen Erkenntniswert zusprechen, worin sie im übrigen mit "der maskulin orientierten Ethik" übereinstimmten. Schlimmer noch, Schwangerschaft und Muttersein würden von Gender-Theoretikerinnen nicht nur nicht gewürdigt sondern sogar "tabuisiert". Darum könne die feministische Ethik anders als Stöckers "Neue Ethik", in deren Zentrum Muttersein und Mütterlichkeit steht, weder "für eine große Zahl von Frauen handlungsrelevant" noch gesellschaftlich einflussreich werden.

Stopczyk-Pfundsteins ausdrücklicher Hinweis, dass der Begriff Feminismus für ihre eigene philosophische Arbeit, die auf ethischem Gebiet eine Revitalisierung von Stöckers Theorien anstrebt, "wenig Sinn" mache, erübrigt sich nach solchen Ausführungen eigentlich.

Titelbild

Annegret Stopczyk-Pfundstein: Philosophin der Liebe: Helene Stöcker. Die "Neue Ethik" um 1900 in Deutschland und ihr philosophisches Umfeld bis heute.
Books on Demand, Hamburg 2003.
331 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3831142122

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