Rückzugsgefechte

Botho Strauß' neue Notatensammlung "Der Untenstehende auf Zehenspitzen"

Von Oliver van EssenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver van Essenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit, da ein "Spiegel"-Artikel von Botho Strauß einen Aufschrei unter Feuilletonisten auslösen konnte, dürfte endgültig vorbei sein. Als Auszüge aus dem neuesten Prosaband "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" als Vorabdruck im "Spiegel" zu lesen waren, blieb die erwartete Provokation aus. Der Text enthielt wenig von dem Zündstoff, der in allen Prosawerken des Autors seit etwa 15 Jahren ausgebreitet wird. Die kulturkritischen Thesen haben sowohl für den Autor selbst wie für die Leser an Schärfe verloren.

Da nach den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen scheinbar alles gesagt wurde, beschränkt sich Strauß zusehends auf Reflexionen über das, was seinen poetologischen Kommentaren schon seit längerem einen elitären Anstrich verleiht: die Ästhetik des Erhabenen und Sakralen. Statt aggressiver, polemischer, bis zur Verachtung reichender Sentenzen bestimmen Rückzugsmotive in vielfältigen Schattierungen und einer ungewohnt resignativen Grundhaltung seine neuesten Notate, was den Autor mit dem mehrfach zitierten Meister bittersüßer Empfindungen verbindet, dem Philosophen, Essayisten und Kulturkritiker E. M. Cioran. Die Unbeobachtbarkeit der Welt ist das Thema, aus dem sich auch bei Strauß metaphysische Spekulationen und radikale Skepsis speisen.

Mehr noch als eine elitäre Gegenbewegung zur viel gescholtenen Massenkultur ist der Notizenband "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" ein Buch der Einsamkeit. Der Solitär ist nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt des Straußschen Elitebewusstseins, die kleinste Minderheit, nahe am Verschwinden. Die höchste und eigentliche Daseinsform wird, ganz im Sinne Heideggers, im Sein-zum-Tode erblickt. Alles andere, das nicht der Ästhetik des Sakralen und Erhabenen entspringt, ist für die Autoren der pontifikalen Linie ohnehin nur apokryph. Als "anagogische Begabung", mit der Menschen "bekanntlich eine Stufe jenseits der biologischen Evolution" erreichen, umschreibt Strauß das "Reflexions- oder Selbstbewußtsein". Genau jene Begabung gilt es zu stärken; denn die Gesellschaft ist drauf und dran, sie gegen andere "verkümmern oder zeitweilig verstummen" zu lassen.

Auf welch schmalen Grat sich der Autor bewegt, wird in diesem Band an zahlreichen Stellen offenkundig. Wieso umschreibt er derart wortreich ein Phänomen, das jegliche Erfahrung übersteigt und daher völlig individuell bleibt? Wäre es nicht angemessener zu schweigen? Mehr noch offenbart sich seine Widersprüchlichkeit in dezidiert kulturkritischen Zusammenhängen. So unterschiedliche Milieus wie die Pornographie, Trash und Underground und Management-Meetings zeugen in seiner Sicht allesamt von Nivellierung. Warum setzt sich der Autor dann auf nahezu jeder Seite damit auseinander? Auch wenn die große Abrechnung deutlich milder ausfällt als in den Prosabänden zuvor, da die autobiographisch angeregten Naturschilderungen der Uckermark diesmal sehr breiten Raum einnehmen, kommt der Leser nicht um Eindruck herum, dass sich hier jemand selbst widerspricht. Dagegen wäre an sich wenig einzuwenden, ist die Paradoxie, um es mit einer schönen Formulierung Luhmanns zu sagen, doch die "Orthodoxie der Moderne". Allein Strauß antwortet auf die Widersprüche nicht und bemüht sich schon gar nicht, sie dialektisch in den Griff zu bekommen.

Strauß zielt im Gegenteil auf Widerspruchsfreiheit ab. Es wäre eine lohnende Aufgabe für Literaturwissenschaftler, die Rhetorik unbezweifelbarer Gewissheit in dessen Prosa zu analysieren. ,Gewiss', ,sicher', ,freilich', ,längst schon haben wir ...', ,immer mehr' bzw. ,immer weniger', so lauten die apodiktischen Formulierungen, die so ähnlich auch in der Alltagssprache zu Hause sind. In vergleichbare Richtung zielt die Aufwertung religiös verbrämter Empfindungen wie Leiden, Scheu, Demut, Hingabe, Trauer. Gegenüber den Anfechtungen der "totale[n]Öffentlichkeit" wirken sie wie Selbstschutzmechanismen eines tief verunsicherten und verletzten Individuums.

Titelbild

Botho Strauß: Der Untenstehende auf Zehenspitzen.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
169 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446204911

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